20 ~ Auszeit (2)
Nie gedacht dass ich das irgendeinmal freiwillig tun würde - aber nach dem Essen half ich meiner Mutter tatsächlich beim Spülen. Sie spülte das Geschirr mit Zitronenspülmittel, das den Käsegeruch verdrängte, und ich trocknete es ab. Währenddes plapperten wir über Gott und die Welt, scherzten, was das Zeug hielt und verstanden und so gut wie schon lange nicht mehr. Mein Vater beteiligte sich nicht an der Hausarbeit, sondern schürfte mit einer Zeitung in der Hand entspannt seinen koffeinfreien Kaffee. Einen richtigen hatte meine Mutter ihm nämlich verboten. Sie hat gesagt, es wäre nicht gut für seinen Kreislauf, worauf er sich motzend einen ohne Koffein gemacht hatte. Da sieht mal, wer hier im Haus die Hosen anhat!
Als wir fertig waren, setzten wir uns zum Schokoladessen zu meinem Vater an den Tisch. Von Schokolade mit Karamell und Salz, meiner Lieblingssorte, über Erdbeere bis hin zu feiner Orange war alles dabei. Ich nahm mir ein Stückchen der schwarzen Karamell-Schokolade und ließ es langsam auf meiner Zunge zergehen. Der zarte Geschmack der Schokolade breitete sich in meinem Mund aus während der samtige Karamell meine Sinne berauschte und die feinen Salzflocken der Süßigkeit noch das gewisse Extra verliehen. Ich genoss diese wunderbare Schokolade in vollen Zügen und dankte im Stimmen demjenigen der sie erfunden hatte.
Gerade wollte ich nach einem zweiten Stück greifen, doch mein Vater war schneller und mampfte mir das letzte Stück der Schokolade mit einem schelmischen Ausdruck in den Augen einfach weg.
"Hey!", entrüstete ich mich. "Das wollte ich grad nehmen!"
Er antwortet nicht mal, sondern kaute triumphierend an der Schokolade.
"Und überhaupt wohin ist der Rest verschwunden? Du hast doch wohl nicht etwa alles gegessen?"
Wieder keine Antwort. Stattdessen klopfte er sich mit sichtlicher Zufriedenheit auf den Bauch.
"Dan", mischte meine Mutter jetzt auch noch ein. "Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat - du sollst Zucker vermeiden!"
Er ignorierte ihre Aussage und griff stattdessen nach der Orangen-Schokolade. Doch meine Mutter war schneller. Bevor er den Teller erreichen konnte, hatte sie ihn weggeschoben, sodass er nicht mehr drankam.
"Also wirklich. Du bist ein erwachsener Mann. Von dir hätte ich etwas mehr Selbstverantwortung erwartet. Irgendwann reicht es auch mal, ja?", tadelte sie ihn und besah ihn mit einem bösen Blick.
Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den ich nur von Hunden kannte, die genau wussten, dass sie etwas ausgefressen hatten.
Anstatt ihn weiter zu beachten, schob sie den Teller noch ein Stück weiter zu mir und zwinkerte verschwörerisch.
"Wir Frauen müssen zusammen halten", meine sie.
Ich grinste sie an und steckte mir dann ein weiteres Stück Schokolade in den Mund, nicht ohne auf den beleidigten Blick meines Vaters acht zu geben.
"Uhm, wo wir gerade von Arzt reden. Papa, was hattest du eigentlich? Ich mein welche Krankheit?"
Immer noch kauend wendete ich mich ihm zu.
"Nichts Besonderes, mein Häschen", sagte er nachdem er mit meiner Mutter ein paar sonderbare Blicke ausgetauscht hatten.
"Das übliche halt. Husten, Schnupfen "
In seiner Stimme hörte ich so wenig Überzeugung, dass ich Zweifel an dem Gesagten hatte und mir vornahm, ihn später einmal alleine vorzuknöpfen.
Wenig später polterte ich mit meiner Tasche die Stufen unserer Holztreppe hoch. Meine Hand ließ ich über das dunkle Holz des Geländers gleiten bis ich oben ankam. Es war kühl und bis auf ein paar Dellen und Schrammen angenehm glatt.
