31. Oktober
Svenja sitzt am Frühstückstisch, ihr Vater reicht ihr einen Kaffee. "Wie fühlst du dich?"
"Mir geht es gut, Dad. Es tut nicht mehr weh." Sie beißt genüsslich in ihr Brot mit Honig.
"Soll ich dich zur Schule fahren?"
"Ja, das wäre lieb, danke. Weißt du, diese Enola hat ein echtes Problem. Sie steht unter Druck, hat einen Ruf zu verteidigen. Ich bin wohl eine ernstzunehmende Konkurrenz; deshalb komme ich dran."
Ihr Vater lächelt. "Du solltest unbedingt Psychologie studieren, meine Kleine, du hast das Flair dazu."
"Deshalb gebe ich mir solche Mühe. Ich will an die höhere Schule wechseln, das letzte Jahr dort machen, damit ich ins Studium einsteigen kann." Svenja nimmt einen Schluck Kaffee. "Das ist mein Ziel. Und Nik will auch wechseln.
"Nik?" Loris Berger schaut seine Tochter fragend an, dazu lächelt er verschmitzt.
"Mein Freund, Dad", erklärt Svenja, "er ist nett und sehr intelligent."
"Dann solltest du ihn vielleicht mal mitbringen, damit ich ihn mir ansehen kann?"
"Dad! Also ehrlich! Du bist unglaublich!" Svenja mischt sich ihr Müsli und schneidet frische Früchte hinein.
"Ich meine ja nur. Ich würde gerne wissen, mit wem meine Tochter so ausgeht ..." Der Vater senkt den Kopf, die Augen zeigen Enttäuschung, die Schultern hängen.
Svenja lacht. "Du bist ein schlechter Schauspieler, und das weißt du. Also gut, wenn dir so viel daran liegt, dann werde ich ihn demnächst einmal einladen, damit du ihn überprüfen und ihm dein 'Dad-Gütesiegel' verleihen kannst. – Nun lass uns frühstücken, ich sterbe vor Hunger."
"Magst du Eier mit Speck?"
"Das meinst du nicht ernsthaft als Frage, oder? her damit!"
Vater und Tochter frühstücken gemeinsam. Danach fährt Loris Svenja zur Schule. Ihr Arm schmerzt noch, die blauen Flecken hindern sie an vielen Bewegungen, weshalb sie umständlich aus dem großen Wagen steigt. Nachdem sie sich verabschiedet hat, hinkt sie dem Schulhaus entgegen. Loris Berger wartet noch einen Moment und schaut seiner Tochter nach. Als sie bei einem sportlichen Jungen stehenbleibt und zurückblickt, fährt er peinlich berührt los.
"Mein Dad. Er wollte dich wohl sehen", erklärt Svenja Nik, der sie fragend ansieht.
"Er weiß von uns?"
"Aber ja doch. Deine Eltern nicht?"
"Nein. Die wollen sowas gar nicht wissen."
"Mein Dad schon. Er wird dich überprüfen und nur, wenn du bestehst, seiner würdig bist, darfst du mit mir zusammen sein." Sie lächelt und küsst ihn.
Nik blickt dem davonbrausenden Wagen nach. "Meine Puch würde ihn abhängen!" Sein Grinsen enttarnt den Scherz. "Wie geht's? Tut es arg weh?"
"Bei ruckartigen Bewegungen schon, ja. Aber wenn ich langsam mache, geht es."
Die beiden wollen zum Schulzimmer hochgehen, als Enola, Livia und Effie auf einmal vor ihnen stehen.
***
„Mama, ich will nicht in die Schule gehen!" Carla steht vor Morena und stemmt die Fäuste in die Hüften.
Morena erschrickt, sie legt das frisch zubereitete Müsli weg und setzt sich neben ihr Tochter. „Du musst hingehen, Schatz. Aber was bedrückt dich, dass du solch eine Aussage machst?"
„Da ist ein Typ, der kommt mit seinen Kumpels auf den Pausenplatz. Sie verkaufen Drogen. Niemand macht etwas gegen sie. Hast du das gehört von Reinhof? Die Schlägerei mit Verletzten?"
„Ja, das habe ich gehört. Von uns war eine Schülerin auf der Schlägerseite mit dabei. Von den Verletzten waren es gar mehrere. Was weißt du?"
Calra ziert sich. Sie greift nach dem Müsli, doch ihre Mutter ist schneller. „Rede – dann kriegst du Frühstück."
