2. März
Sehr schnell hat man für den ausfallenden Kägi Ersatz gefunden. Frau Erika Märki stammt aus der Region, ist in Niederwil zur Schule gegangen und kennt die Eigenheiten des kleinen Ortes gut. Sie ist etwa Mitte fünfzig, ihre wachen Augen strahlen voller Tatendrang, das kurz geschnittene Haar erreicht kaum ihre Schultern. Sie trägt modische Kleidung, welche ihre überflüssigen Pfunde elegant kaschiert. Sie ist eine lebensfrohe Erscheinung, was von den Lehrpersonen dankbar aufgenommen wird.
"Ich plane vorab einen Buchclub für Jugendliche und vier saisonale Vorlesetage für die Kleinen. Zudem möchte ich zusammen mit den Schulen eine Zeitung herausbringen; gedruckt und digital. Wer von euch unterrichtet Deutsch?" Die warme, fast mütterlich klingende Stimme wirkt vertrauenserweckend, was sich auch an den freundlich zuhörenden Gesichtern ablesen lässt.
Rebecca hebt die Hand, einige andere auch noch. "Im Unterricht könnten wir die Texte erstellen und korrigieren. Im Informatikunterricht könnte die Zeitung danach veröffentlicht werden." Rebecca blickt Morena an, die freudig nickt. "Du wirst sehen, Erika, wir haben einige richtige Cracks hier, was die Informatik anbelangt."
Die Bibliothekarin lächelt. "Das höre ich gern, denn ich bin selbst nicht so gut darin. Vielleicht könnt ihr mir dann helfen, die Homepage neu zu gestalten. Sie wirkt etwas altbacken."
"Ich bin sicher, unsere Jungs werden sich darüber freuen. Es ist schön, dich hierzuhaben, Erika." Morena nickt zur Begrüßung kurz, andere machen es ihr nach. Die Dankbarkeit, das Kapitel Kägi nun endgültig abschließen zu können, ist im ganzen Raum spürbar. Besenberger sitzt schweigend in einer Ecke. Seine Traktanden der Sitzung hat er runtergearbeitet. Das Team duldet ihn, arbeitet pflichtbewusst mit, doch den Respekt hat er verloren. Ihm stehen schwierige Monate bevor, das spürt er.
Es scheint, als habe das Team gelernt, sich ohne Führung zu bewegen. Die Aufgaben und Planungen aller anstehenden Anlässe sind im Nu vergeben, niemand diskutiert lange. Das wichtigste Traktandum hingegen beschäftigt das Kollegium lange. Die Lehrerinnen der Oberstufe haben die Idee einer Projektwoche eingebracht. Ende Monat wollen sie die gesamte Schülerschaft des Standortes auf verschiedene Kurse verteilen.
Dazu haben sich alle Lehrpersonen Kursideen einfallen lassen. Als Oberthema der Woche dient der Slogan "Sinnvolle Freizeit für Kinder und Jugendliche in Oberwil". Planeingaben und Projektideen, welche finanzielle Folgen haben, liegen bereits beim Gemeinderat zur Begutachtung. Ein Großteil der Ideen ist noch nicht finanziell abgesichert. Das beunruhigt viele Lehrpersonen. Sie möchten nicht Vorarbeiten leisten, welche danach am Gemeindebudget scheitern. Morena lächelt, als sie die Kritik entgegennimmt und verspricht ihren Kolleginnen und Kollegen, einen Plan B zu verfolgen. Sie weiß, dass sie auf ihren Mann und den Gewerbeverein des Ortes zählen kann.
Ganz zum Schluss stellt Erika Märki noch die Idee eines Brunchs vor, den sie mit ihren Kolleginnen aus der Bibliothek veranstalten will. Einmal im Monat sollen die Türen der Bibliothek am Sonntagmorgen offenstehen, damit sich auch die Behörden von der wichtigen Arbeit vor Ort einen Eindruck verschaffen können. Die Idee wird wohlwollend aufgenommen, viele Lehrpersonen versprechen, sich ebenfalls daran beteiligen zu wollen.
***
Heute zeigt sich das Wetter von seiner besten Seite. Der Schnee ist längst wieder geschmolzen, in der zweiten Hälfte des Februars war es deutlich zu warm und regnete oft. Doch heute scheint die Sonne. Nubia und Sandrine stehen zusammen mit Morena und Salvatore vor den gewaltigen Einfahrtstoren, die früher in Feuerrot lackiert waren. Die Farbe ist nur noch entfernt zu erahnen, matt und ohne jede Leuchtkraft. Auf der rechten Seite hat es zwei mattgraue Rolltore, die eher für kleinere Fahrzeuge dienen.
