8. August

"Guten Morgen, geschätzte Kolleginnen und Kollegen", der Schulleiter Frank Besenberger klopft mit dem schaumgefüllten Löffelchen an seine Kaffeetasse; einige Tropfen fallen dezent auf sein Sakko. "Es freut mich außerordentlich, euch alle vollzählig hier begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, ihr habt euch in den wohlverdienten Sommerferien ausgiebig erholen können und seid bereit und motiviert für das kommende Schuljahr. Wir dürfen in diesem Jahr drei 8. Oberstufenklassen führen, weshalb ich euch hier unsere neue Kollegin, Morena Picci, vorstellen darf. Morena, würdest du bitte aufstehen?"

In den hinteren Reihen erhebt sich eine kleine, sportlich wirkende Frau mittleren Alters, sie hat lange, braune Locken und lächelt freundlich in die Runde. "Hallo zusammen. Ich freue mich, hier meine neue Stelle antreten zu dürfen. Ich werde die 2b übernehmen; allen anderen Klassen unterrichte ich Mathematik."

Aus der Menge sind leise Grußworte zu hören. In einigen Gesichtern wandelt sich der Ausdruck von gelangweilt kurz zu wohlwollend freundlich. Morena setzt sich wieder und der Schulleiter übernimmt. Inzwischen hat er versucht, die Milchschaumspritzer zu entfernen, was den Fleck nun deutlich sichtbar hat werden lassen. Auf seiner Glatze zeigen sich erste Schweißperlen.

"Wir haben heute ein gedrängtes Programm. Ich darf euch bitten, den Stundenplan zur Hand zu nehmen. Ihr findet ihn bei euren Unterlagen in der Mappe."

***

Während der Mittagspause werden Sandwiches verteilt. Morena nähert sich einigen anderen Lehrpersonen im sonnigen Garten.

"Hi, ich bin Rebecca - Rebecca Durrer. Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Klassenlehrerin der 2a. Setz dich zu uns; willkommen."

Morena lächelt freundlich und nimmt die Einladung an. "Hallo zusammen. Ich bin Morena - aber das wisst ihr ja schon."

Rebecca strahlt die kleine Italienerin freundlich an und streckt ihr die Hand zum Gruß entgegen. "Was verschlägt eine Südländerin wie dich ausgerechnet in unser Bauerndorf?"

"Ich habe mir sagen lassen, dass es hier weniger Nebel gibt als im restlichen Mittelland", scherzt Morena. "Zudem hat mein Mann eine leitende Stelle in der Glasfabrik erhalten."

"Gute Antwort! Schön für uns. Das sind Stefan, Dominic und Gabi." Rebecca zeigt der Reihe nach auf die anderen drei Lehrpersonen, welche am gleichen Tisch sitzen.

"Hallo Morena, ich unterrichte Naturwissenschaften und bin dein Kollege der 2c, Dominic Kobelt." Ein Mann mit blonden Locken lacht sie an; sie lächelt zurück.

"Hi. Ich bin die Sozialpädagogin an der Schule", meldet sich Gabi zu Wort, "und der heiße Sportlehrer da, das ist Rebeccas bessere Hälfte."

Morena lacht. "Ich liebe Gossip. Freut mich Gabi und Stefan. Eine eigene SozPäd an der Schule - das klingt gut. Hast du viel zu tun?"

"Nach den Ferien jeweils noch nicht. Die Problemchen beginnen immer erst nach ein paar Wochen. Die Hackordnung muss erst greifen, würde unser Musiklehrer jetzt wieder sagen." Alle lachen; die Stimmung ist locker.

"Wo warst du vorher?", fragt Dominic schließlich.

"Ich habe lange nur ein kleines Pensum unterrichtet; Stellvertretungen oder Springerin an verschiedenen Schulen. Aber jetzt sind unsere drei Kinder alt genug, dass ich wieder aufstocken kann - und ich freue mich darauf. Zudem hat mein Mann mehr Freizeit oder Homeoffice - da kann er zuhause übernehmen. Habt ihr auch Kinder?"

"Eine Tochter bisher. Aber wir wollen noch ein zweites." Dominic strahlt, als er das sagt.

"Wir haben keine Kinder - uns reichen die Monster hier", erwähnt Rebecca schmunzelnd. "Das ist Stress genug. Wie lange warst du weg?"

