16 ~ Roter Schnee (1)

Später, als durch das Tanzen mit Tim, sowie ein paar anderen Jungen jeder noch so kleine Muskel meiner Füße schmerzte, beschloss ich, mich jetzt auch am Büffet zu bedienen und mich zu Louis zu gesellen. Dass er mich vorhin stehen lassen hat, war mir in dem Moment egal.

Bevor ich mir allerdings mehrere appetitliche Häppchen nehmen konnte, strich ich mir eine der klebrigen Strähnchen hinter mein Ohr und fuhr mir einmal über die schweißige Stirn. Schließlich wollte ich nicht aussehen, wie Aschenputtel höchstpersönlich.

Mit duftenden Köstlichkeiten auf dem kleinen Tellerchen suchte ich nach Louis, der - wie ich kurze Zeit drauf bemerkte - unweit von mir alleine an einem der unzähligen Zweiertischen saß, und trüb ins Leere starrte. Irgendwie tat er mir leid, ihn wie ein Häufchen Elend da sitzen zu sehen, aber andererseits geschah es ihm nur Recht. Er hätte mich vorhin nicht so abschieben dürfen.

Mit hoch erhobenen Haupt stolzierte ich auf ihn zu. Bevor ich mich allerdings setzte, räusperte ich mich laut. "Darf ich?" "Klar." Er schien mich erst jetzt zu bemerken, da er sich wieder aufsetzte und prüfend mit einer Hand durch sein lockiges Haar fuhr, das ihm leicht im Gesicht hing, was ihn irgendwie süß wirken ließ. Ohne es zu wollen glitt mein Blick langsam an ihm herunter. Das dunkle Hemd, das sich so gut von seiner hellen Haut abhob, saß ziemlich eng. Der unter dem dunklen Stoff zeichneten sich Muskeln ab, die wahrscheinlich das Resultat harten Trainings waren. Das blau der Krawatte, die er trug, hob sich nicht gerade unauffällig vom Rest seiner eher traditionell schlichten Kleidung ab. Es gefiel mir. Er gefiel mir. Ziemlich gut sogar.

"Hast du vor, mich noch länger anzustarren, oder willst du dich vielleicht setzen?", riss er mich belustigt aus meinen Tagträumen. Peinlich berührt ließ ich mich auf den vorgesehenen Platz sinken, schob die Dekoration weg und versuchte vor Scham im Boden zu versinken. Gleichzeitig versteckte ich mein Gesicht hinter meinen kleinen Händen, mit der Hoffnung, er würde das Blut, welches in meinen Wangen aufstieg und mich rot anlaufen ließ, nicht wahrnehmen.

"Ich weiß doch selbst, dass ich gut ausseh'", meinte er selbstbewusst und wollte mich an der Schulter anfassen. Jedoch gelang ihm dies nicht, da ich seine Hand wegschlug. "Und ein selbstverliebtes Arschloch bist du noch gleich dazu", zischte ich zurück und warf ihm meinen liebsten Killer-Blick zu. Er erwiderte ihn.

Nach einigen Sekunden bösen Angefunkels, senkte er dann seinen Kopf. "Du hast gewonnen", meinte er ruhig. "Ich habe gewonnen", wiederholte ich triumphierend." Ich überlegte kurz. "Was habe ich denn gewonnen?"

Als er sich langsam vorbeugte, verriet mir ein schelmisches Glitzern in seinen Augen, dass es nicht Gutes war. "Einen Kuss." Die Worte, die seinen Mund verließen, waren kaum mehr ein Flüstern und bevor mein Gehirn überhaupt realisieren konnte, was er da gesagt hatte, spürte ich seine weichen Lippen auf meinen. Erschrocken riss ich meine Augen auf. Ich war auf alles gefasst gewesen - außer auf das! Ich wollte protestieren, doch es ging nicht. Ich wollte dagegen ankämpfen, doch etwas in mir verhinderte dies. Stattdessen schloss ich einfach die Augen. Hitze stieg in mir auf. Schmetterlinge flatterten in meinem Bauch herum. Es fühlte sich gut an. Zu gut.