Sandrine schießt die Bilder, welche Nubia verwenden wird. Ihre Freundin diskutiert mit den Besitzern über Gestaltung und Ausführung des Plans. Es soll ein Kunstprojekt werden, das von Nubia geleitet wird. Die talentierte Jugendliche kann ihr Glück kaum fassen. "Echt? Ich darf diese Tore neu gestalten? Ich darf Ihre Hausfront bemalen?"
"Ja, das haben wir doch ausgemacht, Nubia." Salvatore ermuntert sie. "Du machst die Pläne für diese zwei Tore rechts. Die beiden großen sind zugesperrt und werden noch mit Holz überdeckt. Sie werden dunkel gestrichen, damit sie hinter der falschen Fassade nahezu verschwinden. Die kleineren zur Rechten dienen uns jedoch als Garagenzufahrt und sollen als Blickfang gestaltet werden. Meine Frau hat mir gesagt, du habest Talent. Deshalb lassen wir dich nun erst einmal planen. Wenn uns die Pläne gefallen, dann darfst du den Auftrag ausführen."
Nubia zieht die Mundwinkel zur Seite, kleine Grübchen entstehen; ihre dunklen Augen verraten ihre Freude. "Ich habe da auch schon eine Idee; ich werde Sie nicht enttäuschen. Bis wann möchten Sie die Entwürfe haben?"
"Bis Ende März wäre super", erklärt Morena. "Dann haben wir genügend Zeit für die Ausführung; wir wollen bis zum Sommer mit allen Arbeiten fertig sein. Wir haben uns ein Jahr Bauzeit gegeben, das würden wir gerne einhalten."
"Kein Problem, das schaffe ich. Bagnole hat Fotos gemacht, ich werde alles ausmessen und mich sofort an die Entwürfe machen." Ihre Gesichtszüge werden kurz trauriger. "Schade, kann Tanya nicht mitmachen. Sie hätte bestimmt auch tolle Ideen gehabt."
"Wir haben auch für sie einen Plan. Der Bauer, dem die Scheune gehört, will daraus eine Art Museum machen. Aber diese Pläne sind noch geheim", flüstert Morena und Nubia beginnt wieder zu lächeln. Es wird ihr warm ums Herz beim Gedanken, dass die Bilder nun doch ein Zuhause finden werden.
"Und mache dir keine Gedanken zu den Kosten. Die sind gesichert, außer du verwendest Gold und Edelsteine - dann müssten wir mit deinen Eltern über Kostenteilung diskutieren." Salvatore gibt sich Mühe, ernst zu bleiben, doch es gelingt ihm nicht. Sandrine krümmt sich vor Lachen.
"Sie sind in Ordnung, Herr Picci. Ich habe bisher keinen Chef kennengelernt, der solche Sprüche verbreitet." Im Nicken ihrer Lehrerin erkennt Bagnole, dass sie wohl den Nagel auf den Kopf getroffen hat.
"Ist es möglich", erkundigt sich Nubia, "die Tore bis Ende März bereits fachmännisch grundieren zu lassen? Ein neutrales, helles Grau wäre super; damit könnte man danach arbeiten und die Grundierung könnte richtig austrocknen."
Salvatore nickt. "Ja, daran haben wir auch schon gedacht. Der Auftrag ist bereits vergeben. Wenn du möchtest, darfst du dich mit dem lokalen Malergeschäft in Verbindung setzen und über den Farbton der Grundierung diskutieren. Uns spielt das keine große Rolle, weil das Tor anschließend bunt wird. Der Malermeister weiß, dass du dich eventuell melden wirst."
"Ich danke Ihnen für das Vertrauen und diese einmalige Gelegenheit. So ein großes Projekt hatte ich bisher noch nie. Ich werde das in meinem Portfolio ablegen, damit ich es auch bei Bewerbungen zeigen kann. Ich freue mich sehr darauf."
Morena blickt ihre beiden Schülerinnen freundlich an. "Das spürt man, Brownie. Wir freuen uns auch. Bagnole, wirst du in der neuen Schülerzeitung darüber berichten?"
"Aber sicher, Frau Di Agostino - oder heißt es Picci? Ich bin etwas verunsichert." Sie blickt abwechslungsweise zu Salvatore und zu ihrer Lehrerin.
"Es heißt Picci!" Carla nähert sich mit dem Fahrrad. "Was wird das hier?" Sie stellt ihr Rad neben die Hecke und schlendert zu ihren Eltern und den Mädchen.
"Hallo Carla, schön, dich wiederzusehen. Ich darf das Tor eurer Garage bemalen!"
