11. September

Montag. Fünf Uhr in der Früh. Eine Hand tappst nach dem Wecker, der die Ruhe des nahenden Sonnenaufgangs scheppernd stört. Aus dem Kissen hebt sich ein dunkler Wuschelkopf, ein zerknittertes Gesicht mit sehr kleinen Augen. Morena gähnt und streckt sich, Salvatore dreht sich ihr zu.

"Ich sehe dir immer wieder gerne zu, wie du dich nur schwer aus dem Bett krümelst", flüstert er lächelnd. Zur Antwort trifft ihn das Kissen mitten ins Gesicht. Er wirft es zurück, als sie zur Dusche schleichen will.

Sie dreht sich um, lächelt schelmisch. "Du willst eine Kissenschlacht? Um fünf Uhr morgens? Du wirst verlieren, das weißt du."

"Geh duschen."

"Kommst du mit?"

"Zu früh!" Das Kissen fliegt wieder in seine Richtung.

Nur eine halbe Stunde später sitzt Morena bereits im Schulzimmer, mit einer großen Tasse Kaffee neben sich stehend. Sie bereitet letzte Dinge der beginnenden Woche vor. Zwei Prüfungen stehen an, mit der Siebten und mit der Neunten. Da Morena nie mit den Parallelklassen exakt die gleiche Prüfung macht, muss sie vier Prüfungsblätter erstellen.

Morena arbeitet gerne im leeren Schulhaus. So kann sie die Infrastruktur nutzen und hat trotzdem ihre Ruhe. Am Morgen hört sie gerne ruhige Musik, auch eher leiser als am Abend. Sie spürt Bewegung an der offenstehenden Tür und blickt auf.

Die Sportlehrerin Alissia Disler strahlt bereits wie ein Sonnenschein. "Hast du kurz Zeit?"

"Aber klar, komm herein." Morena setzt sich an einen Schülertisch, die Kaffeetasse nimmt sie mit. Alissia nimmt ihr gegenüber Platz; auch sie hat eine Latte Macchiato dabei.

"Ich möchte mit dir kurz über meine beiden Mädchen reden. Besenberger will heute Abend eine Konferenz machen und ich muss mit den Mädchen vorher reden; so hat er es mir in einer Mail am Wochenende mitgeteilt. Nun sollte ich dich fragen, ob du eines der Gespräche übernehmen könntest; gleichzeitig. So können sich die Mädchen nicht absprechen und wir erhalten ein besseres Bild dessen, was vorgefallen ist."

"Ja, die Einladung zur Sitzung haben wir auch erhalten. Dass du aber mit den Girls reden musst, auf Anordnung, das ist eher seltsam. Ich meine, es ist doch klar, dass wir mit ihnen reden. Unter uns - ich mag sie! Und ich mag auch die Aktion; ich hatte Gänsehaut, als die Ladies Besenberger haben stehen lassen." Morena nimmt einen Schluck Kaffee; Alissia schmunzelt.

"Ja, ich auch. Ich fand's großartig. Sie fühlten sich von uns alleingelassen und haben spontan die Führung übernommen." Alissia lacht kurz, "Männer werden es mit ihnen nicht leicht haben - und das ist voll in Ordnung so. Ich glaube, diese Aktion war nicht geplant. Ich denke, sie haben sich durch ihre Kleidung eine Reaktion erhofft, die wir ihnen nicht gegeben haben."

Nickend zeigt Morena Zustimmung. "Gut, reden wir mit ihnen. Welche möchtest du? Ich kenne Nubia kaum, bei mir ist Sandrine aktiver, obwohl sie mit Mathe nicht wirklich klarkommt."

"Dann rede ich mit Nubia und du mit Sandrine, okay? Vielen Dank, dass du mir dabei hilfst. Snape ist da keine große Hilfe."

"Da könnten wir uns aber irren. Ich denke, in dem malenden Rocker steckt mehr, als er zeigen will. Wie habt ihr die Klassenlehrerfunktion aufgeteilt?"

"Er kümmert sich um alle administrativen Aufgaben; Listen, Zeugnisse, weiß der Geier was. Ich führe die Gespräche und begleite die Kids, wenn sie Probleme haben. Elterngespräche führen wir gemeinsam."

