29. September

Freitag; der letzte Tag vor den Herbstferien. Die Stimmung in der Oberstufe ist weiterhin sehr gedrückt. Die lokale Zeitung hat über den Unfall und die Sabotage berichtet. Der Schulleiter verbringt einen großen Teil seiner Arbeitszeit mit Interviews und Elterngesprächen. Noch weiß niemand offiziell, wer die Bremsen an Laras Fahrrad sabotiert hat, doch hinter vorgehaltenen Händen flüstern es alle: Es war Enola. Sie streitet es vehement ab und beweisen kann es ihr niemand. Ihre zwei Freundinnen geben ihr ein stichfestes Alibi; sie haben ihre Reaktionen sehr gut abgesprochen und wissen genau, dass ihnen niemand etwas anhängen kann, wenn sie dichthalten. Sämtliche Anschuldigungen von anderen Schülern und Schülerinnen werden mit Drohungen zunichte gemacht.

Morena hält ihr Versprechen, aber sie ist müde. Sie freut sich auf die bevorstehenden zwei Wochen, in welchen sie sich auf ihre Familie konzentrieren und abschalten kann. Weil gerade in dieser Zeit umfangreiche und laute Umbauarbeiten im großen Magazin anstehen, haben Salvatore und sie beschlossen, mit den Kindern nach Italien zu fahren, in eine Gegend an der Adria, etwas südlich von Pescara. Zehn Tage in einem Bed & Breakfast direkt am Strand; sie kann es kaum erwarten.

"Frau Di Agostino; ich hab's - ich bin drin." Der freudige, mit Stolz vermischte Zuruf von Emir holt sie aus ihren Gedanken ins Schulzimmer zurück. In der Informatik hat sie dem Klassennerd den Auftrag erteilt, sich in die Überwachungskameras der Bibliothek zu hacken.

"Du bist drin? Wie hast du das angestellt?"

Emir blickt seine Lehrerin leicht mitleidig an und zuckt mit der Schulter. "Das verrate ich niemanden, Frau Di Agostino. Wenn ich das überall rumerzähle, könnte das ja jeder tun."

Sie legt ihm eine Hand auf die Schulter. "Da hast du recht; das verstehe ich. Also zeig mir, was du hast."

Emir zeigt ihr die zwei Bilder der Kameras in der Bibliothek. Man sieht die Regale und die Zwischengänge. Auf einem Bild ist im Hintergrund auch der Tisch sichtbar, wo Kägi arbeitet. Die Sitzgruppe liegt links davon. Das Bild ist scharf, aber etwas schlecht ausgeleuchtet. Morena weiß nicht, ob man darauf wird Details erkennen können.

"Kannst du die Kameras lenken, Aufnahmen machen oder können wir nur streamen?"

"Momentan können wir nur streamen. Steuern werden wir nie können; in dieses System komme ich nicht rein und die Kameras sind nur manuell einstellbar. Für Aufnahmen müsste ich eine Software aus dem Internet herunterladen, aber ich habe dazu keine Berechtigung, weil ich auf dem Computer hier keine Admin-Rechte habe."

"Wenn der Computer also auf dem Account eines Admins angemeldet wäre, könntest du die Software herunterladen?"

Emir grinst, weil er versteht, was seine Lehrerin ihm hier gerade vorschlägt. "Ja, Frau Di Agostino, das könnte ich. Aber das ist nicht legal." Ihren schiefen Blick deutet er richtig. "Ich wollte es Ihnen nur sagen; nicht, dass ich danach Probleme bekomme."

"Wirst du nicht, Emir. Könntest du bitte schnell Denis helfen gehen? Ich glaube, er hat sich wieder blockiert und kommt bei seinem Bewerbungsschreiben nicht weiter."

Emir steht auf und schlendert zu seinem Klassenkameraden; er setzt sich hin und löst das Problem mit wenigen Klicks und Passworteingaben. Als er an sein Gerät zurückkommt, ist Frau Di Agostino nicht mehr da, aber der Bildschirm ist eindeutig anders. Der Computer ist im Administratoren-Modus. Ohne nachzufragen beginnt er mit dem Download und der Installation der Software.