Nun beginnt Carla zu strahlen. Sie erkennt Nubia sofort wieder. "Wow, du bist das? Ich wusste, dass meine Mutter einen Plan hatte, doch ich wusste nicht, dass du damit gemeint bist. Sehr cool! Wenn ich darf, helfe ich mit."
Nubia lacht und begrüßt die Tochter des Hauses mit einer kurzen Umarmung. "Aber sicher darfst du das! Sobald ich meine Entwürfe fertig habe, zeige ich sie dir."
Morena ist glücklich und auch etwas stolz darauf, ein erstes Projekt zu sinnvoller Freizeitgestaltung gleich an ihrem Gebäude umsetzen zu können.
***
Am Abend nimmt Salvatore seine Frau an die Sitzung des Gewerbeverbandes mit. Anwesend sind die Führungspersonen sämtlicher Industrie- und Gewerbebetriebe der Gemeinde. Morena soll ihre Ideen präsentieren. Sie ist sehr nervös, als sie vor diesem ungewohnten Publikum zu reden beginnt, doch bei jedem Stocker wird sie von Salvatore unterstützt und er übernimmt zwischenzeitlich.
Die Ideen treffen auf offene Ohren. Die Gewerbetreibenden sind an zukünftigen Lehrlingen interessiert und begreifen, dass die Gemeinde attraktiver werden muss. Zudem erkennen sie, dass sie die Metallarbeiten, die Gebäudesanierungen, die Schreinerarbeiten und einige Aufgaben mehr werden übernehmen dürfen. Ihnen fallen somit auch Aufträge zu, welche sie teilweise sogar mit der Gemeinde werden abrechnen können. Die restlichen Arbeiten werden die Gewerbebetriebe als Spende abbuchen. Jene Betriebe, die sich nicht handwerklich beteiligen können, sichern dem Projekt eine finanzielle Unterstützung zu. Am Ende der Sitzung sind fast alle Ideen unter Dach und Fach, zumindest was die Kosten betrifft.
Für den Jugendtreff hat die Bahn das alte und nicht mehr benutzte Bahnhofsgebäude zur Verfügung gestellt. Es ist ein schmuckes, kleines Fachwerkhäuschen, zweigeschoßig. Unten hat es Platz für einen Billardraum und ein Spielzimmer mit Tischen und Computern. Oben sind eine Lounge, ein Essraum und die Küche geplant. Im angebauten Schopf kann ein kleiner Discoraum eingerichtet werden.
Der Besitzer der Sägerei hat einen Teil seiner ältesten Lagerhalle, eine etwas größere Doppelgarage, als Werkstatt für ein Time-out-Projekt gespendet. Er bleibt weiterhin der Besitzer, doch die Halle darf kostenlos umgebaut und benutzt werden. Es gibt sogar einen kleinen Waschraum mit Toilette und ein winziges Büro, das im Winter beheizt werden kann. Die Halle ist sehr hoch, so dass ein Zwischenboden eingezogen werden kann, um Lagerplatz für Einzelteile zu erstellen.
Morena ist mehr als glücklich, als sie mit ihrem Mann heimwärts geht. Sie schlendern der Wyna entlang und genießen den kalten aber trockenen Winterabend. "Vielen Dank, dass du meine Projekte mit so viel Engagement unterstützt", gemütlich lehnt sie den Kopf an seine Schulter. Er legt seinen Arm um sie, zieht sie näher zu sich heran.
"Du und deine Freundinnen, ihr versucht aus dem verschlafenen Dorf hier etwas zu machen. Ihr bewegt die trägen Menschen, das tu allen gut. Davon wird auch das Gewerbe profitieren können. Stell dir vor: In meiner Glasi bilden wir noch immer keine Lehrlinge aus. Ich habe keine Ahnung, weshalb das so ist. Wir könnten Lernende in der Logistik, im Büro und auch in der Glasbearbeitung anstellen; die Firma wäre groß genug. Für mich sind das Zeichen, dass in diesem Dorf die Jugendarbeit zu kurz kommt. Ich bin dran, mit einigen Kollegen aus dem Gewerbe, das Angebot an lokalen Lehrstellen deutlich zu erhöhen. Ihr habt uns dazu ermutigt, unseren Anteil an der Verantwortung zu übernehmen."
Morena lächelt zufrieden. "Wir bewegen wohl beide etwas. Hättest du dir das so vorgestellt, vor einem Jahr, meine ich?"
"Ehrlich? Nein. Ich hatte Angst davor, dass du und unsere Kinder euch hier langweilen könntet. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ihr euch wohl fühlt." Arm in Arm folgen sie dem schmalen Weg zur Brücke, die sie nachhause führt. Unter ihnen rauscht der Bach, eine feine Spur von Nebel in die bitterkalte Luft aufsteigen lassend.
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