Erste Nachtruhe

Die Nacht wird alles andere als ruhig. Erst als die Lehrer sich auf Stühlen in den Gang setzen und Aufpasser spielen, beruhigen sich die Zimmer allmählich.

Rebecca setzt sich neben Stefan; sie kontrollieren den Flur im Haus der zweiten Oberstufe. Nachdem Stefan seinen Kollegen berichten konnte, dass es mit Dario wohl keine Probleme geben wird, haben zwei junge Lehrpersonen den Flur bei den Abschlussklassen übernommen.

"Meinst du, wir kommen auch noch ins Bett?" fragt Rebecca gähnend.

"Das will ich hoffen. Morgen stehen die Sportprogramme an. Da sollten wir fit sein."

"Jetzt, wo es ruhiger wird, könnten wir vielleicht ein Ablösesystem machen, zwei Stunden schlafen, zwei Stunden wachen; was meinst du?"

Stefan lacht und streicht seiner Partnerin über die Haare. "Geh schlafen, Becca. Ich mache das schon. Ich mein's ernst - geh schon. Du schläfst mir sonst hier am Boden ein."

"Danke, Stef. Hast was gut bei mir." Rebecca erhebt sich mühsam, küsst ihren Partner kurz und schlurft danach zum Zimmer. Sie lässt sich auf die Matratze fallen und schläft augenblicklich ein; Zeit fürs Zähneputzen war nicht mehr.

Stefan genießt diese wachenden Nächte in Lagern. Er würde das nie zugeben, aber für ihn sind das die Stunden, in welchen er ungestört über sein eigenes Leben nachdenken kann. Er erinnert sich daran, wie er als Schüler einst im Skilager aus dem Dachfenster kletterte und danach übers verschneite Dach zu den Mädchen schlich, damit ihn die Lehrer nicht entdecken konnten.

Wenn du täglich mit Jugendlichen zusammen bist, hast du weniger Zeit um Alt zu werden, sagt er immer zu sich selbst. Er entwickelt dabei ein gesundes Verständnis für alle Probleme, welche die Kids haben. Er hört ihnen gerne zu und erzählt aus seiner Jugend, damit sie zusammen Lösungen für die aktuellen Probleme finden können.

Mancher Waldlauf, manches Basketballspiel und manche schwimmende Seeüberquerung arteten schon in Psychotraining aus; mit sehr tiefgreifenden und persönlichen Gesprächen. Auf einmal öffnet sich die Tür zu einem Mädchenzimmer. Stefan wird hellwach und wartet ruhig ab, was geschieht.

Effie Sonderegger schleicht auf den Flur. Sie schaut sich unsicher um; in der Dunkelheit kann sie Stefan nicht sehen. Aber er kann in ihrer Hand einen silbern glänzenden Gegenstand sehen. Sofort ist er alarmiert.

"Wo willst du denn zu dieser Stunde hin, Effie?", fragt er mit bestimmter, aber ruhiger Stimme.

Sie verschwindet im Zimmer und knallt die Tür zu. Stefan steht kopfschüttelnd auf und tappt leise zum fraglichen Zimmer. Er klopft, öffnet die Tür und sieht vier weinende Mädchen am Boden Sitzen.

"Was ist denn hier los?"

"Können Sie bitte Frau Di Agostino holen gehen? Enola geht es sehr schlecht", schluchzt Livia.

"Effie, was hattest du eben in der Hand? Gib es mir, bitte, dann hole ich Frau Di Agostino."

Effie steht langsam aus, den Blick zum Boden gesenkt und überreicht ihm ein Taschenmesser.

Stefan schluckt und nimmt das Messer wortlos entgegen. "Ihr wartet hier. Keine geht aus dem Zimmer, klar?" Die Mädchen nicken und weinen weiter. Liv hat ihren Arm um Enola gelegt, Effie und ein anderes Mädchen der 2c kauern neben den Betten am Boden.

Stefan eilt zu Morenas Zimmer und klopft. Langsam öffnet der die Tür. "Morena, bist du wach?"

"Jetzt schon", murmelt sie schläfrig. "Was ist denn?" Sie krümelt sich unter ihrer Decke hervor und blinzelt ihn an. "Stefan? Ist das nicht das falsche Zimmer? Becca ist nebenan."

"Weiß ich doch. Aber die Schülerinnen verlangen nach dir."

"Nein. - Okay, gib mir eine Minute."

Wenig später schlurft sie gähnend aus dem Zimmer, das Licht im Flur blendet sie; ihr Haar steht wirr nach allen Seiten, sie hat sich nur schnell einen Hoodie und eine lange Jogginghose übergezogen. "Wo brennt es denn?"

"Enola."

"Dario?"

