19. September
Beim Frühstück herrscht schläfrige Teenagerruhe. Bunte in Hoodies und Trainerhosen gehüllte Murmeltierchen mit kleinen Augen schlurfen zur Selbstbedienungstheke und greifen nach Milch, Kakao oder Kaffee. Einige nehmen sich auch noch eine Scheibe Brot, doch niemand redet viel; die meisten blicken nur stumm in ihre Handys.
Alissia Disler und Silas Marder versuchen, die Jugendlichen mit Sprüchen über das Wetter, das Programm oder die Wanderung von gestern aufzumuntern und für den Tag zu motivieren. Sie ernten meist nur mitleidige Augenroller oder Kopfschütteln.
"Guten Morgen Schlafmützen! Seid ihr bereit für die Sportaction von heute? - Das wird der Hammer, ihr werdet schon sehen." Alissia stellt sich zwischen die Tische, sie hat einen Zettel in der Hand. Hinter ihr schleichen Rebecca, Stefan und Morena zur Kaffeemaschine; sie sehen wenig besser aus als die Jugendlichen.
"Mann, Frau Disler, wie können Sie so kurz nach Mitternacht schon wieder so fit sein?"
"Nennt sich 'schlafen', Sandrine. Schon ausprobiert?" Alissia strahlt die Schülerin an.
"C'est trop! Où est mon lit? - Ich will zurück in mein Bett."
"Nichts da - jetzt, nach dem Frühstück passiert Folgendes: Alle Velogruppen treffen sich bei den Garagen neben dem Haus "Alpenblick" - das ist das Haus der 2. OS. Dort bekommt ihr eure Fahrräder; sie werden auf eure Größe eingestellt.
Alle anderen holen ihre Sportkleider und treffen sich unten, bei der Kletterwand. Dort werdet ihr in die Gruppen aufgeteilt und geht dann zu eurem ersten Programm. Um zehn und am Mittag könnt ihr die Gruppen wechseln, wenn ihr noch etwas anderes ausprobieren wollt. Die Velogruppen werden etwa um halb zwei zurück sein.
Danach bleibt euch genügend Zeit, eigene Dinge zu tun und euch etwas auszuruhen. Habt ihr Fragen?"
"Darf man sein Handy anlassen heute?"
"Ja, das dürft ihr; wenn ihr trotzdem gut mitmacht, okay?"
"Cool, dann können wir kleine Filmchen vom Klettern machen. Danke, Frau Disler." Sie schmunzelt. Dass sie das Thema längst mit ihren Kolleginnen und Kollegen besprochen und die Reaktion auf diese Frage festgelegt hat, wissen die Schülerinnen und Schüler nicht.
"Okay? Also dann, Velofahrer zur Garage, alle anderen auf die Zimmer. Zähneputzen und bereit machen. Bis dann!"
Alissia tänzelt zum Lehrertisch. "Mann, ihr drei seht beschissen aus! Harte Nacht gehabt?"
"Einen trifft es immer, Alissia. Diese Nacht waren es wir drei. Danke, dass du so motiviert bist und das Management übernimmst", antwortet Rebecca.
"Kein Thema. Ich geh dann mal zu den Fahrrädern. Kein Stress, Stefan, das schaffe ich schon; Snape ist ja auch noch da."
Stefan schmunzelt darüber, dass Alissia, der kleine Wirbelwind, den großen, schlaksigen Kunstlehrer mit dessen Übernamen anspricht. Die beiden gäben ein lustiges Paar, denkt er sich. Doch dann ist die Kaffeetasse bereits wieder interessanter.
Bei den Fahrrädern haben vier Betreuer des Sportzentrums die Leitung im Griff. Die Jugendlichen stehen in geordneten Gruppen und warten ruhig, bis sie an der Reihe sind. Die jungen Männer hantieren mit Werkzeug; sie stellen die Fahrräder ein und kontrollieren noch einmal sämtliche Funktionen.
Livia steht etwas abseits und schaut dem Treiben zu. Sie wartet auf eine Freundin, die sich fürs Biken eingetragen hat. Zufällig sieht sie Lara ihr Fahrrad entgegennehmen; sie merkt sich genau, wo sie es hinstellt. Dann eilt Liv zu ihren Freundinnen ins Zimmer.
"Leute, ich weiß, welches Velo Lara gehört."
Enola und Effie schauen sie erfreut an. Zu dritt schleichen Sie sich nach draußen. Selina schaut ihnen fragend nach und putzt die Zähne. Das Treiben im Haus ist laut und wirr. Schüler rennen umher, holen Dinge, die sie vergessen haben und legen Sachen in die Zimmer zurück, die sie nicht brauchen.