"Sieben Jahre - eine lange Zeit. Hat sich bestimmt viel verändert." Morena wischt sich die Hände an der Serviette ab. "Das war lecker."

"Sieben Jahre! Du wirst die Schule nicht wiedererkennen. Das Niveau sinkt jährlich spürbar. Stelle dich auf Kinder ein, die kein Allgemeinwissen mehr haben, dafür alle Fußballer und Influencer mit Namen kennen." Rebecca schüttelt ihr rötlich blondes Haar und Morena fällt auf, wie attraktiv sie ist. Stefan hat den Arm um sie gelegt. Ein hübsches Paar, denkt sich Morena und lächelt.

"Du heißt mit Nachnamen Picci. Hast du dir überlegt, unter einem anderen Namen vorgestellt zu werden? Wie heißen deine Eltern?", fragt Dominic.

"Komische Frage; Picci ist der Name meines Mannes; ich hieß früher Di Agostino. Warum?"

"Diese Monster, die am Montag kommen, werden aus deinem Namen sehr schnell einen hässlichen, englischen Ausdruck formen und sich darüber krumm lachen. Und sei es nur aus Langeweile." Dominic blickt ihr direkt in die Augen.

Morena überlegt einen Moment. Sie beschließt, den Rektor darauf anzusprechen. "Was macht man im Dorf, wenn es dunkel wird? - Gibt es hier eine Ausgangsmeile?"

"Hier?" Stefan blickt Morena schockiert an. "Mädchen, das ist Oberwil; hier gibt es nur einen Volg und eine Tramstation mit 'Halt auf Verlangen' - keine Post, keine Bar und kein Einkaufszentrum; Nada."

"Kein Restaurant? Nicht mal eine vernünftige Pizzeria?"

"Nope. Das Kaff hatte früher mal fünf Restaurants. Heute gibt es nur noch die Dorfknelle, wo sich die Bauern den Kaffee-Schnaps holen und die Jugendlichen ihre Zigaretten aus dem Automaten drücken."

"Und für die Jugendlichen?" Morena ahnt, dass es auch hier wenig Unterhaltung geben wird.

"Das Dorf hat viele Vereine", erklärt Gabi, "aber eine echte Freizeitgestaltung für Jugendliche gibt es nicht; leider. Da kannst du also noch aktiv werden - meine Hilfe hättest du!"

"Wie tickt ihr so im Team? Gibt es gemeinsame Anlässe?"

"Ja, die haben wir. Kinobesuche, Bowling, Grillabende und nicht zu vergessen unser legendäres Lehrer-Skilager im Engadin." Stefans dunkle Augen glänzen. Als Sportlehrer schwärmt er für alles, was Bewegung mitbringt.

"Das klingt super! Ich muss meinem Mann nämlich genügend Vaterzeit einräumen." Morena zwinkert den anderen zu, sie lachen verständnisvoll.

"Wie alt sind deine Kinder, wenn ich fragen darf?", will Rebecca wissen.

"Vierzehn, zwölf und acht - also im besten Alter. Die kleineren zwei gehen dann hier zur Schule. Unsere Älteste besucht die höhere Stufe in Niederwil."

"Gehört trotzdem irgendwie zu uns. Wir sind eine Kreisschule. Hier sind die Schüler des tieferen Niveaus. Aber ich mag diese Vergleiche nicht."

"Wissen wir!" rufen Rebecca, Stefan und Gabi im Chor. Dominic verdreht die Augen und Morena lacht.

***

Nach der Mittagspause fährt der Schulleiter mit seiner Planungssitzung fort. Kleine Ämtchen werden verteilt, die Pausenaufsicht geregelt, Termine für Gesamtsitzungen kommuniziert und das Budget besprochen. Es ist der eher öde organisatorische Kram, welcher vor jedem Schuljahr besprochen werden muss, um möglichst optimale Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf zu schaffen.

Wie früher, denkt sich Morena dabei und notiert alle wichtigen Informationen in ihr Vorbereitungsbuch. Sie weiß, dass am Montag, wenn die Schüler aus ihren Ferien zurückkommen, viele von diesen Vorbereitungsarbeiten bereits nicht mehr greifen werden; eine Schule kann man nur bedingt planen, der Rest ist Intuition und Reaktion auf unvorhersehbares menschliches Verhalten.

Gegen Ende der Veranstaltung spricht man noch einmal über die unbesetzten Stellen.

