8. November
Es ist Mittwoch, Svenja hat den Nachmittag frei. Sie sitzt, mit einem Hoodie und einer baggy Sporthose bekleidet, am Esstisch im Wohnzimmer uns löst Hausaufgaben. Daneben hat sich ihr Vater mit seinem Laptop hingesetzt, auch er casual gekleidet und arbeitet im Homeoffice. Einige Pflanzen sorgen für eine ruhige Atmosphäre, im Schwedenofen knistert ein Feuer und das große Fenster erlaubt einen Blick über die Wyna bis zum Hügelzug, der das Tal begrenzt. Leise Musik klingt aus den Designer-Lautsprechern.
"Wirst du gegen Enola Anzeige erstatten?" Svenja hat den Stift hingelegt und sucht das Gespräch mit ihrem Vater.
Loris Berger klappt den Laptop zu. "Hast du noch Schmerzen?"
"Nein, die Schramme verheilt gut. Was sagt Mama?"
"Sie möchte auf jeden Fall Anzeige erstatten, das weißt du. Was ist mit dir? Willst du deine Schulkollegin anzeigen?"
"Ich weiß es nicht, Dad. Sie ist eine Mobberin und Nervensäge; aber sie hat es nicht einfach. Ich denke, ich möchte das eher nicht. Sie hat mich nicht schlimm verletzt, wenn ich mit Laura vergleiche."
"Ist Laura das Mädchen, das mit dem Velo gestürzt ist?"
"Ja. Sie hat es schlimmer erwischt. Ich habe nur eine kleine Schnittwunde."
"Aber du wurdest angegriffen; das ist gefährlich."
"Stimmt. Doch Enola hat einen kriminellen Bruder - ich glaube, sie steht unter großem Druck. Ich habe erfahren, dass sie ins Time-Out muss."
"Hast du erfahren. Von wem denn?" Loris Berger lächelt, denn er kennt die Antwort.
"Von Nik. Er kommt übrigens noch vorbei. Er will mir in Mathe helfen."
"Soll ich ins Büro gehen?"
"Wenn wir dich stören, vielleicht. Aber wegen mir musst du das nicht. Du wolltest ihn doch kennenlernen." Svenja blinzelt ihrem Vater zu; er wuschelt ihr durchs Haar.
"Dann werde ich hier bleiben und beobachten, dass ihr auch brav Mathe macht."
An der Tür klingelt es, Svenja schreckt auf, richtet ihre Haare und läuft zur Tür. Ihr Vater grinst. Wenig später erscheint seine Tochter mit einem modisch gekleideten, blonden Jungen wieder.
"Dad, das ist Nik - Nik, das ist mein Vater."
Loris streckt Nik die Hand hin. "Hallo Nik; ich bin Loris. Freut mich, dich kennenzulernen."
"Freut mich auch, Herr Berger - ich meine Loris. Ich bin Nik Widmer." Er lächelt verlegen, denn er hat nicht damit gerechnet, dass Svenjas Vater ihm gleich das Du anbietet.
"Du datest also meine Tochter?"
Svenja reißt die Augen auf, schockiert davon, was ihr Vater soeben gesagt hat. "Dad! Ich bitte dich! Das ist ganz schön peinlich!" Doch Loris grinst nur.
"Ja, Sir, das mache ich. Aber ich bin anständig, wenn du das wissen möchtest." Auch Nik lacht und Svenja versteht überhaupt nichts mehr.
"Du gefällst mir", reagiert Loris, "bist nicht um eine smarte Antwort verlegen. Sehr schön. Möchtet ihr was trinken? Es hat noch Tee." Loris steht auf und holt den Tee aus der Küche. Nik grinst Svenja an, die nur den Kopf schüttelt.
Als alle mit einem Getränk wieder am Tisch sitzen, möchte Loris noch etwas mehr wissen. "Was machen deine Eltern, Nik?"
"Mein Vater ist in der Baubranche, und er macht Politik. Meine Mutter arbeitet in einem Büro. Wie kommt es, dass du an einem gewöhnlichen Mittwochnachmittag zuhause sein kannst?"