***

Das helle Zimmer von Gabi Suter ist gemütlich eingerichtet. Es gibt zwei Sitzmöglichkeiten, eine an einem runden Tisch mit vier Stühlen und eine mit zwei Sofas und einem Polstersessel. An der Wand stehen Regale mit Büchern; dazwischen gedeihen große, sehr gut gepflegte Pflanzen. Es ist ein Ort der Ruhe und des Vertrauens; das spürt man vom Moment an, wo man über die Schwelle tritt.

Gabi schaut Tanya an. Die Schülerin sitzt gekrümmt auf einem Sofa und sagt seit zehn Minuten nichts. "Ich mache mir Sorgen, Tanya. Du bist mir wichtig und ich sehe, dass dich etwas beschäftigt. Das macht mich nachdenklich und traurig."

Leichtes Schulterzucken und ein scheuer Blick sind die einzigen Reaktionen.

Was weißt du schon. Du kennst mich nicht. Du bist nicht meine Mutter und auch nicht meine neue Lehrerin. Du bist die Frau für die Gestörten. Ich bin nicht gestört. Du kannst mir nicht helfen. Ich brauche keine Hilfe.

"Darf ich gehen?"

"Bevor ich dich gehen lasse, möchte ich ein Versprechen von dir. Bitte sprich mit jemandem, wenn dich etwas belastet. Viele Menschen kümmern sich um dich. Sie sorgen sich um dich; also bitte sprich mit jemandem. Du kannst auch immer zu mir kommen; jederzeit. Nur bitte suche den Kontakt. Versprichst du mir das?"

"Ich verspreche es." Emotionslos steht sie auf und verlässt den Raum; sie sagt kein weiteres Wort. Kaum draußen steckt sie ihre Kopfhörer und die Ohrmuschel und dreht 'Zombie' von den Cranberries voll auf.

Gabi bleibt traurig auf dem Sofa sitzen. Sie schaut auf ihre Notizen und erkennt, dass Tanya sich offensichtlich immer mehr abschottet. Seit den leichten Fortschritten während der letzten Sitzungsphase hat sie sich stark verändert. Sie mauert und lässt niemanden mehr an sich heran. Es wird noch viele Sitzungen brauchen, um den Panzer eventuell zu brechen.

***

Alissia Disler besucht ihre Klasse im Informatikunterricht bei Morena. Auf einem hohen Tisch steht ein Laptop, die ganze Klasse steht im Halbkreis drumherum. Alissia stellt sich dazu. Morena stellt die Videokonferenz an. Auf dem Bildschirm sieht man Lara auf einem Sofa sitzend, wahrscheinlich bei sich zuhause. Sie winkt in die Kamera.

"Hey Leute! Hallo zusammen! Da seid ihr ja! Oh, Frau Disler - hallo!" Lara lächelt und winkt erneut. Alissia winkt zurück.

"Hey Lara! Zeig mal dein Gipsbein!", ruft Emir.

Lara lacht und schwenkt die Kamera. Ihre Schulter ist eingebunden und fixiert, ein Arm und ein Bein sind mit einem Gipsverband eingewickelt. Im Gesicht hat sie Schürfwunden an der Wange und auf der Stirn. Nach diesem 'Rundgang' über ihren geschundenen Körper stellt das Mädchen die Kamera wieder normal hin. "Ich hatte Glück. Schulter, Arm und Bein gebrochen; Hirnerschütterung und viele blaue Flecken und Schürfungen. Das ist alles."

"Klingt beschissen." - "Krass; wie Frankenstein." - "Hast du wenigstens Netflix?" Das sind die Bemerkungen und Fragen der Schülerinnen und Schüler. Dann plötzlich erklingt die Stimme von Sandrine: "Bist du wütend?"

Schlagartig sind alle ruhig. Lara denkt nach. Sie schaut kurz weg, dann wieder in die Kamera. "Ich war es, ja. Als ich erfahren habe, dass jemand an meinen Bremsen hantiert hatte, war ich unglaublich wütend. Ich hatte Kopfschmerzen davon, mich zu fragen, wer zu so etwas fähig wäre. Ich hätte sterben können; ich wurde fast wahnsinnig. Die Tage im Spital waren sehr hart. Einsamkeit. Schmerzen - außen wie innen. Schlaflosigkeit. Stumme Schreie. Aber jetzt? Nein, Bagnole, ich bin nicht mehr wütend. Ich will gesund werden und ich möchte der Person, die das war, gegenübersitzen und sie direkt fragen können, warum sie das getan hat. Ich möchte es verstehen können."

