13 ~ Schlechte Nachrichten (1)

"Und warum müssen wir nochmal dahin?", fragte ich Louis zum gefühlt tausendsten Mal. "Ich meine ... Tanzen muss doch heute niemand mehr können, oder? Wir leben ja schließlich nicht mehr im Mittelalter." Lustlos scharrte ich mit einem Fuß am Boden des Flures herum. Louis verdrehte genervt die Augen, antwortete mir aber nicht, sondern verschränkte die Arme besserwisserisch vor der Brust. "Es ist Tradition an dieser Schule - ob es dir passt, oder nicht. Und jetzt komm. Wir haben schließlich nicht ewig Zeit."

Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab, und schritt schnellen Schrittes durch den Flur. "Das ist doch nicht dein Ernst", murrte ich schlecht gelaunt und rannte dem großgewachsenen Jungen hinterher. "Hey, Louis, warte auf mich!"

Als ich den Jungen schließlich fast eingeholt hatte, legte ich, ohne lang zu überlegen, eine Hand auf seinen Unterarm und zwang ihn so stehenzubleiben. "Warte", keuchte ich etwas atemlos und beugte mich leicht vor. "Was soll das alles überhaupt? Das Tanzen, dieses ewige Schweigen - irgendwas verheimlichst du mir doch, denkst du ich merke das nicht?" Er fuhr sich durch die braunen Haare und schenkte mir ein schiefes Lächeln. "Das wirst du noch sehen." "Aber ...", begann ich stammelnd, doch er unterbrach mich. "Wenn du noch länger hier stehen bleiben willst, dann kommen wir wirklich noch zu spät."

Ohne auf mein empörtes Schnappen zu achten, riss er sich los und eilte den Flur entlang. Mit einem genervten Seufzen folgte ich ihm, die Hände in den Taschen meines kuschligen Hoodies.

"Hör mal", meinte er plötzlich wieder versöhnend, "Du weißt doch, dass man zum Tanzen immer zwei Personen brauch." "Das weiß ja wohl jeder." Trotzig senkte ich den Blick auf den Boden, obwohl ich genau wusste, dass er mich gerade mit seinen blauen Augen, in denen sich das Meer spiegelte, anstarrte. Warum sollte ich jetzt mit ihm reden, als wäre nichts gewesen? Er war schließlich derjenige, der angefangen hatte. Verärgert ballte ich meine Hände zu Fäusten, als er mich leicht an meiner linken Schulter berührte.

"Ja. Zum Tanzen gehören zwei Personen. Was willst du damit sagen?", maulte ich leise vor mich hin ohne den Blick aufzuheben. "Ich ... ich ..." Er holte noch einmal tief Luft, bevor er stotternd weiterfuhr. "Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit mir tanzen würdest." Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, als wäre er unendlich erleichtert, es endlich gesagt zu haben.

"Du?" "Ja ich" Verwirrt tauschten wir Blicke aus, doch je länger ich in seinen sonderbaren Augen verweilte, desto unsicher wurde er. "Natürlich versteh ich, wenn du nicht möchtest, oder wenn du schon von Jemand anderen gefragt wurdest, aber ich dachte halt, da du meine beste Freundin bist, dass wir zusammen tanzen könnten." Bedrückt sah er mich an. In seinen Augen konnte ich Enttäuschung, aber auch einen Hauch Hoffnung erkennen. Um ihn noch einen Moment bangen zu lassen, sagte ich erstmals nichts, sondern versuchte meine Gefühle, die in mir verrücktspielten, unter Kontrolle zu bringen. Ich versuchte tief durchzuatmen, obwohl mein Herz wie verrückt flatterte. Der Versuch, die in mir aufkeimende Freude zu unterdrücken, gelang mir nicht.

Meine Mundwinkel zucken auffällig nach oben, meine Augen schienen Funken zu sprühen. Schließlich konnte ich nicht mehr anders. Mit einem lauten Freudenschrei warf ich mich in seine Arme und quetschte den armen Jungen halb tot. "Sag mal, spinnst du denn?", lachte ich glücklich. "Das ist doch das Mindeste das ich für dich tun kann ... nach dieser Sache." "Aber ..." Verdattert blickte er mich an, nachdem er sich auf meiner Umarmung befreit hatte, doch anstatt ihm zu widersprechen, zog ich ihn einfach weiter in Richtung Treffpunkt.

Er wollte mit mir tanzen. Er wollte tatsächlich mit mir tanzen! Diesen einen Satz murmelte ich die ganze Zeit wie ein Mantra vor mir hin, sodass ich nicht einmal bemerkte, dass wir längst da waren, und alle uns - auch die Lehrer - tadelnd, aber auch teilweise belustigt, anstarrten. "Oh. Hi", sagte ich in die Runde, während mein Status eine unglaubliche Wendung von überglücklich auf ultrapeinlich hinlegte, der eine Goldmedaille verdient hatte. "Ich fürchte, wie sind zu spät?" Diesen Satz hatte ich in meiner Verwirrung wie eine Frage ausgesprochen. Wohl in der Hoffnung, mich doch zu irren. Aber dem war nicht so. Dies war die Wirklichkeit.

"Ja. Verstehe." Ohne aufzusehen verdrückte ich mich in die Ecke, in der Hannah und Yasmin standen. Beide kicherten hinter vorgehaltenener Hand. Auch Louis wollte sich zu uns gesellen, wurde allerdings von einer dürren Lehrerin knochigen Fingern zurückgehalten. "Glaubt ihr, ihr kommt so einfach davon?", fragte sie ihn. "Wenn ja, dann habt ihr gewaltig euch getäuscht. Louis, du und deine Tanzpartnerin, ihr werdet uns allen zeigen, wie man einen Walzer tanzt. Und keinen Widerspruch!"