"Berechtigte Frage. Ich arbeite via Internet; Trading, wenn dir das etwas sagt. Wo ich sitze, spielt keine Rolle, solange die Netzverbindung gut ist. In unserer Familie macht Svenjas Mutter die Karriere - ich bin mehr der Hausmann. Was möchtest du denn einmal machen?"
"Ich würde gerne Architektur studieren, oder vielleicht Mathe. Aber dazu muss ich noch an die höhere Schule wechseln."
"Das will ich auch", schaltet sich Svenja ein, "aber nicht für Mathe. Ich möchte Literatur studieren, oder vielleicht Kunst. Nik und ich wollen den Übertritt an die höhere Schule im Sommer schaffen."
"Na dann lasse ich euch mal in Ruhe arbeiten." Loris Berger nimmt seinen Laptop und zieht sich respektvoll ins Büro zurück. Svenja und Nik beginnen mit den Matheaufgaben.
***
In der Bibliothek hat es am Mittwoch für gewöhnlich viele Kundinnen und Kunden. Tanya hat alle Hände voll zu tun, die zurückgebrachten Bücher ins Regal zu stellen und den Jugendlichen oder den Kindern Lesetipps zu verteilen. Meist sitzt sie aber mit den Kindern in der Leseecke und zeigt ihnen die neuesten Bücher. Manchmal liest sie aus einem Buch vor und die Kinder hören ihr zu.
Kägi habe heute frei, hat man ihr gesagt, als man sie für den Einsatz angefragt hat. Sie arbeite nur, wenn Kägi nicht da sei, lautete ihre Antwort. Nun ist sie bereits den ganzen Nachmittag an der Arbeit und hat den schmierigen Typen nie gesehen; er scheint tatsächlich nicht anwesend zu sein. Sie genießt es.
Als sie die Bibliothek schließt, gibt es für Tanya noch sehr viel aufzuräumen. Der Wagen mit den Retouren ist voll. Die Bücher müssen ausgestempelt, kontrolliert und wieder im Regal geordnet werden. Tanya wird etwas Überzeit machen, sie will jetzt nicht unterbrechen. Zwischen den Büchern fühlt sie sich wohl. Zum Aufräumen legt sie fetzige Musik auf.
Der Raum ist auf über zwanzig Grad beheizt, Tanya hat ihren Pullover längst ausgezogen, da ihr durch die körperliche Arbeit zu heiß geworden war. Mit einem Stapel Bücher auf dem Arm klettert sie summend auf den kleinen Rollbock, den alle hier Elefantenfuß nennen. Er ist ein rutschsicheres Treppchen, das ohne Belastung auf Federrollen verschoben werden kann.
Tanya streckt sich und stellt die Bücher ins oberste Regalfach. Dabei rutscht ihr Shirt bis unter den BH hoch, was sie nicht weiter stört, da sie allein in der Bibliothek ist. Plötzlich spürt sie zwei Hände unter ihrer Brust. Erschrocken lässt sie die Bücher fallen, dreht sich um und taumelt Kägi in die Arme. Er küsst sie auf die Wange, seine Hände lässt er da, wo er sie zuvor schon hatte, auf ihren Brüsten. Der Elefantenfuß rollt scheppernd weg.
"Du hast dich heute hübsch gemacht. Meinetwegen?"
Tanya reagiert wie in Trance. Mit voller Wucht tritt sie dem Mann auf den Fuß und dreht sich gleichzeitig weg. Er lässt von ihr ab und flucht. Kägi will hinter ihr herrennen, doch Tanya ist bereits rausgestürmt und radelt weg; im T-Shirt, denn ihr Pullover liegt noch neben der Registrierkasse. Die gefallenen Bücher liegen am Boden. Kägi verschwindet in sein Büro. In der Ecke über dem Regal blinkt das rote Lämpchen einer Überwachungskamera. Die Linse ist auf den schmalen Gang zwischen den Regalen gerichtet.
