Kapitel 6 - Gewinner und Verlierer
Die nächsten Wochen im Krankenhaus waren normal. Ein anderes Wort konnte ich für diesen Zustand nicht finden. Patienten kamen rein, ich operierte, ich aß mit Ino zu Mittag, unterrichtete, scheuchte meine Anhängsel durch das gesamte Krankenhaus und fuhr abends völlig erschöpft nach Hause.
Die Chefärztin rief mich nicht nochmal hoch in ihr Büro und Sasuke und seine Ärzte waren schon kein Thema mehr.
"Hast du schon von dem neuen in der Ortho gehört? Er soll an seinem ersten Tag vier Operationen hintereinander gemacht haben.", sagte Ino, die mit in der Cafeteria gegenüber saß.
"Kann ich mir nicht vorstellen.", erwiderte ich und biss von meinem Apfel ab. "Ich war gestern selber in zwei OPs hintereinander und hab ihn nicht einmal gesehen."
"Egal, jedenfalls haben die Schwestern mir gesagt, er ist sehr gut aussehend."
Ich atmete lautstark aus und taxierte meine beste Freundin dann mit meinem Blick. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum und sah an mir vorbei auf die Topfpflanze. "Ino, du weißt, ich will nur dein bestes-"
"Oh, komm schon. Ich liebe Sai und kein Orthogott wird das jemals ändern können.", schritt sie missgelaunt ein. Sie liebte es einfach ein wenig zu sehr im Mittelpunkt zu stehen und ich glaubte ihr, dass sie Sai liebte. Aber auch verliebte Menschen konnten große Dummheiten machen. "Außerdem hab ich da eher an di-"
"Wage es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken!", schritt ich ein. Mein einschüchternder Blick ließ sie auf der Stelle ihren Mund zuklappen und verstummen. Sie lehnte sich zurück in ihren Stuhl und grübelte noch ein paar Minuten, dann standen wir schließlich auf und gingen in den Bereitschaftsraum, um ein wenig Zeit herumzubekommen. Wir hatten beide keine OPs mehr für heute angesetzt und es war Freitag. Ich wollte nach Hause und mich in meine warme Decke wickeln.
"Sollen wir heute Abend-"
Inos Worte wurden von meinem Handy unterbrochen. Sie brauchen mich sofort in der Notaufnahme.
Ich seufzte, sah sie entschuldigend an und sprintete dann zum Aufzug und von dort aus in die Notaufnahme.
"Welcher Schockraum?", fragte ich an der Rezeption nach, wo die Schwester mich in Raum eins schickte.
Als ich dort ankam, war ein helles Durcheinander von Ärzten, Assistenzärzten und Schwestern vor dem Patienten.
"Was haben wir?", rief ich in die Runde, während mir Handschuhe übergestreift wurden.
Der Assistenzarzt, der mir am nächsten stand drehte sich ruckartig in meine Richtung und fing an zu sprechen. "Männlich, Ende zwanzig. Kam mit drei Schusswunden hier rein. Eine im rechten Oberschenkel, eine in der rechten Schulter und die letzte können wir im Abdomen noch nicht finden."
"Haben sie am Rücken schon nach einer Austrittswunde gesucht?" Ich lehnte mich über den jungen Mann und sah mir seinen Bauch an. Zum Glück war ich nicht zimperlich, was Blut anging. Ich konnte fast nichts sehen, weil alles blutverschmiert war.
Plötzlich hörte ich ein leises Stöhnen und aus dem Augenwinkel erkannte ich Bewegungen. "Alle raus, die nicht unbedingt hier sein müssen!", sagte ich. Es wurde sofort stumm und die Hälfte der Anwesenden verschwand im Gang. Manchmal war mein Ruf als der Teufel persönlich ganz praktisch.
"Sir? Können sie mich hören?" Ich nahm meine Lampe und überprüfte seine Pupillenreaktion. Er knurrte und versuchte seinen Arm zu heben, stöhnte dann aber durch die Schusswunde schmerzerfüllt auf.
"Sir, sie wurden schwer verletzt und sind jetzt im Krankenhaus.", erklärte ich ihm mit ruhiger Stimme. "Können sie mir sagen wer sie sind oder wen wir für sie anrufen können? Erinnern sie sich, was mit ihnen geschehen ist?"