"Die Bibliothekarin der Dorfbibliothek hat gekündigt. Das war nicht absehbar. Sie haben die Stelle ausgeschrieben, aber bisher sind noch keine brauchbaren Bewerbungen eingegangen. Sie versuchen weiterhin, jemanden zu finden - wir wollen in diesem Jahr nämlich eine Art Literaturkurs ins Leben rufen. Das hatten wir noch mit Frau Ammann ausgemacht, doch sie hat ein Stellenangebot in Aarau erhalten, das sie nicht ablehnen konnte. Das Projekt steht, jetzt müssen wir nur noch eine geeignete Bibliothekarin finden. Wenn ihr jemanden kennt, dann gebt ihm bitte unsere Unterlagen weiter und verweist ihn an die Homepage der Gemeinde. Vielen Dank, es ist wichtig, dass sie die Stelle so schnell wie möglich besetzen können." Der Schulleiter wirkt besorgt aber dennoch leicht zuversichtlich.

Nach der Sitzung hat die Schulleitung einen kleinen Apero unter dem Dach bei der Aula vorbereitet. Zehn runde Bartische stehen wie zufällig angeordnet zwischen den Säulen, einer gar neben dem Brunnen, in welchem das Bier und der Weißwein kühlen. Auf jedem Tisch steht eine kleine Platte mit Häppchen bereit, es hat Gläser und Teller - ungezwungene Selbstbedienung. Morena geht von einem Tisch zum anderen, immer wieder neue Kolleginnen und Kollegen kennenlernend. Sie ist mit den vielen Namen überfordert, weiß jetzt schon, dass sie in den folgenden Wochen mehrmals wird nachfragen müssen.

"Na? Wie ist es, zurückzukommen?"

Im Augenwinkel kann Morena Rebeccas rötliche Haare erkennen dreht sich um und sieht die großgewachsene Frau lächelnd neben sich stehen. "Ich bin noch etwas überfordert im Moment."

"Kann ich verstehen. Wir sind alle keine großen Fans von solchen Vorbereitungstagen, aber die Schulleitung steht voll drauf."

"Und wir haben eine Woche weniger Ferien. Das war zu meiner Zeit noch nicht so."

"Ich denke, das ist eine Art Tributzoll, den man der Politik zahlen will, damit sie sehen, dass auch Lehrpersonen etwas arbeiten. In einem politisch rechts gelagerten Dorf wie hier, ist das sehr wichtig."

"Wir wohnten früher in Stans am Vierwaldstättersee."

"Wow - und dann zieht ihr hierher? Wo wohnt ihr eigentlich?"

Morena lacht. "Das wirst du mir nicht glauben."

"Ach was, komm schon! Ich vermute eines der alten Bauernhäuser, die man noch umbauen muss; auf dem Hügel am Waldrand; habe ich recht?"

"Ja und nein. Wir müssen renovieren - also ja. Ein abgelegenes Bauernhaus ist es aber nicht - also nein. Die Gemeinde wollte das alte Feuerwehrmagazin verkaufen, weil sie es nicht mehr benötigen. Da haben wir zugeschlagen. Ein Schnäppchen - aber wir müssen noch viel investieren."

"Das Feuerwehrmagazin? Echt? Wow - da habt ihr im unteren Stock eine fünf Meter hohe Loft mit riesigen Einfahrtstoren."

"Genau - unsere Älteste sieht schon alle ihre Partys, die sie dort veranstalten will!" Morena lacht und schüttelt den Kopf. "Aber dann bleibt sie wenigstens zuhause - und das ist auch nicht schlecht."

"Müsst ihr viel verändern?"

"Wir können bereits wohnen; da war schon eine Wohnung im oberen Stock; wir haben gar eine Dachterrasse zur Wyna hin. Aber ja, wir wollen eigentlich alles machen; selbst Hand anlegen, wo es möglich ist und den Rest mit den Lokalen Handwerkern angehen. Mein Mann macht wenig Sport, dafür viele andere Dinge, um in Bewegung zu bleiben. Momentan streichen wir die Zimmer neu, damit wir die Möbel unserer Kinder aufstellen können."

"Du kannst zu Fuß zur Arbeit kommen. Das ist ein Vor- und Nachteil in einem."

"Ich sehe darin hauptsächlich den Vorteil. Ich verliere keine Zeit mit Pendeln und Abgrenzung war nie mein Problem. Wohnt ihr zusammen, Stefan und du?"