Die Zimmer der Jungs sind mit Krümeln der Mitternachtssnacks überstreut, die Kleider liegen auf unordentlichen Haufen oder zufällig irgendwo; die Luft riecht abgestanden, nach Schweiß und ungewaschener Wäsche; der CO2-Gehalt ist deutlich zu hoch.
In den meisten Mädchenzimmern sieht es unwesentlich aufgeräumter aus, doch die Luft ist bereits ausgetauscht worden, indem die Fenster offenstehen. Dafür breiten sich unterschiedlich süße Düfte von zu viel Deo aus, füllen Schlafräume und diffundieren in den Flur, wo sie sich mit den Gerüchen aus den restlichen Zimmern mischen.
***
Die zwei Velogruppen haben sich bereits an der Hauptstraße aufgeteilt. Während eine Gruppe der Talstraße in Richtung Goms und Furkapass folgt, biegt die "Bike-Extrem-Gruppe" auf eine Nebenstraße, die zuerst zur Rhone, die hier noch Rotten heißt, runtergeht. Auf der kleinen Brücke über den wilden Bach halten sie kurz an, damit die Jugendlichen Fotos machen können.
Danach beginnt der Aufstieg. "Hört mir gut zu!", ermahnt sie Stefan, "Im Aufstieg dürft ihr vorneweg fahren, wenn ihr schneller seid als ich. Ihr könnt nichts falsch machen, es ist der einzige Weg. Irgendwo da oben treffen wir auf die Straße, wo auch das Postauto fährt. Dort müsst ihr euch rechts halten und vorsichtig sein; ihr kommt dann nach wenigen Kurven ins Dorf. Beim Brunnen mitten in Ernen treffen wir uns. Teilt eure Kraft gut ein - es ist ein langer Aufstieg; und schieben gilt nicht. Viel Spaß!"
Die Jungs schießen los, als wären sie bereits mitten im Endspurt. Die Mädchen gehen es gemütlicher an und plaudern, lachen. Stefan und Silas stehen noch einen Moment auf der Brücke. "Machst du den Lumpensammler, Silas?"
"Aber klar doch, du Rowdy. Hol sie dir!"
"Danke!" Stefan ist bereits einige Meter weggefahren, als er den Dank seinem Kumpel zuruft. In beeindruckend schneller Fahrt überholt er Schülerinnen und Schüler, stößt näher zu den Führenden vor. Silas schüttelt den Kopf, steigt auf sein Bike und radelt los.
***
Die andere Gruppe erreicht die Abzweigung zur Hängebrücke. Die Fahrt war nicht sehr anstrengend, aber die vielen Autos und vor allem die rasenden Motorräder, die überholen, als wäre die Passstraße für sie reserviert, waren gefährlich. Morena und Dominic sind froh, alle Schülerinnen und Schüler heil bis zur Abzweigung gebracht zu haben. Sie legen eine kurze Trinkpause ein. Die Jugendlichen sind fröhlich, schwatzen wirr durcheinander und machen Witze.
"Haben Sie gut geschlafen, Frau Di Agostino?"
"Ja, etwas kurz, aber gut. Ihr?"
"Bei uns im Zimmer war schon bald Ruhe. Eigentlich hätten wir durchmachen wollen, aber irgendwie sind wir alle eingepennt."
"Seid froh darüber; so könnt ihr den heutigen Ausflug besser genießen." Morena lacht und trinkt etwas Wasser aus ihrer Sportflasche.
"Das stimmt. Es ist herrlich hier."
"Wartet, bis wir die Hängebrücke erreichen. Die ist echt der Hammer!"
Nach der Pause fahren sie die wenigen hundert Meter bergan auf dem Wanderweg, der zur Brücke führt. Als sie die Schlucht erreichen, jauchzen die Jugendlichen begeistert und nervös. Die etwa anderthalb Meter breite Brücke aus Seilen und Holzbrettern ist 280 Meter lang und baumelt rund neunzig Meter über dem schäumenden Fluss. An einem sonnigen Tag wie heute ein Spektakel sondergleichen.
"Sie, ist das sicher?"
"Aber klar doch. Wer nicht schwindelfrei ist, soll sich gut festhalten."
Die Jugendlichen betreten die Brücke; einzelne mutig jubelnd, andere vorsichtig, sich überall festhaltend. In der Mitte der Brücke, an der höchsten Stelle, wird Morena von einer Mädchengruppe angehalten.
"Dürfen wir ein Selfie machen mit Ihnen, Frau Di Agostino?"