Tanya radelt wie eine Weltmeisterin; sie bemerkt nicht, dass sie friert, sie bemerkt nicht, dass sie längst außer Atem ist. Glücklicherweise regnet es nicht, doch der Nebel lässt ihre Arme feucht werden. Zuhause wirft sie ihr Rad vor die Garage und rennt ins Haus. Ihre Mutter liegt auf der Couch, neben einer leeren Flasche; ein Glas liegt umgekippt auf dem Teppich. Doch Tanya hat jetzt keine Geduld dafür.
Sie rennt die Treppe hoch und stellt sich unter die Dusche. Danach zieht sie den dicksten Pullover an, den sie findet, legt ihre harte Musik auf, verkriecht sich unter der Decke und beginnt hemmungslos zu weinen.
Nur langsam beruhigt sie sich. Metallica hilft. Tanya setzt sich an den Laptop; ihr ist nach Schreiben und ausnahmsweise nicht nach Malen. Bevor sie die ersten Buchstaben tippt, dreht sie den Kopf und betrachtet ihre Tür. Sie sieht ihre Lehrerin, wie sie dagestanden hat. Neben der Lehrerin steht Svenja. Beide gucken sie hoffnungsvoll an, tröstend.
Plötzlich lächelt Tanya. Sie hat einen Plan, sie kennt den Ausweg. Sie nickt den zwei Frauen zu und dreht sich wieder zum Bildschirm.
Mori
Sage mir, warum du Lehrerin geworden bist. Warum willst du den Kindern dieser Welt dabei helfen, Sklaven ihrer selbst zu werden? Kannst du damit leben, das System zu unterstützen? Warum bist du Lehrerin?
Du bist eine Frau voller Stolz, positiver Energie und Lebenswille. Du könntest vieles erreichen, aber du landest in der Schule; der Quelle allen Übels, der Brutstätte des Verderbens.
Du warst bei mir, du hast mich gesehen - das Produkt deiner Schule; dein Produkt. Ist es das, was du willst? Millionen von Mädchen wie mir heranzüchten, damit wir brav weitere Millionen von Kindern in die Welt setzen? Pink Floyd lässt grüßen.
Du hast meine Bilder gesehen und mir gesagt, sie seien voller Hoffnung. Du siehst hinter die Farbe. Du bist keine Lehrerin, du bist eine Erlöserin. Hätte ich dich doch nur früher gekannt. Dich und meinen blonden Engel.
Ihr seid das Gute auf der Welt und ich verstehe nun, warum ihr genau jetzt in mein Leben gekommen seid. Meinetwegen.
Ihr holt mich ab. Ihr begleitet mich in eine bessere Welt; ihr seid meine Botschafterinnen. Deshalb bist du Lehrerin geworden. Du begleitest Menschen in eine bessere Zukunft. Und ich darf die Erste sein. Ich werde dich nicht enttäuschen. Ich habe hier alle Menschen enttäuscht, doch das bin ich nicht mehr. Ich habe es endlich verstanden.
Ich freue mich darauf. Mein Leben macht endlich wieder Sinn. Dank einer Lehrerin wie dir und meinem blonden Engel. Ich bin bereit. Lasst uns gehen.
Tanya liest den Text mehrmals durch. Sie ist zufrieden damit, zögert aber noch, ob sie Svenja namentlich erwähnen soll. Sie entscheidet sich dagegen. Svenja. Morena. Tanya. Erst als sie den Text veröffentlicht hat, setzt sie sich an die Staffelei. Sie mischt die Farben, drückt einige kleine Würste aus den Tuben. Dann beginnt sie zu malen.
Es wird ein fröhliches Bild, Tanya lacht, als sie erkennt, was sie malt. Ihr Leben macht endlich wieder Sinn. Sie malt die Welt, wie sie sein wird - voller Hoffnung, Liebe, Licht und bunt wie ein Schmetterling. Mitten in die Blumenwiese hinein zeichnet sie drei schemenhafte Frauen. Eine kleine mit dunklen Locken, eine dünne mit schwarzem, langem Haar und eine sportliche Blondine. Sie fühlt die Freiheit. Kein Kerl dieser Welt hat je wieder eine Chance, ihr wehzutun. Das Leben gehört ihr und ihren beiden Engeln.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top