Dann hielt die Berührung jedoch genau so schnell wieder auf, wie sie begonnen hatte. "Oh", entfuhr es mir. Ob aus Überraschung oder Enttäuschung konnte ich nicht so genau deuten, denn in mir fuhren meine Gefühle Achterbahn. "Was?", wollte ich ansetzten, doch Louis unterbrach mich unsanft. "Vergiss es", bat er mich auf einmal. "Es hätte nicht passieren dürfen. Wir sind nur Freunde."

Mit diesen Worten schnappte er sich seine Anzugsjacke und rauschte davon. Zurück ließ er mich und mein Gefühlschaos. Und einen Teller voller Essen, den ich jetzt angeekelt von mir wegschob. Der Hunger war mir sowas von vergangen.

Ich seufzte und legte meinen Kopf auf die kühle Tischplatte. Was sollte das? Warum ... warum war er so? Warum musste er sich so idiotisch benehmen, wie an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten? Warum konnte er nicht einfach lieb sein. So wie vorhin.

Bestürzt schlug ich meine Stirn mehrmals gegen das glatte Holz, mit der Hoffnung, mein Kopf wurde dadurch klarer werden. Doch wie zu erwarten geschah eben dies nicht, sondern genau das Gegenteil traf ein. Ich machte mir selbst Vorwürfe. Ob er sich wegen Sarah mir so gegenüber benahm? Weil ich ihre Leiche gefunden hatte? War er immer noch wütend auf mich? Behandelte er mich deswegen so?

Verzweiflung machte sich in mir breit. Drohte mich von innen aufzufressen. Tief in mir wusste ich zwar, dass es nicht meine Schuld war, und er all das nicht so meinte, aber es überzeugte mich selbst nicht.

Bevor ich mir jedoch noch einmal den Kopf anschlagen konnte, verstummte plötzlich die Musik. Alle Tänzer blieben verwundert stehen. Auch ich erhob mich leicht verdutzt, bevor ich meine Aufmerksamkeit vollkommen auf den Herrn richtete, der sich mit einem Mikro in der Hand, auf einen Tisch stellte. Es war der Direktor höchstpersönlich.

"Verehrte Gäste, liebe Schüler", begann er, nachdem er mehrmals testweise auf das Mikrofon getippt hatte, "Wir finden uns heute hier beisammen, um eine ganz besonders magische Jahreszeit einzuläuten: Die Weihnachtszeit." Er machte eine kunstvolle Pause. "Im Sinne dieser Feierlichkeiten habe ich mir, wie auch das Jahr davor, die Freiheit genommen, ein spektakuläres Feuerwerk zu organisieren, welches in wenigen Augenblicken starten wird. Deshalb bete ich euch alle drum, euch unverzüglich nach draußen zu begeben - es sei denn ihr wollt auf diese einmalige Chance verzichten. Ansonsten wünsche ich euch aber noch einen entspannten Abend!"

Als er wieder von der Platte herunterstieg, klatschen einige Schüler und Lehrer höflich Beifall, während die anderen in einer einzigen, zusammenhängenden Masse auf den Hof strömen. Obwohl mir gar nicht mehr nach Feiern oder Feuerwerk zumute war, rissen mich die vielen Schüler einfach mit nach draußen. Noch bevor ich auch nur einen Ton von mir geben konnte, kam ich mit Sommerkleid und ohne Mantel in der eisigen Kälte zu stehen. Unter meinen High-Heels knirschte der Schnee. Das einzige Gute an den ganzen Menschen - oder Magesti - um mich herum war, dass wir zumindest etwas gegen die Minustemperaturen isoliert waren. Trotzdem spürte ich, wie die Kälte sich langsam an meinen Knöcheln hochzog. Ich erschauderte.

