Runder Tisch
Am 3. November um 19 Uhr abends müssen Enolas Eltern zu einem runden Tisch erscheinen. Runder Tisch ist dabei eher die allgemeine Bezeichnung, denn der Tisch ist eckig und Frank Besenberger sitzt am oberen Ende.
Morena Di Agostino, die Klassenlehrerin, sitzt auf der einen Längsseite, neben ihr hat Gabi Suter Platz genommen. Ihnen gegenüber sitzen Herr und Frau Dukic. Enolas Vater hat eine Tour nach Serbien absagen müssen, damit er am Gespräch teilnehmen kann.
Seine kurz geschnittenen Haare wirken gepflegt, das dunkle Braun passt zum beigen Hemd. Ivan Dukic wirkt nervös, obwohl er sich Mühe gibt, locker zu sein. Seine Frau Suzanna hat sich hübsch gemacht. Sie trägt eine grüne Bluse zu modischen Jeans, ihr blondes Haar fällt locker auf die Schulter. Weil sie einmal in der Woche den Deutschkurs für Migranten besucht, versteht sie mehr als ihr Mann. Herr und Frau Dukic geben sich Mühe, sich in der Schweiz anzupassen. Sie lernen die Sprache und wollen die Bräuche und Sitten des Landes respektieren.
Besenberger sieht in ihnen zwei Serben, welche die Gutmütigkeit der Schweiz ausnutzen und sich hier bereichern wollen. Seine Miene verrät ihn. Mit argwöhnischem Blick mustert er das freundliche Ehepaar lustlos und spielt mit einem Bleistift.
"Herr und Frau Dukic, guten Abend. Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben. Das hier sind Frau Suter, die Psychologin unserer Schule und Frau Di Agostino, die Klassenlehrerin von Enola. Wie Sie wissen, geht es heute Abend darum, wie wir Enola helfen können, sich in der Schule besser zu integrieren."
Enolas Eltern hören aufmerksam zu, der Vater nickt. Die Mutter übersetzt immer wieder leise, wenn ihr Mann etwas nicht versteht.
"Sie müssen entschuldigen, Herr Direktor. Mein Mann versteht nicht alles; muss übersetzen, wenn zu schwierig. Ich verstehe schon. Danke."
"Sie wissen, dass Ihre Tochter am vergangenen Samstag in einen Streit in Reinhof verwickelt war?"
Herr Dukic spricht leise mit seiner Frau. Sie sagt immer wieder "da, da" und wendet sich danach an Besenberger. "Ja, das wissen wir. Polizei war da. Sie haben Enola gebracht. War ganz schlimm. Viele Jugendliche haben geprügelt."
"Was hat Enola Ihnen erzählt?"
"Sie erzählt immer alles. Sie ist ein gutes Mädchen, macht immer gut. Am Samstag war Party in Reinhof. Enola da, mit Freundinnen und Cousins. Jovan, ihr Bruder, hat aufgepasst. Jovan ist manchmal wütend, er schnell - wie sagt man - hässig. Dann waren andere Jugendliche da, es gab Streit und dann kam Polizei. Ganz schlimm."
"Ihre Tochter hat ein anderes Mädchen mit einem Messer verletzt." Besenberger spricht etwas lauter.
Die Mutter erschrickt. Sie übersetzt ihrem Mann, der darauf besorgt antwortet. "Messer gehört Jovan. Ich habe ihm weggenommen. Kommt nicht wieder vor."
"Hat Enola Angst vor ihrem Bruder?", fragt Gabi ruhig. Besenberger blickt sie streng an; er duldet diese Zwischenfrage nicht.
"Angst? Wieso meinen Sie Angst?"
"Ich durfte schon einige Male mit Enola sprechen. Immer, wenn wir von ihrem Bruder gesprochen haben, wirkte sie ängstlich; als hätte sie Angst vor ihrem Bruder."
"Jovan ist gross. Er hat viel Kraft, weil er geht in Boxen. Er passt auf Enola auf, wenn ich keine Zeit habe. Enola ist noch ein Kind, sieht aus wie junge Frau, aber ist noch ein Kind."
