16 ~ Roter Schnee (2)

Meine Beine waren von der Kälte schon ganz taub. Meine nackte Füße von den herumliegenden Zweigen ganz zerkratzt. Die Schuhe hatte ich schon längst verloren. All das machte mir jedoch nichts aus. Ich fühlte mich befreit. Die Last, die mich seit Sarahs Tod verfolgte war abgefallen. Ich war frei. Frei von Schuldgefühlen. Frei von Gedanken. Frei von allem was mich vorhin noch belastet hatte.

Lachend breitete ich meine Arme aus und ließ sie gegen die Bäume schlagen. Kleine Äste peitschten auf meine nackte Haut, hinterließen blutige Streifen. Rindenstückchen bohrten sich schmerzhaft in meine Handflächen. Dornen zerkratzten meine ganzen Armen. Ich genoss es.

Die physischen Schmerzen ließen mich die seelischen vergessen. Mit einem Lächeln im Gesicht lief ich einfach weiter. Immer weiter weg von der Schule, die mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Weg von der Person, die mich verletzte hatte. Immer tiefer rannte ich in den Wald hinein.

Mit Genugtuung lauschte ich dem Reißen meines teuren Kleides,. wenn es sich in den Pflanzen verhedderte. Das Geräusch löste eine Gänsehaut bei mir aus.

Jedoch begann nach einer Weile etwas am Rande meines Bewusstseins zu nagen. Zweifel. Zuerst nur leicht, dann immer stärker, bis es mich plötzlich wie eine Welle überrollte. Plötzlich stellte ich mir die Frage, ob das, was ich hier tat überhaupt richtig war. Konnte man wirklich von seinen Problemen fortlaufen? Oder musste man sich ihnen nicht doch früher oder später stellen?

Ohne es wirklich zu bemerken drosselte ich mein Tempo. Wie in Trance wurde ich immer langsamer, bis ich schließlich zum Stehen kam. Kraftlos sackte ich auf den kalten Boden, zwischen Äste und Dreck. Mir wurde bewusst, in welcher Situation ich mich befand. Alleine. Tief im Wald. Ohne die geringste Ahnung, wo ich mich befand. Bei dieser Eiseskälte. Bis man mich finden würde war ich schon längst erfroren. Ich hatte soeben mein eigenes Todesurteil unterschrieben.

Angst machte sich in mir breit. Hilflos zog ich meine Beine an. Mit den zerfetzten Resten meines eist schönen Kleides versuchte ich meine Arme, sowie die Beine zumindest etwas zu bedecken. Aus purer Verzweiflung begann ich zu weinen. Stumm liefen mir die salzigen Tropfen die Wangen herunter und hinterließen brennende Spuren auf meiner unterkühlten Haut.

Ich beobachtete, wie sie auf die starre Erde fielen. Mit der Zeit entstanden nasse Stellen, in denen Boden schwamm. Wie in Trance zog ich meinen rechten Zeigefinger durch den feuchten Dreck. Als ich ihn mir genauer ansah, stellte ich fest, dass nicht nur Reste von Blättern an meinem Finger hafteten, sondern dass er von einem rötlichen Film überzogen war.

Schockiert hielt ich inne. Ein Schaudern lief mir den Rücken runter. Trotz des Mondlichts, das nur schwach durch die Bäume schien, glaubte ich zu erkennen, was das war. Wie in Trance führte ich den Finger zu mir und benetzte meine Lippen ganz leicht. Fast sofort breitete sich ein ekelhaft eiserner Geschmack auf meiner Zunge aus.

Obwohl ich es bereits geahnt hatte, schockierte mich diese Erkenntnis so sehr, dass ich erstmals unfähig war, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen wirbelten tausende von Fetzen durch meinen Kopf und als ich die Augen schloss, damit das Chaos sich legte, sah ich wieder ihr bleiches Gesicht vor mir. Sarah.

Vor Schreck riss ich die Augen weit auf. Konnte es sein, dass noch jemand? Ich wagte es nicht, den Satz fertigzudenken. Und doch war mir, als würde ich die Antwort bereits kennen. Tief in mir wusste ich, dass ich Recht hätte. Aber mein Kopf wollte es einfach nicht glauben.

"Nein", murmelte ich leise vor mich hin, als ich mich langsam aufrichtete und meine steifen Gelenke bewegte. "Nein." Ich begann die Umgebung systematisch abzusuchen. "Nein." Vor meinen Füßen war eine weitere, dunkle Lache. Sie war größer als die andere. "Nein, das kann nicht sein." Irgendetwas zwang mich, weiter zu gehen. Aber ich wollte nicht. Dennoch tat ich es.

Halb blind tastete ich mich durch die Dunkelheit. Plötzlich trat ich mit einem Fuß auf etwas weiches, das sich leicht warm an. Es knackte unangenehm. Bei dem Geräusch stellten sich alle meine Härchen auf. Als ich neben dem Ding in die Knie ging, drohte mein Herz auszusetzen.

Genau in dem Moment kam der Mond hinter einer Wolke hervor. Es dauerte zwar nicht lange, aber lange genug um zu erkennen, dass das, auf das ich getreten bin kein totes Tier war - sondern eine Hand. "Nein!" Diesmal ich schrie erschrocken auf. Ich weigerte mich, zu glauben, was da gerade geschah.

Wie in Trance ging ich langsam in die Hocke, streckte einen Arm nach der Hand aus und berührte sie. Sie fühlte sich noch leicht warm an. Die Person konnte noch nicht allzu lange Zeit hier liegen. Vielleicht lebte sie sogar noch!

Ein Funken Hoffnung machte sich in mir breit und führte dazu, dass ich mit meiner verbliebenen Kraft am Arm der Person zog und sie somit aus dem Gebüsch zog. Sobald sie ganz freilag kniete ich mich neben die Stelle, an der ich den Oberkörper vermutete. Behutsam hob ich den Kopf an und legte ihn auf meinen Schoß. "Sch-sch", flüsterte ich leise vor mich hin, "alles ist gut - ich bin ja bei dir." Ein Teil von mir glaubte immer noch dass die Person leben würde.

Als der Mond jedoch wieder hinter einer Wolke hervorkam, lehrte er mich eines Besseren. Starre, leere Augen ohne einen Ausdruck von Leben blickten mir entgegen.

Angeekelt sprang ich auf. Den Kopf ließ ich achtlos auf den harten Boden prallen während eine eisige Kälte nach und nach von meinem Körper Besitz ergriff. Alte Erinnerungen kamen in mir hoch. Vor meinem geistigen Auge spielte sich die Szene ab, in der ich Sarah entdeckt hatte. Tot. Mit den gleichen leeren Augen wie der Junge, der unweit von mir lag.

Paralysiert sank ich zu Boden. Ich hatte keine Kraft mehr. Keine Kraft mir die Leiche anzusehen. Keine Kraft mich an Sarah zu erinnern. Die Schuldgefühle wurden immer stärker. Ich hatte keine Kraft mehr zu leben. Vielleicht war es besser so wie es war.

Mit einem kleinen Lächeln auf dem eiskalten Gesicht schloss ich meine Augen. Mit dem Wissen all das gleich hinter mir zu lassen, schlief ich ein.

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