"Wow! Ich wäre unendlich wütend. Ich würde die Person verprügeln wollen. Du bist unglaublich, Lara." Sandrine hat Tränen in den Augen.

"Das wollte ich auch. Ich habe viel mit meinen Eltern geredet und Frau Suter war auch hier, zweimal. Ich habe meine Wut verarbeitet, sagt sie. Sie ist echt super, sage ich euch. Jetzt will ich nur noch gesund werden und wieder bei euch sein. Geht ihr in den Ferien weg?"

Es folgt ein reger Austausch zwischen den Jugendlichen. Sie erzählen sich ihre Ferienpläne und beneiden sich gegenseitig um die tollen Orte, wo einzelne hinfahren werden. Auch Morena und Alissia erzählen von ihren Plänen. Nach zwanzig Minuten, die sich wie ein kurzer Moment angefühlt haben, ist Lara zu müde. Sie verabschiedet sich und die Klasse bedankt sich bei den Lehrerinnen für diese Möglichkeit.

***

«Denn die letzte Tat, die hat ihr Leben gewendet. Das hat so ein großes Ausmaß, so groß, dass keiner es sich vorstellen kann. Außer die kleine Seele, die sie in sich trägt. Das kleine Etwas, das sich Herz nannte, hat seit dann an gelernt zwei Mal mehr zu schlagen, denn wenn sie nicht weiter geht, wer dann?»

So endet der Text mit dem Titel "Die Nacht, in der es geschah". Tanya schaut noch einmal drüber. Sie ist zufrieden. Der Schmerz ist da, doch ein Teil von ihm steckt nun in diesem Text, ist weg von ihr. Nie wird sie die Nacht vergessen, als ihr Vater nicht da war; als ihr Onkel auf sie aufpasste.

Die Berührungen in der Bibliothek haben die alten Wunden wieder aufreißen lassen. Ob sie vielleicht doch mit der Frau hätte reden sollen? Andererseits, die hofft auf ihre Mutter - und was hätte es gebracht? Die Frau hat keine Ahnung. Die neue Lehrerin vielleicht? Aber die Lehrer haben im Moment genug zu tun mit dem Chaos aus dem Wallis. Lara.

Tanya öffnet den Chat und schreibt Lara eine Nachricht. "Hey Sonnenschein, hoffe, es geht dir schon etwas besser. Habe in letzter Zeit oft an dich gedacht. Warst du drüben? Ist es schön dort? Ich werde deine Wut mitnehmen, damit du leben kannst. Freak"

Es dauert keine zehn Sekunden, dann leuchtet die Antwort. "Tanya? Alles gut bei dir? Bei mir kommt es schon wieder. Lust auf Reden?"

"Nein. Reden wird nicht gehört. Die Ohren sind zugeklebt, die Augen blind. Werde gesund, Kleines. Sei mein Schmetterling!"

Danach widmet sich Tanya wieder ihrem Text. Sie klickt auf 'Veröffentlichen'. Danach wählt sie die Option 'Veröffentlichung planen'. Sie stellt das Datum ein: 20. Dezember, Uhrzeit ... hier überlegt sie, dann stellt sie die Mittagsstunde ein und klickt auf die Bestätigungstaste.

***

Svenja und Nik haben sich seit dem Ausflug immer mehr zu erzählen. Sie sitzen auch nach der Schule noch auf den Bänken bei der Spielwiese oder auf der kleinen Brücke über den Bach. Heute haben sich auch Nubia und Sandrine zu ihnen gesellt. Sie diskutieren über ihr Dorf und darüber, wie die große Stadt so ist.

"Winterthur bietet dir einfach alles. Skateparks indoor und outdoor, Klettern, Schwimmen, Tanzen, Kinos, Restaurants und Bars. Im Sommer ist die Altstadt voller Menschen, alle sind draußen." Man spürt, dass Svenja ihre Jahre in der Stadt genossen hat.

"Und nun bist du hier und es hat nichts." Sandrine zeigt zur Unterstützung ihrer Worte auf die umliegenden Bauernhäuser. "Wenn du Unterhaltung willst, musst du nach Reinhof fahren, das ist der größte Ort in der Gegend und mit unserem Tram erreichbar. Ende Oktober, kurz vor Allerheiligen, findet dort die jährliche Halloween-Party statt. Viele von uns fahren hin. Kommst du mit?"