Besenberger übernimmt wieder. "Frau Dukic, Ihre Tochter hat sich hier in der Schule auch wieder geprügelt. Sie hat ein anderes Mädchen geschlagen."
"Ist gleiches Mädchen wie an Party? - Ja, hat sie erzählt. Sie erzählt alles, ist ein gutes Mädchen."
"Hat sie Ihnen erzählt, warum sie das Mädchen geschlagen hat?" Morena will Gabi helfen und unterbricht Besenbergers Befragung.
"Sie sagt, anderes Mädchen verkauft Drogen an Kinder. Ist Mädchen aus der Stadt, Zürich."
"Enola fällt immer wieder negativ auf. Sie hat Mühe, sich an Regeln zu halten. Auf dem Schulausflug ins Wallis hat sie ein anderes Mädchen in Gefahr gebracht. Nun hat sie sich zweimal geprügelt. Ich habe keine andere Wahl, aber ich muss Enola für einige Wochen von der Schule wegweisen. Wir werden für Ihre Tochter ein Time-Out organisieren."
Frau Dukic blickt fragend von einem Gesicht ins andere, dann wendet sie sich an Gabi Suter. "Time-Out? Was ist das?"
"Das bedeutet, Frau Dukic, dass Enola für einige Wochen nicht mehr an die Schule kommen kann. Sie muss an einem anderen Ort arbeiten gehen."
"Aber warum? Hat sie schlecht gemacht in Schule?"
"In der Schule arbeitet sie gut", erklärt Morena, "aber sie kann sich nicht an Regeln halten. Wir planen einen Aufenthalt auf einem Bauernhof, wo sie arbeiten soll und einen geregelten Tagesablauf hat. Dort kann sie lernen, Verantwortung zu übernehmen."
"Aber warum? Enola ist ein gutes Mädchen. Wir verstehen nicht."
Gabi könnte Besenberger würgen, weil er so gefühllos vorgegangen ist. Sie schüttelt den Kopf, als er das Wort ergreifen will. Stattdessen erklärt sie den Eltern, weshalb Enola eine Auszeit braucht. Sie berichtet von den Mobbingvorfällen, sie erzählt, wie Enola sich in der Schule aufführt und wie sie mit den anderen Mädchen spricht. Sie erzählt auch, dass Enola manchmal frech zu Lehrern ist.
Die Mutter wird zusehends trauriger, der Vater sitzt versteinert da. "Ich werde mit Enola sprechen, heute noch. Das wird nicht mehr passieren."
Diese Worte lassen Gabi aufhorchen. "Herr Dukic, es hilft Enola wenig, wenn Sie so hart mit ihr sprechen. Enola braucht etwas Zeit für sich. Sie sagen selbst, Enola sei ein gutes Mädchen. Wir glauben das auch; aber im Moment geht es Enola nicht gut. Wenn sie ein paar Wochen an einem anderen Ort sein kann, ist es für sie gut. Sie kann sich dort beruhigen."
"Wenn Enola nicht mehr in Schule geht, verpasst sie viel. Wie kann sie dann einen guten Beruf finden?" Frau Dukic macht sich echte Sorgen.
"Wir geben Enola den Stoff mit. Sie kann mit der Frau auf dem Bauernhof lernen; sie war früher auch Lehrerin. Enola wird mit Tieren arbeiten. Es wird bestimmt eine gute Zeit für sie sein. Dominic Kobelt, einer der Lehrer, kennt einen Bauernhof, auf welchen wir Enola schicken wollen", erklärt Morena ruhig.
"Wann muss Enola gehen?"
"Das Time-Out beginnt am 13. November. Es dauert drei Wochen. Wenn Enola sich gut verhält, darf sie danach wieder zur Schule kommen." Besenberger schaut auf die Uhr.
"So bald schon. Aber Enola macht zuhause gut. Sie hilft immer gut mit."
Erneut blickt Besenberger auf die Uhr. "Frau Dukic, es geht hier nicht um zuhause. Was in Reinhof geschehen ist, werden Sie wahrscheinlich mit der Polizei besprechen müssen. Enola könnte eine Busse erhalten. Aber hier in der Schule, hier muss ich handeln. Ich habe auch die Verantwortung für alle anderen Schülerinnen und Schüler. Enola muss lernen, sich an Regeln zu halten. Das ist wichtig. Ich muss das Time-Out verhängen; es gibt keine andere Möglichkeit."