„Du bist gemein, Mama. Also gut: Der Kerl, der die Truppe anführt, ist einer aus Oberwil. Er heißt Jovan und ist ein bekannter Schläger. Er postet auf TikTok Filmchen, wo er kleine Kinder blutig prügelt; random – er kennt die Kinder nicht, wählt sie zufällig aus. Er zeigt sich auf Instagram kiffend und mit seinem Auto rasend. Er zeigt den Bullen den Stinkefinger – niemand wagt es, gegen ihn vorzugehen. Ich habe Angst, Mama. Unsere Schule ist nicht mehr sicher."
Morena ist sichtlich betroffen. Sie reicht ihrer Tochter das Müsli und streicht ihr über den Kopf. „Carla, du brauchst keine Angst zu haben. Ich kenne diesen Jovan, zumindest vom Namen her. Wenn er bei euch Probleme macht, dann werde ich die Schulleitung und wenn es sein muss die Polizei informieren."
„Danke, Mama. Du bist wirklich Wonder-Woman, wie Babbo immer sagt", Carla lächelt und stopft sich einen großen Löffel Müsli in den Mund.
„Nein, mein Schatz, die bin ich nicht – ich bin zu klein dazu, Gal Gadot ist deutlich größer als ich; und schlanker." Nun lachen sie beide.
„Aber hübsch bist du wie sie!"
„Oh, danke, meine kleine Perle. Nun aber ab in die Schule, okay?" Morena lächelt zufrieden.
Carla greift nach ihrem Rucksack. „Ich geh ja schon. Ich wünsche dir einen guten Tag – rette die Bedürftigen und bestrafe die Gemeinen!" Sie formt eine Faust, die sie in die Höhe hält, dann verlässt sie die Wohnung.
„Was ist denn in unsere Tochter gefahren?", fragt ein verschlafener Salvatore, der soeben in die Küche schleicht und Morena einen Kuss auf den Hals drückt.
„Sie wehrt sich für die Schwachen."
„Sie ist wie du, das weißt du doch."
Morena dreht sich zu Salvatore um und fasst ihn an den Schultern. „Echt? Bitte nicht. Eine Lehrerin in der Familie reicht."
„Ja, da hast du recht. Aber ihr zwei habt schon einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn; das musst du zugeben."
„Stimmt", erwidert sie lachend. „Ich muss gehen. Kannst du die Kleinen wecken?"
„Aber sicher. Geh schon. Ich wünsche dir einen guten Tag!"
Morena küsst ihn. „Du bist der Beste." Dann schnappt sie sich ihre Tasche und verschwindet in den unteren Stock.
„Weiß ich doch ...", murmelt Salvatore schmunzelnd, greift nach der Zeitung und lässt sich einen Kaffee in die Tasche tröpfeln.
***
„Was wollt ihr?" Nik stellt sich zwischen die Mädchen und blickt Enola drohend an.
„Ich musste wegen euch auf den Polizeiposten. Das werde ich nun auch euch rausprügeln."
„Spinnst du?" Nik schüttelt den Kopf. „Komm wieder runter. Wenn du zu den Bullen musst, dann hast du dir das selbst zuzuschreiben. Nun lass uns durch, die Schule beginnt."
Nik und Svenja drücken sich an den drei Mädchen vorbei und betreten das Schulhaus. Vor dem Klassenzimmer trennen sie sich, Svenja hat Mathe und Nik zwei Lektionen Deutsch.
„Wir sind nicht fertig." Enola schaut den beiden nach.
Als Svenja den Klassenraum betritt, steht Frau Di Agostino an der Tür. „Na, geht's?"
"Ja, ja, geht schon. Es schmerzt schon deutlich weniger. Danke, dass Sie nachfragen."
Morena wendet sich an die Klasse: „Wenn ihr über die Situation an unserer Schule reden wollt, dann können wir das gerne tun."
Die Schülerinnen und Schüler legen ihre Mathesachen etwas beiseite und staunen ihre Lehrerin an. Lange sagt niemand etwas. „Was gibt es da schon groß zu sagen, Frau Di Agostino? Wir haben Angst; und das geht schon so, seit Jovan noch auf der Schule war." Alle sehen Cristijana an, als sie das leise sagt.
„Warum wehrt ihr euch nicht?" Morena weiß, dass sie mit ihren Worten provoziert.
Bastian lacht. „Haben Sie Lara gesehen? Schauen Sie sich Svenja an. Dann wissen Sie auch, warum wir lieber ruhig sind."
„Aber zusammen seid ihr stark; stärker als die Mädchen. Und Jovan darf das Schulgelände nicht betreten."
„Ja genau. Er befährt es. Wir schätzen, was Sie für uns tun wollen, Frau Di Agostino. Sie sind eine mutige Frau. Aber hier in diesem Bauerndorf hat selbst die Polizei Angst vor Typen wie Jovan."