"Na klar, das klingt spannend. Hat es dort auch spannende Jungs?" Sie wirft einen verstohlenen Seitenblick zu Nik.

"Ich werde da sein. Aber ich weiß nicht, ob das dir hilft, Daenerys."

"You know nothing, Jon Snow."

Alle vier lachen. "Aus Nik wird dann einfach Kit", fügt Nubia an, was die Lacher zusätzlich anheizt. Nubia wuschelt Nik durchs Haar.

"Du solltest dir die Haare wachsen lassen. Das mit dem Bart wird noch länger dauern, schätze ich." Svenja liebt es, Nik zu ärgern.

"Ihr nervt! - Ehrlich, Svenja, wie fühlst du dich bisher an unserer Schule?"

"Uh, Themenwechsel. Was soll ich sagen? Ihr habt hier die gleichen Probleme wie überall, schätze ich. Die Bitches, welche versuchen, alle und jeden zu kontrollieren; die Nerds, die Coolen und die Fußballer. Was ich nicht begreife, ist, dass ihr euch von Enola und ihren Hexen so runterziehen lasst. Wie konnte sie so viel Macht erlangen?"

Die anderen drei blicken in die Wyna oder auf die weidenden Schafe gegenüber. Es ist Sandrine, welche sich als erste auf eine Antwort einlässt. "Sie droht mit ihrem Bruder. Und der kommt dann auch, mit den Cousins und seinen anderen Schlägern. Vor einem Jahr haben sie einmal Kristijan verprügelt, weil er im Fußballmatch gegen sie das Siegertor geschossen hat. Die fackeln nicht lange, die schlagen zu."

"Also ist es Angst. Das allein reicht aber nicht aus. Was ist es noch?"

"Drogen. Enolas Bruder ist der wichtigste Händler hier. Zu Beginn war Dario auch darin verwickelt. Aber er ist inzwischen raus." Nubia nickt zu Sandrines Worten und auch Nik bestätigt.

"Ihr habt einen Drogenring hier? Was für Drogen?"

"Hauptsächlich Gras, etwas Koks und Pillen. Partyzeugs. Enola hat, glaube ich, selbst Angst vor ihrem Bruder. Sie spielt manchmal den Spitzel."

"Gibt es auch Drogen an der Schule?" Svenja beginnt sich zu sorgen. "Bei uns in Winterthur konntest du vieles besorgen, wenn du die richtigen Namen kanntest. Die Polizei war oft zu Besuch."

Auf diese Bemerkung hin lacht Nik. Svenja blickt ihn fragend an. Die zwei anderen Mädchen schmunzeln und fordern ihn auf, zu erzählen. "Hier kommt die Polizei nur, wenn sie ein getuntes Mofa suchen. Das ist dann meistens meins oder das von Denis. Er musste schon einmal eine Nacht auf dem Posten schlafen, weil sie ihn spät in der Nacht mit über siebzig gestoppt haben und bei ihm niemand zuhause war."

Svenjas Handy piepst. Sie nimmt es zur Hand, kontrolliert den Bildschirm und zeigt es den anderen. "Wer ist Tanya? Sie möchte mit mir schreiben."

"Tanya?", fragt Nik nach. "Schreibe ihr zurück. Sie ist das größte Opfer der Schule. Sie wird von fast allen gemobbt, hat sich total abgeschottet und gilt als Freak. Aber sie ist eine tolle Schreiberin. Du solltest ihre Texte auf Wattpad lesen."

"Wo soll ich das lesen?" Das blonde City-Girl blickt fragend in die Runde, Sandrine und Nubia schmunzeln.

"Auf Wattpad. Kennst du nicht? Ich zeige es dir mal. Tanya postet dort ihre Texte und sie hat auch ein Kunstbuch, in welchem du ihre Bilder ansehen kannst. Sie malt genial! Da habe sogar ich keine Chance, und ich bin gut, wenn man glauben kann, was Snape sagt." Nubia weiß, dass sie sehr begabt ist, doch sie gibt sich bescheiden.

Svenja bestätigt die Anfrage; danach verabschiedet sie sich von ihren Freunden. Während sie nachhause trottet, denkt sie darüber nach, wie nett Sandrine und Nubia sind; sie denkt an Nik, schmunzelt; sie denkt aber auch an das mysteriöse Mädchen, das Texte schreibt, Bilder malt und sich ausgerechnet mit ihr austauschen möchte.

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