Nun schmunzelt Morena. "Das stelle ich mir lustig vor, wenn die Eltern an ein Gespräch kommen müssen, und ihnen ein Model und ein Rocker gegenübersitzen. Snape und du gebt ein amüsantes Bild ab."

"Das stimmt, aber mit seiner tiefen Stimme und durch seine Größe macht er Eindruck. Noch nie hat es ein Vater gewagt, ihm zu widersprechen. Das ist jeweils auch sehr spannend. Ich allein hätte niemals die gleiche Autorität."

"Kenne ich. Väter, die uns Lehrerinnen sagen wollen, wie wir unsere Arbeit zu erledigen hätten." Morena seufzt und verdreht die Augen. Alissia verabschiedet sich dankend, dann kann Morena wieder zu ihren Matheprüfungen zurück.

***

Es ist ein schlicht eingerichteter Gruppenraum, in welchem nur ein Tisch, ein Flipchart und vier Stühle stehen. An der Wand hängt ein Whiteboard, auf dem die Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger intelligente Sprüche und Zeichnungen hinterlassen haben. Vor dem geöffneten Fenster knattert ein Bauer mit seinem Traktor durch.

Morena und Sandrine sitzen sich über die Ecke schräg gegenüber. Sandrine wirkt geknickt, sie sitzt lässig, aber körperlich eingefallen da, fixiert mit ihren Augen den Tisch, als könnte er ihr helfen, die unbequeme Situation durchzustehen. Von draußen schwebt schwacher Dieselgeruch ins Zimmer.

"Bevor wir beginnen, möchte ich euch gratulieren, Sandrine. Die Welt braucht mehr starke Frauen wie euch; das wollte ich dir einfach gesagt haben." Während die Lehrerin spricht, streckt sich Sandrine, verändert Haltung und Blick. Noch ist sie unsicher, aber ihre Gesichtszüge entspannen sich, die Augen beginnen zu leuchten.

"Das hatten wir so nicht geplant, Frau Di Agostino. Wir dachten, die Kleider wären ein Zeichen und unsere Lehrerinnen würden darauf reagieren."

"Was wir nicht getan haben. Das tut mir echt leid; wir hätten aufmerksamer sein sollen."

"Wir wollten niemanden bloßstellen, das müssen Sie mir glauben. Aber als ich sah, wie der schmierige Kerl auf der Bühne gelobt wurde, da wurde mir beinah schlecht. Ich konnte nicht anders und Nubia kam mit mir. - Aber ich hätte die Sache auch allein durchgezogen. Ich war so wütend." Sandrine hat Tränen in den Augen, sie spricht schnell, schluchzt zwischendurch.

"Hey", beruhigt sie Morena, "es ist alles in Ordnung. Ihr wurdet verletzt und ihr hattet keine Unterstützung. Das war ein Ventil und das ist gut so. Über die Art und Weise kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber das Zeichen musstet ihr setzen. Magst du erzählen, was Kägi gemacht hat?"

***

Ein Stockwerk höher, genau über dem anderen Gruppenraum, sitzen sich Alissia und Nubia gegenüber. Sie haben auf der Couch platzgenommen, die im Leseraum steht. An der Wand hängen Bilder verschiedener Hauptstädte Europas, ein Regal voller Jugendbücher steht in der Ecke.

"Ich bereue es nicht, Frau Disler; nichts von alledem. Auch wenn es vielleicht noch Bagnoles Idee war - wir haben es zusammen durchgezogen und ich stehe dazu."

"Das ist sehr stark und loyal von dir. Hattet ihr die Aktion so geplant?"

"Nein. Wir wollten mit den Kleidern eine Reaktion bewirken; aber alle Lehrerinnen und Lehrer sagten nichts. Ist es Ihnen nicht aufgefallen?"

"Doch, es ist mir aufgefallen. Aber der Anlass und die Organisation, die Aufsicht, die Arbeit - ich konnte nicht reagieren, ich war zu beschäftigt. Das klingt nach einer billigen Ausrede, aber es ist leider die Wahrheit; ich habe es falsch eingeschätzt, ich habe nicht gesehen, wie wichtig das für euch war."

"Dann, kurz vor Schluss, nahm Bagnole meine Hand und stampfte los. Ich hatte erst keine Ahnung, was sie vorhatte, doch dann verstand ich es plötzlich und ging mit meiner Freundin - da gehöre ich hin."