Damit ist momentan alles gesagt. Die Jugendlichen lösen Matheaufgaben, Morena hängt einige Minuten ihren Gedanken nach. So hat sie sich ihre Arbeit auf dem Land nicht vorgestellt. Gangs, Gewalt und ein Bibliothekar, der sich an Mädchen vergeht. Sie beginnt sich zu fragen, ob ihre Energie ausreichen wird. Als eines der Mädchen eine Frage zur Algebra hat, widmet sich Morena wieder ihrem Hauptgeschäft. Dann klingelt es zur Pause.
Svenja geht als eine der ersten nach draußen. Kaum als sie durch die Tür tritt, wird sie von hinten gepackt und auf den Pausenplatz gestoßen. Enola prügelt so schnell auf sie ein, dass sie sich nicht wehren kann. Fußtritte treffen sie, als sie zu Boden geht. Effie und Liv halten die anderen Schüler zurück, damit sie sich nicht einmischen. Einer der kleineren rennt ins Schulhaus.
Svenja erholt sich vom ersten Schock und beginnt sich zu wehren. Die zwei Mädchen prügeln sich und auch Enola muss tüchtig einstecken. Svenja ist größer als sie und deutlich trainierter. Nach einem harten Schlag ins Gesicht blutet Enola. "Das ist alles? Komm schon, Zürcher Bitch, jetzt bist du dran!" Sie spuckt auf den Boden. Schreiend vor Wut stürzt sich Enola auf Svenja, die gekonnt ausweicht und die Furie ins Leere laufen lässt. Die Menge, welche sich unterdessen um die kämpfenden Mädchen gebildet hat, johlt und grölt.
Dann endlich kommen Silas Marder und Stefan Roos angerannt. "Auseinander! Spinnt ihr?"
Stefan packt Svenja, Silas greift sich Enola. Sie zappelt noch. "Das dürfen Sie nicht! Sie dürfen mich nicht anfassen. Sehen Sie den da, der umarmt sein Blondchen. Gegen ihn sollten Sie vorgehen, den widerlichen Perversling!", zischt sie fauchend.
"Du hältst jetzt besser deine freche Klappe, Enola. Du bist schon tief genug drin. Was soll das?" Silas blickt seinen Kollegen besorgt an.
"Sie hat mich angegriffen. Einfach so; verdammte Stadtbitch. Sie hat meinem kleinen Bruder Drogen verkaufen wollen!" Silas muss Enola noch immer stark halten, sie zappelt und wehrt sich mit aller Kraft.
"Ist das wahr", fragt Stefan Svenja streng, die bereits wieder ruhig neben ihm steht und nicht mehr festgehalten werden muss.
"Nein, Herr Roos. Es war genau umgekehrt. Ich kam raus, da wurde ich auch schon niedergeschlagen. Aber das wird Ihnen niemand bestätigen, weil es nur die beiden da gesehen haben. Und das mit den Drogen ist frei erfunden." Svenja zeigt auf die grinsenden Liv und Effie.
"In mein Klassenzimmer, alle beide!" Silas und Stefan begleiten die vier Mädchen ins Zimmer. Unterdessen sind auch Morena und Alissia dazugekommen.
"Was machen wir? Wir müssten zu Besenberger."
Stefan wehrt ab. "Morena, geh du mit Enola, Alissia, du gehst mit Svenja. Wir zwei nehmen uns diese beiden hier vor. Besenberger können wir hinterher informieren."
Als Morena und Enola allein in einem Zimmer sitzen, blickt das Mädchen unsicher auf einen Tisch, den Kopf hat sie gesenkt.
Morena wartet. Die Stille erdrückt Enolas Wut. Allmählich beruhigt sie sich.
"Wie lange muss ich hier sitzen?"
"Das hängt davon ab, was du mir erzählen kannst, Enola."
"Ich wüsste nicht, was ich Ihnen erzählen könnte", schnaubt die Jugendliche.
"Magst du Hunde?", fragt Morena fröhlich und setzt sich neben Enola.
Das Mädchen ist von dieser plötzlichen Frage überrumpelt und starrt Morena an. Ihre Gesichtszüge werden sanfter, sie lächelt sogar. "Mein Bruder hat einen Hund."
"Meine Eltern hatten immer einen Maremma-Hund, so einen weißen, mit langem Fell. Wir nannten ihn Lupus. Was hat dein Bruder für einen?"
"Einen Pitbull, cremefarben; Hasso. - Warum reden wir über Hunde?"
"Damit du ruhiger wirst. Hat doch funktioniert." Morena lächelt. "Du bist wütend, noch wegen dem Wochenende, das verstehe ich. Warum kämpfst du gegen Svenja? Das verstehe ich nicht."
Enola zischt abschätzig. "Die spielt sich auf, als ob sie etwas Besseres wäre. Und die Lehrer hat sie auch im Sack."