Etwas auf halben Weg ertasteten meine Finger eine besonders lange Schramme. Meine Nägel gruben sich ins Holz und ich runzelte die Stirn als mich plötzlich eine Erinnerung wie ein Tsunami überrollte und mitriss.
"Ätsch-bätsch du kriegst mich nicht!", hörte meine eigene kleine Kinderstimme rufen.
"Krieg ich wohl!"
Vor meinen Augen lief ein Mädchen mit schneeweißem Haar, zirka vier Jahre alt, mit einem Affenzahn in Richtung Treppe. Das bunt geblümte weiße Kleid, das ihr fast zu groß war, schwang hinter ihr her. Ein anderes Mädchen, ebenfalls mit einem ähnlichen Kleid, lief ihr mit kichernd hinterher.
"Wenn ich dich krieg, dann fress ich dich auf!"
Das Mädchen, das ich war, kreischte laut auf: "Mama, Papa, das Monster will mich fressen!"
"Vera, pass auf!" Meine Mutter stieß einen grellen Schrei aus, doch da war es schon zu spät. Mein vierjähriges Ich war auf der obersten Treppenstufe ausgerutscht. Schockiert musste ich zusehen wie ich es irgendwie fertig brachte, so ans Geländer zu knallen, dass sie das Gleichgewicht verlor und kopfüber hinunter stürzte, obwohl sie noch versuchte, sich irgendwie am Holz festzukrallen.
"Veri!", schrie die Stimme des anderen Mädchens angsterfüllt.
Mit einer übelkeitserregenden Mischung aus Klatschen und Knacksen kam ich auf dem Boden auf. Das Geräusch klang, als hätte ich mir bei dem Aufprall alle Knochen gebrochen. Das konnte doch kein Mensch überleben! Demnach müsste ich jetzt tot sein - was aber nicht der Fall war. Das kleine Mädchen unten atmete normal. Dann stand sie wie durch ein Wunder zwar wackelig auf den Beinen, aber unversehrt - und vor allem quietschlebendig - auf und stürzte sich in die Arme der Mutter, die sie so erleichtert an sich drückte, als hätte sie die gleichen Gedanken wie ich gehabt. Die Kleine entriss sich aus der festen Umarmung und rannte munter wie eh und je hinter dem anderen Mädchen her während meine Mutter aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
"Es ist ein Wunder", hörte ich sie noch flüstern, bevor ich wieder in die Gegenwart katapultiert wurde.
Ein plötzlicher Schwindelanfall packte mich und riss mich auf den Boden. Ich fasste mich an meinen brummenden Schädel und richtete mich langsam wieder auf.
"Vera, alles okay da oben?", rief mein Vater, worauf ich ihm mit
"Jaha, bin nur ausgerutscht", antwortete.
Dass ich dabei nicht die ganze Wahrheit erzählte, wusste ich genau, aber ich wollte diese komische - Vision? - einmal gründlich überdenken bevor ich sie jemand anderem auf die Nase band. Es war einfach absurd.
Ich schüttelte meinen dumpfen Kopf und ging dann der Rest der Treppe hoch bis vor meine altmodische Tür mit verziertem Messinggriff. Nach kurzem Zögern trat ich ein. Mein Zimmer war genau so, wie ich es zurückgelassen hatte, nur etwas staubiger. Das Bett war nicht gemacht und der Schreibtisch sowie der Boden mit allerlei Zeugs bedeckt. Kurzgesagt: es war ein einziges Chaos. Aber es war mein Chaos und ich fühlte mich wohl hier drin.
Ohne lang darüber nachzudenken, ließ ich mich mit ausgestreckten Armen auf zwischen die zerwühlte Decke und die zahlreichen Kissen fallen und sog die Luft tief ein. Die roch nicht muffig oder abgestanden, sondern zu meiner Überraschung frisch nach gemähtem Gras und Blumen, als ob gerade erst gelüftet worden war, was es sicherlich auch war. Meine Mutter liebte es einfach, morgens und abends alle Fenster aufzureißen und das ganze Haus so mit frischem Sauerstoff zu versorgen.