Alissia nickt und lächelt. "Ihr seid ein tolles Team. Aber ihr werdet mit einer Reaktion der Schulleitung rechnen müssen. Ich hoffe, ich kann eine strenge Bestrafung abwenden, das sage ich dir ganz ehrlich."

"Das ist schon okay, Frau Disler. Wir wissen, dass wir dafür drankommen. Meinen Eltern habe ich es zuhause schon gesagt."

"Wie haben sie reagiert?"

"Vater klopfte mir auf die Schulter und Mutter umarmte mich. Wir wissen, was es bedeutet, für seine Rechte kämpfen zu müssen und so wurde ich erzogen. - Meinen Sie, wir dürfen nächste Woche mitfahren, Bagnole und ich? Wir haben Angst, dass wir hierbleiben müssen."

"Das, liebe Nubia, werde ich mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Ihr seid zwei fleißige Schülerinnen und habt es mehr als verdient, am Schulausflug teilnehmen zu dürfen. Diese eine Aktion darf nicht gefährden, was ihr euch jahrelang aufgebaut hat."

"Danke, Frau Disler. Für alles." Nubia schaut Alissia aus ihren dunklen Augen dankbar an.

***

Für den Abend hat der Rektor eine dringliche Sonderkonferenz einberufen. Nach dem Unterricht müssen alle Oberstufenlehrpersonen im Sitzungszimmer antreten. Der sonnige Tag war eher bedrückt. Einzelne Lehrpersonen haben mit Mädchen gesprochen. Alissia Disler, als Klassenlehrerin von Nubia und Sandrine fühlt sich nicht wohl.

"Was war da los, am Freitag? Wie konnte das passieren?" Frank Besenberger ist noch immer schockiert und wütend, dass die zwei Mädchen seine lobende Schlussrede gestört haben. Vor sich hat er die Bewerbungsunterlagen des Bibliothekars hingelegt; ebenso die zwei Aktenordner der Mädchen. Alissia fragt sich, was die Ordner zur Lösung des Problems beitragen sollen; das Problem liegt nicht bei den Mädchen, sondern bei dem neu eingestellten Mann, dessen Hintergrund offenbar nicht ordnungsgemäß überprüft wurde.

"Alissia; wie verhalten sich diese Mädchen im Schulalltag?", will Besenberger wissen. Er faltet die Hände und schaut Alissia streng an.

Die junge Lehrerin fühlt sich in ihre eigene Schulzeit zurückversetzt, als sie beim Rektor hat erscheinen müssen, weil sie der Schlange im Zimmer des Biologielehrers eine Maus aus dem anderen Terrarium gefüttert hatte und nicht wusste, dass es sich dabei um eine seltene Art Maus gehandelt hatte. Sie schmunzelt, was Besenberger zusätzlich ärgert. "Die Mädchen sind sehr fleißig und angepasst. Sie fallen nur positiv auf; ihre Selbst- und Sozialkompetenz ist durchwegs sehr hoch. Sie kümmern sich um jüngere Schülerinnen und geben gratis Nachhilfeunterricht. Wir haben, wie du es uns aufgetragen hast, heute mit beiden Mädchen gesprochen. Es tut ihnen leid, dass sie die Veranstaltung gestört haben; aber es tut ihnen nicht leid, dass sie die Sache damit ins Rollen gebracht haben."

"Sie haben eine Grenze überschritten. Dafür müssen wir sie zur Rechenschaft ziehen. Dieses Verhalten können wir nicht dulden. Ich werde wohl die Eltern der Mädchen herbestellen müssen." Besenberger hat in den Chef-Modus umgeschaltet. Seine Diskussionsbereitschaft sinkt.

Morena hebt die Hand, Besenberger nickt ihr zu. "Wir haben dir bereits wenige Tage nach Kägis Einstellung gemeldet, dass sich Schülerinnen in seiner Nähe unwohl fühlen. Ich finde, wir sollten die Mädchen anhören und ernst nehmen; wir sollten hinschauen." Alissia wirft ihr einen dankbaren Blick zu.