Frau Dukic blickt fragend zu Gabi. Sie hat von den Erklärungen nicht alles verstanden.
"Was geschieht mit andere Mädchen?", will ihr Mann wissen.
"Das andere Mädchen ist verletzt. Sie darf normal zur Schule kommen. Wieso fragen Sie?"
"Mein Vater hat immer gesagt: Für Streit, braucht immer zwei. Ich werde mit Enola reden. Sie ist jung. Junge machen dumme Sachen."
Frank Besenberger bricht das Gespräch wenig später ab. Die Eltern von Enola verstehen nicht, warum ihre Tochter nicht mehr zur Schule darf und arbeiten gehen muss. Gabi gibt Frau Dukic ihre Karte, sie verspricht ihr, mit Enola genau zu besprechen, was das Time-Out bringen soll. Zudem soll die Mutter sich bei ihr melden, wenn sie noch andere Fragen habe.
Als die Eltern weg sind, wendet sich Gabi nochmals an Besenberger. "Frank, was ist mit dir los? Das war ein schlechtes Gespräch; und das weißt du. Du warst unprofessionell und voreingenommen. Das sage ich dir als Fachfrau für Psychologie."
"Ich muss mich nicht rechtfertigen. Nicht vor dir. Die Eltern haben nichts verstanden. Das Gespräch war verlorene Zeit. Dieses Mädchen muss weg. Zwei Anklagen drohen und die Eltern sagen, ihre Tochter sei ein gutes Mädchen. Es gibt Gesetze in diesem Land. Daran müssen sich alle halten."
"Du kennst diese Familie doch gar nicht. Wie kannst du ..."
"Nicht kennen? Oh doch. Der Sohn ist ein Dealer und bekannter Raser. Der Vater ist nie zuhause. Die Tochter prügelt sich und die Verwandtschaft schützt sie. Glaube mir - ich kenne solche Familien. Aber die haben sich geschnitten. Nicht mit mir. Tränen bringen bei mir nichts. Hier hilft nur Härte. Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch andere Dinge zu tun."
Er verlässt den Raum; Gabi sammelt die Dokumente ein. Die Psychologin kann nicht verstehen, was hier soeben geschehen ist. Sie beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen.
***
Svenja sitzt vor ihrem Computer und liest Tanyas Texte. Immer wieder nutzt sie die Möglichkeit der App, Kommentare anzufügen. Plötzlich poppt ein Fenster auf, das ihr eine private Nachricht ankündigt; sie kommt von Tanya. Svenja klickt die Nachricht an.
"Wer bist du? Ich kenne dich nicht und doch schreibst du liebe Kommentare zu meinen Texten."
"Hi, Tanya. Ich bin's, Svenja. Die Blonde aus der Schule."
"Dachte mir schon, dass du das bist. Danke, dass du meine Texte liest."
"Sie sind richtig gut. Aber auch etwas traurig."
"Das Leben ist traurig."
Svenja liest die letzte Zeile und weiß nicht recht, was sie darauf schreiben soll. Immer wieder löscht sie die Worte. "Malst du deswegen?" Diese Frage schickt sie weg.
"Du hast auch meine Bilder gesehen?"
"Ja. Mir gefallen sie gut. Sie zeigen eine bunte Welt."
"Malen ist bunt. Musik auch und Schreiben."
"Hast du ein Atelier?"
"Ja. Das ist mein Reich, meine Welt. Hier darf ich so sein, wie ich bin."
"Wer hat dir wehgetan?" Bei diesen Worten zögert Svenja kurz, dann klickt sie auf Senden. Sie wartet lange.
Es kommt keine Antwort mehr. Verärgert darüber, den filigranen Kontakt zerstört zu haben, liest Svenja weiter in den Texten. Als sie den Computer herunterfahren will, poppt noch einmal eine Nachricht auf: "Wenn du in meinem Atelier stehen wirst, wirst du es verstehen. Du ganz bestimmt, denn du bist anders."
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