"Aber sicher!" Sie stellt sich in die Mitte, alle smilen oder machen ein Victory-Zeichen.
"Cool! Die mutigen Girls auf der Himmelsbrücke! Danke, Frau Di Agostino."
"Ihr schickt es mir auch, okay?"
"Klar, schon unterwegs."
Morena lächelt; die Brücke beginnt zu schaukeln, die Mädchen kreischen. Einige Jungs haben gemerkt, dass die Brücke stärker schaukelt, wenn sie alle gleichzeitig hüpfen. Dominic ist schon bei ihnen und erklärt ihnen ruhig, dass sie es lassen sollen, weil die Brücke sonst zu stark schwingen könnte.
"Sollen wir noch ins Dorf Mühlebach fahren? Es ist nicht weit, geht aber etwas bergan", fragt Morena die Gruppe. Zur Bestätigung erhält sie begeistertes Jubeln; also holen sie ihre Fahrräder, schieben sie über die Brücke und fahren los.
Dominic fährt vorneweg, Morena schiebt ihr Rad mit den Mädchen, die es nicht schaffen, den steilen Weg zu radeln. Unter diesen Mädchen ist auch Petra, Tanyas Freundin. Morena beginnt ein freundschaftliches Gespräch mit ihr.
"Gestern war hart für dich. Geht es deinen Füßen wieder besser?"
"Ja, danke. Die Salbe hat geholfen. Ah ja, ich muss sie Ihnen noch zurückgeben."
"Eilt nicht. Wie gefällt es dir bisher?"
"Super. Der Gletscher gestern war cool! Und diese Brücke ist wirklich genial. Schade nur, dass Tanya nicht hier ist."
"Finde ich auch, ja. Weißt du, warum sie nicht mitgekommen ist?"
"Erzählen Sie das weiter?"
"Nur, wenn ich muss. Wenn es für Tanya gefährlich wird, muss ich es erzählen. Aber ich würde es nur Frau Suter berichten, einverstanden?"
"Gut; Frau Suter weiß es schon. Alles; wir waren zusammen bei ihr, Tanya und ich. Es ist schlimm, müssen Sie wissen. Wir sind voll die Außenseiter. Die anderen mobben uns, wo sie nur können."
"Aber du kommst besser klar damit?"
"Tanya hat keinen Vater mehr. Ihre Mutter schläft dauernd, weil sie so viel säuft. Sie ist arbeitslos. - Wussten Sie, dass Tanya genial zeichnen kann?"
"Ja, das hat Snape mir erzählt. Ich würde gerne ihre Zeichnungen sehen."
"Sie müssten ihr Zimmer sehen. Alles voller Zeichnungen. Einzelne Werke stellt Tanya auch ins Netz; sie ist da ziemlich gut drin."
"Oh, diesen Link muss du mir geben, das möchte ich gerne sehen."
"Haben Sie Insta?" Petra blickt Morena fragend an.
"Ja, sicher. Ich habe drei Kinder, da muss ich Insta haben."
Petra lacht. "Wie sind Ihre Kinder so?"
"Laut, lustig und anstrengend - aber ich liebe sie."
"Sind sie an unserer Schule?"
"Die Kleinen ja, die Große ist in Niederwil."
Petra schnaubt. "Bei den Gescheiten."
***
Auf den Beachvolley-Feldern herrscht frohes Treiben. Die Teams haben ein Turnier gestartet und spielen um Süßigkeiten als Hauptpreis. Effie und Enola liegen gut im Rennen; sie könnten noch aufs Siegertreppchen kommen oder gar gewinnen. Der Ehrgeiz hat sie gepackt und sie strengen sich richtig an. Liv hingegen liegt mit Selina weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Sie haben die Lust am Spiel verloren und machen dafür die Fotos.
In den Spielpausen sitzen sie jeweils alle vier zusammen, obwohl Selina sich nicht sehr wohl fühlt in der Gruppe. "Was habt ihr mit Laras Velo gemacht?"
"Nichts. Die Bitch wird ihren Tag nicht genießen können." Darauf kichern die aufgedrehten Girls laut und klatschen sich ab.
Selina bekommt es mit der Angst zu tun. Sie weiß nicht, ob sie mit Frau Disler sprechen soll oder nicht. Sie hat ja nichts beobachtet, aber sie befürchtet Schlimmes. "Ich muss mal aufs Klo", sagt sie, doch die anderen haben sie nicht gehört und drehen sich nicht um, als sie weggeht.