"Vorsicht, meine Liebe, ich bin auch Lehrerin."
"Ja, aber Sie sind irgendwie anders. Ich meine, Sie reden über Hunde, obwohl ich mich gerade geprügelt habe. Das ist ganz schön schräg. Sie sollten mich anschreien und mir eine Strafe geben."
"Würde das was bringen?"
"Sicher nicht. Das bringt nie was. Aber Lehrer machen das so."
"Wozu soll ich etwas tun, das nichts bringt? Ich spüre eine ganz andere Wut in dir. Wut und Angst. Willst du darüber reden?"
"Nein. Das geht Sie nichts an."
"Und wenn ich dir helfen möchte?" Morena lehnt sich zurück, legt einen Arm auf den Tisch.
Enola geht auf die einladende Haltung nicht ein. Sie blickt wieder auf die Tischfläche. "Mir kann niemand helfen. Ich muss mir selbst helfen. Darf ich gehen?"
"Ich werde dir nicht mehr von der Pelle rücken, Enola Dukic, wenn ich noch einmal höre, dass du jemanden bedrohst oder anfasst. Hast du das kapiert? Du wirst mich nicht mehr los; ich werde zu deinem Schatten." Morena spricht ruhig und klar, ohne Emotionen.
Enola dreht den Kopf, ihre wässrigen Augen sind weit geöffnet, die Schminke leicht verschmiert. "Sie drohen mir?"
"Nein. Ich helfe dir. Wenn du reden willst, bin ich da. Du darfst nun gehen."
Das Mädchen erhebt sich umständlich, den Stuhl schiebt sie artig zurück, dann schlendert sie unsicher zum Ausgang. An der Tür dreht sich Enola noch einmal um, starrt Morena an, murmelt etwas, das sich wie ein 'Danke' anhört und verschwindet im Flur.
Erst jetzt sackt Morena zusammen, stützt den Kopf auf und atmet erleichtert aus. "Kaffee!"
Im Lehrerzimmer ist die Schlägerei das Diskussionsthema Nummer eins. Silas und Stefan konnten von den Mädchen erfahren, dass sich alles so abgespielt habe, wie Svenja gesagt hatte. Die Deutschklasse von Rebecca Durrer schrieb an einer Klausur, weshalb auch Nik nicht mitbekommen hat, was sich auf dem Pausenplatz abgespielt hat. Rebecca hält Morena einen Kaffee hin, als diese müde das Lehrerzimmer betritt.
"Danke, meine Liebe." Morena setzt sich neben Alissia, Stefan und Silas. "Svenja?"
"Hat sich bereits wieder beruhigt. Von Drogen weiß sie nichts, habe jedoch gehört, dass Jovan mit solchen deale."
"Das hat meine Tochter heute auch gesagt. Er deale auch in Niederwil. Das müssen wir der Polizei melden."
"Muss Besenberger tun."
"Besenberger", Alissia verdreht die Augen, "Der wird gar nichts tun. Wie bei Kägi. Sandrine hat mir erzählt, dass bereits vier Mädchen nicht mehr in die Bibliothek gehen, vier aus den unteren Klassen."
Morena stellt ihre Tasse auf den Tisch. "Ich hatte keine Chance bei Enola. Die mauert. Wir müssen Gabi mit einbeziehen. Das Mädchen steht unter Stress; sie hat vor irgendwas Angst. - Und an Kägi bin ich dran. Im Informatikunterricht. Hat heute jemand Tanja gesehen? Ist sie hier?"
"Nein, sie fehlt."
Jemand klopft an die Tür. Die Lehrerin für Textiles & Technisches Gestalten öffnet, ein sehr bleicher Andrea Saba betritt schüchtern das Lehrerzimmer; in der Hand hält er seinen offenen Schulrucksack.
"Andrea, was ist denn mit dir los?" Christian ist hochgeschossen und eilt zu seinem Schüler, der ihm bloß den Rucksack hinstreckt.
"D-d-d-das g-g-gehört n-n-nicht mir, Herr Fehlmann", stammelt der Italiener und beginnt zu weinen.
Christian nimmt den Rucksack entgegen, wirft einen Blick hinein und reicht ihn an die Kollegin vom TTG weiter. Dann tröstet er seinen Schüler, begleitet ihn auf den Pausenhof zurück.
Im Rucksack befinden sich zwei Tüten Partydrogen. Sprachlos sitzen die Lehrerinnen und Lehrer um den Fund, der verführerisch bunt auf dem Tisch liegt.
"Wo ist Besenberger?", fragt Alissia als erste.
"Schulleitungs-Event auf dem Stoos, drei Tage Klausur für alle Leitungsmitglieder. Der kommt erst übermorgen zurück.
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