Nun meldet sich auch Gabi Suter zu Wort. "Ich hatte in den vergangenen Wochen so viel Besuch wie noch nie zuvor. Die Mädchen haben sich die Klinke in die Hand gegeben; sie wurde nie kalt. Was sie mir erzählt haben, darf ich aus Gründen der Schweigepflicht nicht berichten. Aber ich rate dir dringend, Frank, auf die Mädchen zu hören und vor allem rate ich dir, die Eltern nicht einzuladen. Dieser Schuss wird nach hinten losgehen. Überprüfe Kägi; das ist der einzige Weg aus der Situation heraus."

Besenberger legt die Hand auf die Bewerbungsunterlagen. "Ich habe den Mann überprüft. Da ist nichts Verwerfliches erwähnt. Der Mann hat durchwegs beste Zeugnisse. Beim Amt in Aarau liegt nichts gegen ihn vor."

"Er ist kein Lehrer. Da ist es ja nur logisch, dass bei der Lehreraufsichtsbehörde des Kantons nichts vermerkt ist. Vielleicht müssten wir eine andere Beschwerdestelle anfragen", gibt Morena zu bedenken. Alissia folgt der Diskussion schweigend, betroffen. Sie hat längst Partei für ihre beiden starken Girls ergriffen.

Besenberger schaut in die Runde und wartet auf weitere Voten, die nicht kommen. Es herrscht betretenes Schweigen. "Also gut, ich werde lediglich Anfragen von besorgten Eltern beantworten und keinen runden Tisch mit den Betroffenen organisieren. Die zwei Mädchen müssen morgen, in der Stunde vor der großen Pause, zu mir ins Büro. - Nächste Woche ist der Ausflug nach Fiesch, die beiden werden nicht mitfahren, so viel ist jetzt schon klar."

"Nein! Das ist das falsche Zeichen. Bei allem Respekt, Frank, aber die Aktion am Freitag hat mit dem Schulausflug nicht das Geringste zu tun. Wenn du ihnen die Teilnahme verweigerst, musst du auch Enola zuhause lassen. Sie hat den Anlass grundlos gestört und ihr geschieht nichts. Das lass ich nicht zu. Meine beiden Schülerinnen haben vielleicht einen Fehler gemacht, aber das rechtfertigt nicht, dass sie nicht mitfahren dürfen." Alissia Disler redet sich beinah in Rage. Sie ist sichtlich wütend. "Sag auch was, Snape! Es sind auch deine Schülerinnen. Hilf mir, verdammt nochmal!"

Silas Marder erschrickt und als Besenberger ihn fragend anblickt scheint er zu erwachen. "Sandrine und Nubia sind sehr gute und fleißige Schülerinnen. Ich bin der Meinung, sie haben sich die Teilnahme am Ausflug verdient. Der Ausrutscher am Freitag sollte nicht drei Jahre gutes Benehmen zunichte machen. Ich teile die Ansicht meiner Stellenpartnerin." Alissia flüstert ihm ein 'Danke' zu.

Besenberger ist nicht zufrieden, das können alle sehen. "Ich werde eure Meinung in meinen Entscheid einfließen lassen. In wenigen Tagen fahrt ihr mit der ganzen Oberstufe ins Wallis. Ich möchte, dass ihr euch darauf konzentrieren könnt. Sind noch Fragen?"

"Ich werde beim Gespräch mit den Mädchen dabei sein, Frank." Alissia sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl und schaut ihrem Chef direkt in die Augen.

"Und mit welcher Begründung, wenn ich fragen darf?"

"Ich bin ihre Klassenlehrerin und gehöre deshalb an ein disziplinarisches Gespräch. So steht es in meinem Pflichtenheft. Ich bin dabei."

Besenberger zögert, man spürt, dass ihm dieser Widerspruch nicht gefällt. "Das ist richtig. Vielleicht macht es auch mehr Eindruck auf die zwei Mädchen, wenn du dabei bist und mich unterstützt. - Die Sitzung ist beendet."

Morena und Alissia lächeln sich zu, als sie das Sitzungszimmer verlassen. "Sieh an, die kleine Tänzerin hat Zähne wie ein Tiger. Gut gemacht, Alissia."

"Danke, Morena. Ich wusste, das ganze Team steht hinter mir, und das hat mich gestärkt. Hast du mit Enola geredet, heute?"

Morena seufzt. "Ja, und auch noch mit Tanya, die nicht mitfahren will. Ich habe das Gefühl, ich verbringe meine Zeit vor allem mit Reden, anstatt mit Unterrichten."