Bevor ich mich versah, befand ich mich - Hand in Hand mit Louis - auf der Tanzfläche, ohne überhaupt den geringsten Schimmer zu haben, wie man darauf tanzte. Von der Vorfreude von vorhin war nicht mehr sehen. Ganz im Gegenteil. Mein Körper war von oben bis unten nur noch mit Nervosität erfüllt. Und mit Angst. Angst vor dem was mich gleich erwarten würde. Zitternd holte ich noch einmal tief Luft.

Dann erklang Musik aus den Lautsprechern. Ich erkannte den typischen 3/4 Takt und begann mit dem Fuß unruhig im Takt zu schlagen. "Vertrau mir", vernahm ich Louis Stimme ganz nah an meinem Ohr. "Ich bin ein guter Tänzer. Gib dich einfach der Musik hin." "In Ordnung", wisperte ich und schloss die Augen um mich voll und ganz auf das Stück zu konzentrieren. "Und jetzt - leg deine Hand auf meine Schulter", wies er mich an, während er selbst seinen Arm um meine Taille legte. Dort wo seine warme Haut meinen Körper berührte, kribbelte es angenehm. Ich begann, das Gefühl dieser Nähe zu mögen.

ALs ich mich gerade so richtig daran gewöhnt hatte, spürte ich erneut warmen Atem an meinem Ohr. "Auf gehts. Versuch mir nicht auf die Füße zu treten." Keinen Moment später schritt er los und zog mich mit sich. Unsicher begannen wir uns in schnellen Drehungen durch den Saal zu bewegen. Obwohl der Rhythmus durch meine Adern floss, und ich mir wirklich Mühe gab, klappte es nicht auf Anhieb, sondern ich trat ihm immer wieder auf die Füße. Doch ihm machte dies scheinbar nichts aus, da er mich immer weiter durch den Saal führte.

Nach und nach gesellten sich dann die anderen Tanzpaare dazu, sodass nach kurzer Zeit - so kam es mir vor - es nur so von konzentrierten Schülern wimmelte. Langsam aber sicher bekam ich ein Gefühl dafür, welchen Fuß ich wann setzten musste und konnte sogar mich sogar etwas entspannen. Ganz anders als erwartet mochte ich das Tanzen und die Nähe, die es mit sich brachte. Ich war gerne bei Louis. Bei ihm fühlte ich mich wohl. Bei ihm konnte ich ich sein und brauchte mich nicht zu verstellen. Es fühlte sich einfach richtig an, ihn an meiner Seite zu haben.

Als schließlich das letzte Stück verklungen war, blieben wir alle stehen und applaudierten.

◇◇◇

In den Schulkorridoren waren mehrere, mir unbekannte, Lehrer damit beschäftigt, auf wackelig aussehenden Leitern zu stehen, und lange Lichterketten und weiße Kugeln an die, bereits an den Wänden hängende, Tannenzweige zu befestigen. Es roch herrlich weihnachtlich - einer der wenigen Düfte, die ich mag. Er erinnerte mich an Zuhause, an meine Eltern, an Freiheit. Als kleines Kind, in etwa so alt wie Luana, war ich sehr naturlieb. Meine Eltern hatten mich damals immer mit nach draußen genommen. Gleich ob zum Spielen, zum Spazieren oder nur zur Entspannen. Hauptsache in der Natur.

Ein leichtes Seufzen entrann mir, als ich mich an diese Zeit zurückdachte. Damals wusste ich noch nicht wer ich war und was ich war. Ich habe einfach das Leben genossen, so wie es war. Ich brauchte mir um nichts Gedanken oder Sorgen zu machen. Solange ich mich hatte, war der Rest mir egal.

Neben mir plapperten Hannah und Yasmin angeregt. Anstatt weiter in längst vergangenen Zeiten zu schwelgen, zwang ich mich, ihnen zuzuhören. Doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Irgendwas - oder besser gesagt - irgendwer lenkte mich immer wieder ab. Louis.

Obwohl er den Blick nach unten gesenkt hielt und auch sonst nicht weiter auffällig war, spürte ich seine Präsenz neben mir. Genau wie ich war auch er in Gedanken versunken. Ich sah, wie er schwer schluckte und krampfhaft versuchte, stark zu bleiben. Wahrscheinlich dachte er, genau wie ich auch, an seine Familie. Mit seiner Schwester. Sarah. Vermutlich konnte er sich ein Leben ohne sie nach wie vor einfach nicht vorstellen. Und dann war da ja auch noch Weihnachten. Das Fest der Liebe, an dem sich die ganze Familie versammelt und in Harmonie zusammen feiert. Es musste ihn schwer belasten.

Während ich weiter darüber nachgrübelte, bemerkte er, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt haben musste. Unsere Blicke trafen sich. In seinen glänzenden Augen spiegelten sich Trauer und Schmerz. Im nächsten Moment rollte eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel, die er energisch wegwischte. Dann schenkte er mir ein trauriges Lächeln.

"Sarah?", fragte ich ihn sanft und berührte seine rechte Seite. "Sarah", seufzte er. Seine Stimme zitterte leicht. "Ich weiß, ich sollte nicht daran denken - nicht an solch einem Tag, aber ... " Er brach ab. Komm, murmelte ich und fasste ich leicht an der Hand. "Lass uns gehen." Ohne lang zu zögern entfernten wir uns von meinen Freundinne, die so in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie überhaupt nichts mitbekamen.

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