25. August
Die Stimmung im Lehrerzimmer ist am Freitagmorgen leicht angespannt. Verschiedene Meldungen über den neuen Bibliothekar sind an die Lehrpersonen herangetragen worden und niemand weiss so recht, wie man darauf reagieren soll. Morena hat den Schulleiter in die Pause bestellt.
"Hast du den Mann beim Amt überprüfen lassen?", fragt sie provokativ.
"Ja, das habe ich. Er ist nicht aktenkundig. Gegen ihn liegt nichts vor. Seine zeugnisse sind, wie ich euch schon gesagt habe, einwandfrei. Vielleicht übertreiben eure Schülerinnen auch einfach."
"Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst mehrere Meldungen aus verschiedenen Klassen ignorieren?"
"Gar nichts werde ich ignorieren, Frau Kollegin, aber wir brauchen stichhaltige Beweise. Das ist üble Nachrede."
"Du meinst, es muss zuerst zu einem sexuellen Übergriff kommen, bevor du etwas machst?" Morena ist wütend. Gabi fasst sie bei der Hand.
"Kägi hat noch Probezeit. Wenn an den Anschuldigungen etwas dran ist, können wir jederzeit für seine Entlassung sorgen."
"Für die Mädchen ist das keine Probe", murmelt Morena unverständlich.
"Geschätzte Kolleginnen und Kollegen. Es gilt die Unschuldsvermutung. Ich werde Kägi genauer beobachten und nochmals überprüfen lassen. Aber nun lassen wir ihn doch erst einmal diese Literaturwoche organisieren. Dann sehen wir bestimmt seine gute Seite und seine Qualitäten. Ich versichere euch, ich nehme diese Hinweise ernst und werde dran bleiben." Frank Besenberger verlässt das Lehrerzimmer.
***
Rebecca setzt sich nach der Pause zu Morena ins Klassenzimmer. Sie beide haben eine Freistunde, weil alle Klassen entweder Sport, Werken oder Hauswirtschaft haben. "Du bist sauer wegen dem neuen Bibliothekar, gibs zu."
"Natürlich bin ich sauer. Du nicht? Wir haben Hinweise, dass er unseren Mädchen zu nahe kommt und die Leitung will nichts unternehmen. Das macht mich unglaublich sauer."
"Ich kann dich verstehen. Doch ich muss dir etwas erzählen. Von früher."
Nun ist Morena gespannt, was das sein könnte. Sie setzt sich zu Rebecca an ein Schülerpult.
"Es war vor etwa acht oder neun Jahren. An unserer Schule arbeitete ein älterer Sportlehrer, er war kurz davor, in Rente zu gehen. Da beschuldigten ihn die Mädchen der Abschlussklasse, er hätte sie in der Umkleide der Badi beobachtet. Die Leitung reagierte sehr schnell, stellte ihn frei und informierte die Eltern sowie auch die Lehreraufischt in Aarau. Die Presse hat davon Wind bekommen, tagelang die Schule belagert, Mädchen und deren Eltern befragt. Es war in allen Zeitungen und sogar im Lokalfernsehen."
"Daran erinnere ich mich", erwähnt Morena. "Das war eure Schule? Der Name wurde nie erwähnt."
"Ja, das war unsere Schule. Der Kollege hatte keine Beweise, dass er es nicht getan hatte - doch ich glaubte ihm damals schon und tue es bis heute. Er musste vorzeitig in Rente, wurde unehrenvoll entlassen, mit einem lebenslangen Berufsverbot. Das hat ihn geknickt. Er lebt heute zurückgezogen auf dem Hügel über Niederwil, hat einige Schafe und einen Hund. Seine Frau hat ihn verlassen - nach mehr als vierzig Jahren glücklicher Ehe. Das muss man sich mal vorstellen. Immer wieder wird seine Scheune mit Anschuldigungen verschmiert. Die Mädchen haben später zwar zugegeben, damals gelogen zu haben, weil sie ihm eins auswischen wollten, weil er sie gezwungen hatte im kalten Wasser der Badi zu schwimmen. Aber der Schaden war angerichtet - die Gesellschaft vergisst nie, auch Lügen nicht."
"Und deshalb ist die Leitung heute vorsichtiger. Das kann ich verstehen. Trotzdem müssen wir die Sache ernst nehmen und untersuchen. Vor allem auch deshalb, weil es nicht nur Aussagen von Freundinnen aus einer Klasse sind, sondern Hinweise aus verschiedenen Klassen."
"Das ist richtig; und das ist ein wesentlicher Unterschied zu damals. Was schlägst du vor?"
"Ich habe eine Idee. Sie ist nicht ganz legal; aber ich sehe keine andere Möglichkeit."
Rebecca lächelt Morena an. "Doch Mafia! Ich wusste es!"
"Sei nicht albern", lacht Morena. "Welche Möglichkeiten haben wir in Informatik?"
"Du willst die Bibliothek überwachen?" Rebecca begreift schnell. "Unsere Nerds werden dich lieben. Es gibt Kameras in der Bibliothek, aber die sind nicht mit unserem System verbunden."
Morena zuckt mit den Schultern. "Ich sagte ja, es ist nicht ganz legal."
***
An der abendlichen Sitzung werden auch die Programme für den bevorstehenden Ausflug nach Fiesch besprochen. Wie vermutet haben die Schüler weniger nach ihren sportlichen Interessen, sondern vielmehr nach den Sympathien und Gruppenzusammensetzungen gewählt.
Besenberger ist noch immer sehr kurz angebunden, wortkarg. Die Anschuldigungen vom Morgen hat er noch nicht verarbeitet. Als erstes lässt er die Lehrpersonen frei diskutieren.