"Hast du Lust auf ein Bier?"

Morena erinnert sich daran, dass es in Oberwil kein Restaurant gibt und ist gespannt, was ihr die Sportlehrerin vorschlagen wird. "Aber immer! Jetzt bin ich gespannt, wo du das hernimmst."

"Komm mit!", sagt sie nur und zieht ihre Kollegin hinter sich her. Sie steigen in den dritten Stock und betreten das Lesezimmer, wo normalerweise Schülergruppen arbeiten oder lesen. Stefan, Rebecca, Silas und Dominic sitzen auf den Polstersesseln, in der Mitte steht eine Schüssel mit Kartoffelchips und in der Hand haben sie ein Bier.

"Was ist das?", fragt Morena sehr erstaunt und erfreut.

"Das ist der Freitagsapero, den wir nachholen. Wir machten das früher regelmässig. Snape hat einen Kühlschrank im Zeichnungszimmer, um geöffnete Farben zu kühlen. Nur hat er keine geöffneten Farben, die gekühlt werden müssen; da fanden wir, den Kühlschrank könnte man auch sinnvoll nutzen. Und jetzt dachten wir, die Tradition sollte wieder aufleben."

"Wie cool ist das denn! Danke, dass ihr mich willkommen heißt."

"Das geschieht nicht ohne Hintergedanken. Wir hoffen, dein Mann kann ab und zu kleine Häppchen beitragen", bemerkt Stefan lachend, er kassiert von Rebecca einen Schlag auf die Schulter.

"Du bist unverschämt, Sporty. - Setz dich, Morena. Du gehörst dazu. Manchmal kommen so viele, dass wir noch Stühle holen müssen. Alle wissen es, auch die aus den anderen Stufen - und alle sind willkommen. Aber heute sind wir unter uns. Normalerweise ist der Apero am letzten Freitag im Monat."

Mit dieser Teambildungsmaßnahme verarbeiten die Kolleginnen und Kollegen der Oberstufe die anstrengende Sitzung.

***

Die Musik ist laut, die Sonne ausgesperrt, der Raum wie immer dunkel. Ein Scheinwerfer beleuchtet die Leinwand, welche auf der Staffelei steht. Es riecht beißend nach Ölfarbe und Petrol. Mit einem groben Pinsel werden Farben aufgetragen, vorherrschend Blau und Grün.

Nach und nach entsteht eine Pfauenfeder, die bei genauem Hinsehen ebenso gut als Träne interpretiert werden könnte. Die Feder erinnert an einen Kopf mit Augen und einem weit geöffneten Mund, in welchem schemenhaft ein dunkelblauer Schatten eines Menschen erkennbar wird. Am oberen Rand scheint eine Landschaft über allem zu stehen, mit einem hoffnungsvoll orange schimmernden Himmel, doch die Ränder des Federgesichtes sind dunkel, fast schwarz.

Tanya malt; ihre Gedanken sind jedoch beim Gespräch, das sie mit ihrer Lehrerin hat führen müssen. Die neue Lehrerin hat Verständnis, sie könnte begreifen, was in Tanya vorgeht. Doch sie kommt zu spät; vor zwei Jahren hätte Tanya diese Lehrerin gebraucht; damals, als sie ihren Körper verlor. Seit ihre Seele ohne Hülle lebt, müssen die Texte und die Bilder für einen letzten Rest Halt bieten.

Nächste Woche fahren die Idioten und ihre Lehrer zum Spaß in die Berge. Sollen sie. Tanya hat Besseres zu tun. Wenn sie schreibt, liest und malt, lebt sie. Bei den Idioten ist sie nur eine wandelnde Figur ohne Leben. Tanya freut sich auf nächste Woche. Sie darf in der Zweiten als Klassenassistenz mithelfen; sie mag die Kleinen. Immer hätte sie sich eine kleinere Schwester gewünscht, doch vom Trinken wird Mutter nicht schwanger.

Tanya wird in der nächsten Woche mit den Kindern arbeiten, basteln und malen. Sie wird ihnen Geschichten vorlesen; und das wird viel mehr Spaß sein, als mit den Idioten auf Berge zu kraxeln. Nächste Woche! Heute wird gemalt und den kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont widmet Tanya ihrer neuen Lehrerin. Sie wird verstehen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top