"Ja. Wir haben vor vielen Jahren eines dieser alten Terrassenhäuser gekauft, vielleicht hast du sie schon gesehen; am Dorfausgang links, am Hang; sie sehen nicht sehr schmuck aus. Sie sind wunderbar sonnig gelegen; halt etwas in die Jahre gekommen, aber wir haben es toll umgebaut."

"So eines haben wir uns auch angesehen. Aber mit drei Kindern sind sie zu klein. Zudem fand mein Mann die Aussicht auf seinen Arbeitsort nicht gerade prickelnd."

Rebecca lacht und nickt. "Stimmt, man sieht direkt auf die Glasfabrik. Aber sie haben das mit der grünen Farbe gut gemacht; das riesige Gebäude fällt nicht auf."

"Trotzdem wollte er nicht dauernd die Firma im Blickfeld haben."

"Was machst du noch in den vier Tagen bis die Schule losgeht? Möchtest du einmal zu einem Kaffee kommen?"

"Das ist lieb. Aber wir fahren noch nach Florenz, die Kinder holen. Sie waren über den Sommer  bei meinen Schwiegereltern; so konnten wir in Ruhe umziehen und uns einrichten."

"Schön. Dann sehen wir uns also am Montag."

Rebecca verabschiedet sich; auch Morena stellt ihr Glas auf einen der Tische und schlendert dem Bach entlang nachhause. In Gedanken lässt sie den Tag revuepassieren. Sie freut sich auf die neue Herausforderung und auf das Team, welches ihr sehr sympathisch scheint.

***

Morena kehrt müde in ihr neues Heim zurück. Diese Vorbereitungstage während der Schulferien sind sehr anstrengend. Auf eine gewisse Art sind sie jedoch auch gut; denn so spüren die Lehrpersonen wieder einmal, wie es sich anfühlt, einen ganzen Tag nur zuhören und stillsitzen zu müssen.

Schule hat sich seit hundert Jahren nicht groß verändert, denkt sich Morena, als sie in die Loft tritt.

"Wie meinst du das, nicht verändert? Hallo Schatz! Wie war dein Tag?" Salvatore umarmt sie herzlich, nimmt ihr die Tasche ab und hält ihr ein Glas mit Rotwein entgegen.

"Du bist ein Heiliger, Salva, weißt du das? - Danke, das kann ich brauchen."

"So schlimm also?" Salvatore führt sie auf die Dachterrasse. In der Abendsonne können sie auf den kleinen Bach Wyna blicken.

"Nein, nicht schlimm. Aber anstrengend. - Habe ich das eben laut gesagt?"

"Ja, hast du. Salute, mia Principessa!"

So war er schon immer. Seit sie sich kennen, nennt Salvatore sie seine "Prinzessin" - und sie freut sich darüber. "Salute! - Ich meinte damit, dass die Schule heutzutage noch immer mit Stillsitzen und Aufpassen funktioniert. Dabei sollte man meinen, im 21. Jahrhundert besser verstanden zu haben, wie Lernen funktioniert."

"Du solltest in die Politik gehen, mein Schatz. Du würdest das ganze Schulsystem umkrempeln." Salvatore holt einen Teller mit kleinen Häppchen und stellt ihn auf den niederen Tisch zwischen ihnen.

"Du hast gekocht?" Morena blickt ihren Mann verträumt und hungrig an - nicht nur des Essens wegen.

"Ja. Es gibt Pasta al Limone. Die magst du doch so sehr. Dauert nur einige Minuten - ist alles vorbereitet." Er strahlt sie an.

"Grazie mille! Danach musst du mir zeigen, was du heute alles geschafft hast."

"Ich war fleißig - du wirst sehen. Die Kinderzimmer stehen bereit - alle drei!"

"Echt? - Aw, du bist so gut. Werden sie sich freuen, in Oberwil zu wohnen? Werden sie sich hier wohlfühlen? Was meinst du?" Morena schnappt sich eine Olive und steckt sie sich in den Mund.

Salvatore schenkt noch etwas Wein nach. "Wir sollten die Tage genießen, bevor die Kinder hier Radau veranstalten."

Morena schmunzelt, steht auf und setzt sich rittlings ihrem Mann auf den Schoß. "Ich verstehe schon - sie fehlen mir auch, Salva. Morgen fahren wir nach Italien um sie zu holen. Morgen. Und nun komm her, mein fleißiger Feuerwehrmann - ich muss gelöscht werden. Essen können wir hinterher."

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