Der arme Kerl schwebte immer wieder kurz vor der Ohnmacht. Ich zweifelte daran, dass er mich überhaupt wahrgenommen hatte.
Die Tür ging erneut auf und eine Schwester trat auf mich zu. "Doktor Haruno,", sagte sie, "draußen steht der eine reiche Mann von vor einem Monat. Der, der den Patienten-"
"Sasuke.", presste ich aus zusammengebissenen Zähne hervor und stürmte aus dem Raum. Meine Kollegen mussten ihn sowieso erst für den OP fertig machen und soweit ich wusste, sollte ich heute eh nicht mehr operieren.
Ich marschierte mit einem versteinerten Blick durch die Notaufnahme, manche Leute sprangen mir sozusagen aus dem Weg, und bahnte mir einen Weg in den Wartebereich. Ganz in der Ecke am Fenster stand er tatsächlich. Sein schwarzer Anzug war wie für ihn gemacht, nein, er war wahrscheinlich für ihn gemacht, und seine längeren Haare hatte er nach hinten gegelt. Er fuhr sich durch das schwarze Haar und wurde dann drauf aufmerksam, dass ich mich ihm mit schnellen Schritten näherte.
"Mitkommen!", sagte ich mit so fester Stimme, dass sogar Sasuke Uchiha bemerkte, dass jeder Widerspruch zwecklos war.
Er folgte mir wortlos durch die Flure des Krankenhauses und ging immer einen Schritt hinter mir. Dass er auf einmal abhaute, darüber musste ich mir keine Gedanken machen, seine teuren Lederschuhe machten so viel Lärm, dass ich ihn noch während eines Tornados gehört hätte.
Auf der zweiten Etage verfrachtete ich Sasuke in einen Bereitschaftsraum und schickte die beiden Anfänger mit einem einzigen Kopfnicken raus. Sie gehorchten und nahmen die Beine in die Hände, um sofort wegzukommen.
"Was?"
"Gute Frage. Das gleiche wollte ich dich gerade fragen.", entgegnete ich monoton. Er sollte doch nicht wirklich denken, er würde mich verrückt und rasend und wütend und ohnmächtig und verrückt machen. Er sollte nicht wissen, dass er mich mehr fühlen ließ, als einen Patienten nach einer gelungenen Operation wieder zu schließen.
Sasuke setzte sich auf den einzigen Sessel in diesem winzigen Raum und faltete Hände vor seinem Gesicht zusammen. Er sah mich nicht an. "Es war ein Unfall."
Ein wenig überrascht über diese grauenhafte Ausrede, zog ich die Augenbrauen hoch. "Okay.", sagte ich. "Dann kannst du gehen. Pass auf, dass so ein Unfall nicht nochmal passiert. Schusswaffen sind gefährlich, Sasuke, damit spielt man nicht." Ich sprach extra mit ihm, als wäre er in der Mittelstufe und hätte mit einer Wasserpistole schießen geübt. Er sollte sich so verarscht vorkommen, wie ich. Ich sprach so emotionslos, dass man es nicht mal als Spaß hätte aufnehmen können.
Er stand wieder von der Sessel auf und ging auf die Tür zu. Seine Hand griff nach der Klinke, doch bevor er die Tür öffnete, drehte er sich nach rechts, wo ich so nah vor ihm stand, dass er den Blick senken musste.
Sein Mund öffnete sich, ich sah reflexartig, intuitiv nach unten auf seine Lippen und bereute es auf der Stelle. Sie schlossen sich wieder. Ich sah hoch. Er sah runter. Auf meine Lippen. Dann glitt sein Blick wieder hoch und ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.
Mir wurde schlecht. Dieses ekelhafte Kribbeln in meinem Bauch machte mich krank und ich wollte sofort hier weg, aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Mein Verstand war in einem Körper gefangen, der seinen eigenen Willen durchsetzte.
Ihm ging es ähnlich. Ich sah es in seinen widerwilligen Augen. Es gab nichts schlimmeres für ihn, als hier so nah vor mir zu stehen, doch keiner von uns wollte den ersten Schritt machen und zuerst gehen. Wir waren beides keine Verlierertypen.
Aber er war schon immer feiger gewesen.
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