"Wir können nicht mit so vielen Schülerinnen und Schülern nach Ernen fahren. Erstens hat das Zentrum nicht so viele Fahrräder und zweitens wäre die Gruppe zu groß. Das wäre gefährlich; vor allem in der Abfahrt."
"Und wenn wir zwei Gruppen machen? Eine am Morgen und eine am Nachmittag?" Weil sich im Badminton so wenige eingetragen haben, könnte man die Begleitpersonen umteilen."
"Ich kann nicht Fahrradfahren; schon gar nicht mit Schülern."
"Mir ist das zu anstrengend. Ich würde lieber die Schwimmhalle betreuen."
So gehen die Voten hin und her. Morena lauscht und fühlt sich wie im Klassenzimmer. Diskussionen mit Lehrpersonen unterscheiden sich nur wenig von den Diskussionen mit den Schülern, denkt sie sich dabei.
Gegen Ende der Sitzung haben sie sich entschieden. Es gibt zwei Velogruppen. Eine fährt nach Ernen, also den Berg hoch, die andere folgt der Furkastraße bis zur berühmten Hängebrücke nach Mühlebach; etwas weniger anstrengend, dafür mit mehr Verkehr.
Es gibt Klettergruppen, Schwimmen, Beachvolleyball, Inlineskating und Slackline. Damit in jeder Gruppe mindestens zwei Begleitpersonen dabei sein können, wird man aus den Vereinen noch Freiwillige suchen. Zudem stellt das Sportzentrum Begleiter, die man gegen Bezahlung dazunehmen kann. Das wird für das Klettern und die Velogruppen gemacht. Im Hallenbad ist ein Bademeister anwesend, der ebenfalls mitarbeiten kann. Die Lehrerinnen und Lehrer freuen sich auf zwei abwechslungsreiche Tage.
Die Diskussion um Hin- und Rückfahrt ist nur kurz. Es hätte eine Zugverbindung, aber die dauert zu lange und das würde auf Kosten des Aufenthaltes gehen. Man einigt sich auf Reisebusse, die für die Schule mit Extratarifen nicht mehr teurer sind als die SBB, aber dafür deutlich schneller. zudem fahren sie bis vor die Haustür und umsteigen muss man nicht. Das ist mit etwa achtzig Jugendlichen ein riesiger Pluspunkt.
Als zweiter Punkt der Versammlung wird die Literaturwoche vorbesprochen.
Silas bietet einen Kunstkurs an, in welchem Texte illustriert und Covers erstellt werden.
Christian will mit den Jugendlichen Texte vertonen und einen Einblick in gute Filmmusik geben.
In Zusammenarbeit mit der Bibliothek sollen Textrezensionen erstellt werden; es werden Werbeplakate und Buchempfehlungen verfasst.
Freies Schreiben steht auch auf dem Programm, dort wird ein Romanautor aus der Region den Jugendlichen erklären, wie man aus einer Idee eine gute Geschichte formt.
Morena freut sich auf diese Woche, obwohl es dann fast keine Mathematik gibt. Sie wird in dieser Woche vor allem am Computer arbeiten, einen Literaturkurs leiten und Silas helfen, Cover zu erstellen. Zudem wird sie zusammen mit Madlene die Ausstellung planen und Plakate dafür herstellen lassen.
***
Nach dem Nachtessen setzen sich Salvatore und Morena noch auf die Terrasse. Sie hat ihm von den Anschuldigungen berichtet und auch davon, wie der Schulleiter darauf reagiert hat. Salvatore ist erstaunt darüber, dass in diesem Fall offensichtlich nicht korrekte Referenzen eingeholt worden sind.
"Weißt du, was mich immer wieder wütend macht? Nur, weil es in unserem Beruf gerade schwierig ist, Fachpersonen zu finden, stellt man einfach jeden an, der einmal zur Schule ging und nennt ihn Lehrer." Morena ist wütend.
"Da gebe ich dir recht, Principessa. Bei uns bleibt dann eine solche Stelle einfach unbesetzt und die anderen Angestellten müssen die Arbeit übernehmen, bis man jemanden gefunden hat. Das kenne ich echt nur aus dem Bildungswesen, dass man Personen nicht auf ihr Können, sondern nur auf ihre Papiere prüft. Stell dir vor, wie würden einen Studenten an eine mehrere Millionen teure Maschine stellen, bloß weil er ein Zeugnis aus einem Technikkurs mitbringt. Undenkbar."
"Ich sage dir, dieser Mann, den die Gemeinde hier angestellt hat, der ist gefährlich."
"Du könntest die Presse informieren; aber dazu müsstest du dir sehr sicher sein."
Morena schnaubt. "Ich weiß. Ich habe einen Plan. Einer unserer Schüler ist ein Genie am Computer, ein richtiger Hacker. Er wird versuchen, die Überwachungskameras der Bibliothek anzuzapfen."
Salvatore lehnt sich vor. "Wenn du dich da mal nicht in Teufels Küche begibst. Das ist doch sicher nicht legal, oder?"
"Er könnte ja zufällig auf eine offene Verbindung gestossen sein."
"Sieh bloß zu, dass ihr euch sehr gut absichert. Ich möchte dich nicht in Aarau besuchen kommen, meine Liebe."
Sie denkt kurz darüber nach, verwirft den Gedanken ans Gefängnis aber sofort wieder. "Keine Angst. Ich werde vorsichtig sein und auch meinen Schüler schützen. Man wird uns nichts nachweisen können."
Salvatore schüttelt den Kopf und lacht.
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