Bei der Kletterwand trifft sie auf Alissia Disler, die gerade einem Jungen erklärt, wie er wieder runterkommen kann. Der ungeschickte, übergewichtige Knabe hat weit oben in der Wand Panik gekriegt. "Alles in Ordnung, Marcel. Einfach loslassen. Ich halte dich!"
"Ich bin zu schwer für Sie; ich bleibe besser hier. Grüßen Sie meine Eltern."
"Das werde ich nicht tun. Aber ich binde das Seil hier fest, komme zu dir hoch und prügle dich runter, wenn du möchtest!"
"Sie halten mich? Versprochen?"
"Versprochen!"
Alissia hat das Wort noch nicht ausgesprochen, als der Junge einfach loslässt und ungebremst ins Seil fällt. Sie wird kurz etwas hochgehoben, hat ihn dann aber im Griff. Sanft gleitet er bis auf den Boden, landet mit zittrigen Knien.
Alissia klopft ihm auf die Schulter. "Siehst du? War doch nicht schlimm. Hey - gut gemacht. Schau hoch! Dort oben warst du! Super!"
Dann bemerkt sie Selina. "Auch mal versuchen?"
"Nein, danke. Kann ich mit Ihnen reden, Frau Disler?"
"Worum geht's denn? - Okay." Alissia nickt dem Kletterführer zu, er bestätigt, alles im Griff zu haben. Dann macht sie sich vom Seil los und geht mit Selina etwas abseits. Sie setzen sich auf Betonpoller beim Parkplatz.
"Also, was ist so dringend?"
"Es geht um Enola und die Bodyguards." Alissia schmunzelt. "Also, vorhin, als wir noch packen mussten, da gingen alle drei weg. Sie wollten zu Laras Fahrrad."
Nun ist Alissia alarmiert. "Lara ist in der Gruppe Ernen. Was weißt du?"
"Ich weiß nichts; aber sie lachen dauernd darüber, dass Lara den Tag nicht wird genießen können. Ich habe Angst, Frau Disler. Ich wollte erst nicht tratschen, aber die haben irgendwas gemacht."
"Du hast richtig gehandelt. Ich werde Herrn Roos anrufen und ihm sagen, er soll das Fahrrad kontrollieren. Danke, dass du zu mir gekommen bist."
"Bitte sagen Sie nichts zu den Mädchen. Sonst bin ich das nächste Opfer."
"Abgemacht. Danke nochmals." Alissia nimmt ihr Mobiltelefon und wählt Stefans Nummer.
***
"Also Leute - jetzt hört mir sehr gut zu, bitte! Die Abfahrt ist gefährlich. Aber sie ist auch genial schön, ihr werdet sehen. Wir folgen diesem Landwirtschaftsweg. Es ist eine Betonpiste, die sehr steil nach unten führt. Bitte fahrt vorsichtig. Ich möchte niemanden vom Belag kratzen müssen."
Die Schülerinnen und Schüler kichern, aber mehr aus Respekt vor dem Weg, den sie bereits sehen können und der tatsächlich sehr steil abfällt.
"Überschätzt euch nicht und haltet Abstand. Herr Marder, der Harleyfahrer, fährt vorne. Niemand überholt ihn. Keine Angst, er gibt ordentlich Gas. Wenn er zu schnell für euch ist, versucht nicht, ihm zu folgen. Es ist kein Wettrennen - wir wollen das genießen. Los geht's. Snape - Abfahrt!"
Silas donnert los, die Jugendlichen jauchzen, als sie seine langen schwarzen Haare unter dem Helm flattern sehen. Einer nach dem andern folgt ihm, alle sind adrenalingeladen. Mitten in der Gruppe fährt auch Lara lachend weg. Stefans Handy klingelt.
"Alissia! Du hast Nerven. Wir wollen grad runterdonnern!"
"Stefan - wo ist Lara?"
"Soeben losgefahren, warum?"
"Nein! Bitte nicht! Du musst sie einholen und anhalten. Bitte, es ist wichtig! Enola und ihre Bitches waren an Laras Velo."
Stefan wird es schwindlig. "Nicht dein Ernst. Woher weißt du ..."
"Fahr los! Wir reden nachher!"
Stefan verstaut das Telefon und fährt los. Das Fahrrad zittert, der Belag ist unruhig, doch er hat es perfekt im Griff. Linkskurve, Rechtskurve, vorbei am Heuschober, die Schafe auf der Weide als weiße Punkte. Die steilste Stelle. Dann verlangsamt sich seine Wahrnehmung. Von weitem kann er eine Schülergruppe stehen sehen; Punkte, die hysterisch herumrennen. Einige Fahrräder liegen im Gras, neben etwas Dunklem, das wie ein gekrümmter Körper aussieht.
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