"Nein, schlimmer. Mädchenhysterie. Sie wollen explizit dich. Das ist der Preis für Beliebtheit. Ich danke dir und bleibe in der Nähe, falls du mich brauchst."

"Mhm. Ach, Mann. Okay, ich kann das." Sie schüttelt kurz den Kopf, die Haare fliegen hin und her. "Ich bin Superwoman! - Gebt mir Espresso!"

Morena öffnet die Tür und tritt ein. Effie und das andere Mädchen der 2c fallen ihr augenblicklich um den Hals.

"Woh, oh oh, Girls - lasst mich erst eintreten. Was ist denn hier los?"

Anstatt einer Antwort, zeigen Effie und Selina, so hat sie sich vorgestellt, auf Enola.

"Was ist mit ihr?"

"Dario hat mit ihr Schluss gemacht. Wir haben ihn heute mit Lara auf dem Liegenetz rummachen sehen."

Morena kennt die Geschichte mit dem Video und weiß, dass diese Aussage nicht ganz der Wahrheit entspricht. Sie setzt sich im Schneidersitz auf den Fußboden und klopft mit der Hand neben sich. Effie, Selina und Livia setzen sich auch, Liv zieht Enola in den Kreis, doch sie sträubt sich.

"Enola, komm her!" Morena breitet die Arme aus, Enola setzt sich neben sie uns lässt sich festhalten.

"Die ganze Welt ist gegen mich. Alle hassen mich; ich will nicht mehr leben", schluchzt sie kaum verständlich.

Die anderen Mädchen weinen hemmungslos.

"Daran ist nur diese Ziege von Lara schuld", sagt Liv zwischen zwei Weinkrämpfen.

"Jetzt mal aber alles der Reihe nach. War da nicht zuerst das Video?"

"Sie wissen davon?" Enola schaut Morena mit verheulten Augen an.

"Ja, Enola, ich weiß davon. Und ich kann deine Aussage verstehen. Du wurdest provoziert. Das Video zeigt nicht die ganze Wahrheit."

"Wissen Sie auch, wer es war?" Alle vier schauen zu Morena.

"Ja, weiß ich. Aber ich sage es euch nicht, weil es keine Rolle spielt."

"Wir müssen es aber wissen. Sehen Sie nicht, wie schlecht es Enola geht?" Sie beginnen alle wieder zu heulen.

"Doch, das sehe ich. Aber ich sehe hier auch eine sehr starke, junge Frau mit drei treuen Freundinnen. Das Leben kann eine so powervolle Gruppe doch nicht niederzwingen, habe ich recht?"

"Wieso denken Sie, dass ich stark bin?"

"Ich habe von deinem Bruder gehört. Du bist unglaublich, Enola. Du meisterst deinen Alltag und bist gleichzeitig eine gute Schülerin. Du könntest viel erreichen."

Enola beginnt wieder stärker zu weinen und schmiegt sich an Morena.

"Ich weiß, Enola, ich weiß. Lass es raus."

Als hätte die Aufforderung auch für die anderen gegolten, weinen alle hemmungslos, halten sich gegenseitig für einige Minuten. Nur langsam beruhigen sie sich, die Weinkrämpfe werden schwächer und schließlich ist nur noch vereinzeltes Schluchzen wahrnehmbar.

"Geht es wieder?", fragt Morena vorsichtig.

"Danke, Frau Di Agostino. Danke, dass Sie uns zugehört haben."

"Ist schon gut. Ihr könnt jederzeit zu mir kommen, wenn der Schuh drückt. Aber jetzt solltet ihr versuchen, noch etwas zu schlafen. Und Ladies - bitte keine Rachepläne schmieden. Wir versuchen, das morgen friedlich zu klären, versprochen?"

"Versprochen, Frau Di Agostino. Danke."

"Schlaft nun etwas; gute Nacht."

Morena löscht das Licht im Zimmer, die Mädchen liegen jede in ihrem Bett. Dann tritt sie auf den Flur und schließt leise die Tür.

Sie atmet aus; lehnt sich an die Wand.

"So schlimm?"

"Mädchen sein, wenn die Pubertät zuschlägt, das ist nicht einfach, Stefan. Davon hast du keine Ahnung."

"Junge sein auch nicht, kannst du mir glauben."

Sie blickt ihn schelmisch lächelnd an. "Wie viele Bäume hast du gefällt? Wie viele Dinge zerbrochen?"

"Hunderte, warum fragst du?"

"Siehst du, genau das ist der Unterschied. Bei den Knaben in der Pubertät gehen Gegenstände zu Bruch. Bei den Mädchen Welten, Seelen und Herzen."

"Danke, dass du gekommen bist. Ich hätte das nicht gekonnt."

"Du hättest das auch nicht tun dürfen; leider ist unsere Welt in dieser Beziehung ungerecht." Morena erblickt das Taschenmesser. "Was wolltest du damit? Die Mädchen abstechen?"