Doch stattdessen weiter darauf zu achten oder in Selbstmitleid zu schwimmen, legte ich meinen Kopf in den Nacken, um das beginnende Farbspektakel trotzdem zu beobachten. Wie ich den erstaunten Ausrufen meiner Mitschüler nach urteilte, war die Show wohl grandios, das Spektakel wundervoll. Jedoch gelang es mir trotz allem nicht, das Feuerwerk so richtig zu genießen, da meine Gedanken überall waren, außer an dem Ort, an dem ich mich befand. Ständig tauchte Louis in meinem Kopf ab und lenkte mich ab.

Das ganze lenkte mich derart ab, dass ich, als das Spektakel bereits zu Ende, und alle Schüler bereits zurück im Warmen waren, immer noch in gedankenversunken auf dem Hof stand. Um mich zumindest etwas von der Kälte zu schützen, hatte ich meine Arme vor meiner Brust verschränkt.

Ein eisiger Luftzug fuhr unter mein Kleid und tauschte die warme Luft gegen kalte aus. Ein Schaudern überkam mich. Mit der unangenehmen Kühle kam auch das Gefühl zurück, von Niemandem verstanden zu werden.

Betroffen starrte ich zu Boden. Meine Arme hingen schlapp an meiner Seite. Ich spürte, wie immer mehr Haarnadeln sich bewegten und meine störrischen Haare langsam, aber sicher wieder die Oberhand gewannen.

Immer noch knirschte der Schnee unter meinen Schuhen. Es war ein Geräusch, das ich eigentlich mochte. Doch jetzt stimmte es mich traurig. Trotz der eisigen Luft, die meinen Atem eine weiße Nebelwolke umwandelte und mich frösteln ließ, verspürte ich nicht die geringste Lust wieder nach drinnen zu gehen. Nein. Ganz im Gegenteil. Ich wollte lieber hier bleiben. Allein. In der Kälte. Denn ich hatte weder Lust, zu feiern, noch einer bestimmten Person über den Weg zu laufen.

Obwohl es mich in Richtung des Waldes zog, blieb ich einige Momente still stehen. Um die Emotionen, die in mir herumwirbelten etwas zu beruhigen, sog ich mit meiner Nase den Duft nach frischem Schnee ein. Wenn ich genauer darauf achtete, konnte man sogar eine leicht verbrannte Note ausmachen, welche wahrscheinlich von de Feuerwerk stammte.

Nach einigen Sekunden gewann das Gefühl, von Niemandem gemocht und zu werden, die Überhand und ich setzte mich zwar langsam, aber bestimmt in Bewegung. Mit gerichtetem Haupt näherte ich mich immer schnelleren Schrittes den dunklen Schatten, die die Bäume warfen. Ich wusste, dass man mich vermutlich nicht einmal vermissen würde. Yasmin, sowie Hannah, vergnügten sich mit ihren jeweiligen Partnern und Louis - es würde mich wundern, wenn er jemals wieder ein Wort mit mir wechseln würde.

Je näher ich den bedrohlich knarzenden Stämmen kam, desto sicherer wurde ich mir, dass es die einzige Möglichkeit war, wenigstens für einen Moment abzuschalten und alles um mich herum zu vergessen.

Ohne es zu bemerken, war aus den zögerlichen - ja leicht ängstlichen - Schritten ein sicherer Gang geworden. Aus dem Ganz eine Art Trab. Und aus dem Trab war ich in ein Rennen verlaufen. Meine Schuhe hatte ich dabei längst verloren, sodass meine nackten Fußsohlen den Schnee berührten, der leicht wegschmolz.

Anfangs spürte ich noch, wie die Kälte mir wie Nadeln in die Füße stach, doch nach einer Weile verzweifelten Rennens spürte ich absolut gar nichts mehr. Meine Arme, meine Beine, mein Gesicht - alles war taub.

Ich wusste nicht warum, aber ich lief immer weiter in den Wald hinein. Er rief mich zu sich. Hier fühlte ich mich geborgen und sicher.

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