Eine Weile blieb ich in dieser Position liegen und starrte an die kahle Decke über meinem Kopf. Ein einzelner, weißer Traumfänger hing dort. Unzählige perlmuttfarbene Perlen waren darin eingearbeitet und schimmerten um die Wette. Ganz wie früher hob und streckte ich meine Beine - was eine akrobatische Höchstleistung war - um mit den Zehenspitzen die weichen Federn zu berühren und diese ans Schwingen zu bringen.
Nachdenklich sah ich den sanften Bewegungen des Traumfängers zu. Auf irgendeine Weise entspannte dies mich so sehr, dass ich mein eigenes Herz klopfen hörte und jeden meiner Atemzüge bewusst wahrnahm. Meine Gedanken drifteten ab und ich befand mich in der Vision wieder.
Wie war es bloß möglich, dass ich, als kleines Kind, diesen Sturz überlebt hatte? Unsere Treppe war nicht gerade ungefährlich. Sie ging ziemlich steil hinauf und folglich auch ziemlich tief runter. Drei, vier Meter dürften es schon gut sein - also ziemlich tödlich für Kleinkinder wie mich. Nur warum war ich noch am Leben? Lag es daran, dass ich ein verflixter Synaax, und somit auch eine Art Kaninchen, war? Denn diese Tiere waren ja dafür bekannt, gute Springer zu sein. Wahrscheinlich machte es ihnen auch nicht viel aus, mal aus größeren Höhen zu springen. Ein weiteres Indiz dafür war die eine Kletterstunde, in der ich eine äußerst unsanfte Landung auf paar Metern Höhe gemacht hatte und nicht mal eine Schramme abbekommen hatte.
Fröstelnd kuschelte ich mich in die flauschige Überdecke und zog sie mir bis übers Kinn.
Es musste einfach so sein. Es war die einzige logische Erklärung. Falls man das logisch nennen konnte. Aber ein Super-Kaninchen zu sein war immer noch besser als überhaupt nichts.
Knapp hatte mein Gehirn diese Überlegung für beendet erklärt, drängte sich das Bild zweier Mädchen vor meine Augen. Beide hatten helle Haare und steckten in ähnlichen Kleidern. Die Weißhaarige trug ein weißes Kleid mit Blumenaufdruck, während die andere ein gelbes trug. Durch die Vision wusste ich zwar welches der beiden ich war, aber nicht wem das gelbe Kleid gehörte. Nicht einmal den Namen wusste ich. Nur, dass wir beiden uns scheinbar gut verstanden.
Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich an das glückliche Gekicher der beiden dachte. So jung, so sorgenlos.
Auch wenn ich mich nicht an diesen Tag erinnern konnte, was bei dem Sturz den ich hingelegt hatte nicht weiter verwunderlich war, reimte ich mir zusammen, dass wir beide einmal Freundinnen gewesen sind, die sich nicht oft gesehen hatten und die ich deshalb auch aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Geschwister hatte ich ja keine. Und außer der hellen Haare, die ich mir als ein ganz helles Blond, wie kleine Kinder es oft hatten, erklärte, und den Kleidern gab es sowieso keine Gemeinsamkeiten mehr.
Leicht verwirrt schüttelte ich den Kopf, um dann mit einem Ruck aufzustehen. Keine gute Idee! Ein Schwindel packte mich und meine Sicht verdunkelte sich augenblicklich, sodass ich mich an etwas festhalten musste, um nicht wieder hinzufallen. Verdammt! Ich musste mir unbedingt angewöhnen, mehr zu trinken!
Mit diesem Gedanken griff ich in meine Tasche und zog eine Wasserflasche raus, die ich noch nicht mal angerührt hatte. Ich setzte sie an und trank sie in einem Mal komplett leer. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch. Mein Plan war es, den Dolch gründlich zu untersuchen, sprich Cirithia auf den Zahn zu fühlen.
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