"Ich nicht. Das trug Effie bei sich, als sie aus dem Zimmer kam."

"Nicht dein Ernst, oder?"

"Leider doch."

"Scheiße. Stefan - wir müssen morgen sehr vorsichtig sein. Da brodelt mehr als nur Liebeskummer."

"Das denke ich auch. Wo bist du morgen? - Ich meine heute?" Er hat soeben die Uhr kontrolliert.

Morena grinst. "Espresso, bitte! - Ich bin bei der Velogruppe an der Hängebrücke. Effie, Liv und Enola gehen Beachvolleyball spielen."

"Gut. Ich bin bei der anderen Velogruppe, auf dem Berg in Ernen. Wir treffen uns ja dann unten im Dorf. - Das mit dem Messer behalten wir besser noch für uns, okay? Muss niemand wissen."

"Muss niemand wissen, genau. Hey, ich gehe noch etwas schlafen."

"Danke nochmal."

"Mhm." Morena schlurft in ihr Zimmer. Stefan lächelt und trottet danach zu seinem Zimmer, in welchem er Rebecca schnarchend und quer über ihrem Bett liegend vorfindet.

***

Der erste Tag ist vorüber. Die Kleinen sind echt schnucklig. Tanya lächelt, als sie den Vormittag reflektiert. Seit vielen Wochen - oder sind es schon Monate? - hat sie nicht mehr so viel Spaß gehabt. Zuerst haben sie Lieder gesungen. Die Mädchen und Knaben der zweiten Klasse sangen laut, aber auch etwas falsch. Doch sie freuten sich darüber, dass eine Schülerin der Oberstufe mit ihnen zusammen singt und tanzt.

Sofort hatte Tanya drei Mädchen um sich, die sie den ganzen Vormittag nicht mehr losgeworden ist. In der Pause haben sie miteinander Fangen gespielt. Etwas wehmütig denkt Tanya daran, wie es mit einer kleineren Schwester sein könnte. Sie würden herumalbern, bis spät in die Nach hinein lesen und reden.

Nach der Pause durfte Tanya den Kleinen eine Geschichte vorlesen. Sie hatte ein Märchen gewählt. Dazu setzten sich alle auf einen grossen Teppich. Es war herrlich, wie die Mädchen und Knaben an ihren Lippen hingen, wie sie dazwischen immer wieder Fragen stellten und die Märchenwelt zeichnen wollten. Viel zu schnell war es Mittag und Tanya musste nachhause.

Ihre Mutter hatte sich erbrochen. Tanya wische auf und stellte die Mutter unter die Dusche; dabei erwachte Frau Huber kurz, reklamierte. Nachdem Tanya frische Kleider aus dem Schrank genommen hatte, legte sie ihre Mutter ins Bett. Traurig und erschöpft wärmte sie die Teigwaren vom Vortag auf, setzte sich auf den Balkon uns ass weinend.

Am Nachmittag durfte sie die vierte Klasse in die Bibliothek begleiten. Sie erklärte den Kindern die verschiedenen Buchreihen, welche für ihr Alter interessant sein könnten. Es gibt fast keine Jugendbücher, die Tanya nicht kennt; das ist auch Herrn Kägi aufgefallen.

Er hat sich ihr genähert, schon wieder. Er hat Tanya die Hand auf die Schulter gelegt, viel zu tief. Zwischen den Regalen, im Vorbeigehen, streifte sein Arm ihre Brust; sie konnte nicht ausweichen, war starr vor Schock. Ihr wurde kalt und schlecht, sie wäre am liebsten davongerannt, doch die Füsse gehorchten ihr nicht.

Die Lehrerin hat nichts bemerkt, sie aber auf dem Heimweg gefragt, weshalb sie plötzlich so still sei. "Es ist nichts, ich bin nur müde vom Stehen und Erklären, Frau Jäggi." Tanya hat gelernt zu lügen. Niemand kann ihr helfen; das war schon immer so. Sie hasst den Kerl, sie hasst den Ort, sie hasst die Welt.

Nun ist es Abend, das Lächeln längst verblasst. Tanya schreibt. Sie kann es nicht verstehen; warum sie? Was hat sie getan, dass man sie nicht in Ruhe lässt? Die Erinnerungen an die Nacht, in der es geschah, quellen hoch, wie wenn Milch zu schnell erhitzt wird. Tanya schreibt schnell; es ist Reinigung der Seele. Jedes Wort, das im Computer steht, ist ein geteiltes Wort, auch wenn es niemals gelesen werden wird.

Als sie sich müde ins Bett legt, denkt sie kurz darüber nach, ob sie nicht doch besser mitgefahren wäre, mit den Idioten, in die Berge. Sie denkt an Pitsch und wünscht ihr eine gute Nacht.

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