Sweet Lies


Das Pferd zögerte einen Moment ehe es meinem Befehl nachkam und sich vom sicheren Weg abwandte um ins noch dunklere Unterholz zu traben. Die Sterne über unseren Köpfen verschwammen, bis sie unter den finsteren Baumkronen gänzlich erloschen. Drohend verschärfte ich den Druck meiner Fersen in den Seiten der Stute, damit ihr absolut klar war, dass meine Pläne in eine andere Richtung führten, als die ihren. Kein Vogel sang in den Ästen, nur das Rascheln herabgefallenen Laubs unter den Hufen meines Pferdes und das schrille Zirpen von Zikaden in den Zweigen zerrissen die Stille der Nacht. Der bisher ruhige Ritt wurde durch zahlreiche abgeknickte Hölzer und den unebenen Boden des Wald deutlich fordernder und ich war nach einigen stolpernden Schritten meines Pferdes gezwungen mich am Horn des Sattels festzuhalten, um nicht völlig aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Lange Weidenzweige, die im schaurigen Licht des Neumondes aussahen wie Klauenhände, schlugen mir ins Gesicht, Mücken setzte sich auf meine Unterarme und zerstachen die gegerbte Haut. Je tiefer wir in den Wald kamen, desto dichter wurde das Blattwerk und somit auch die Dunkelheit. Ich hatte es nicht gewagt meine Lampe anzuzünden, selbst als ich die Stadtmauern weit hinter mir gelassen und auf offene Wege geritten war. Die teure Öllampe meines Vaters schaukelte somit noch immer sinnlos an meinem Gürtel. Er würde mich zwei Nächte durch schuften lassen und einige Hiebe mit dem Stock warteten vermutlich auch auf mich, wenn er ihren Verlust bemerkte. Aber all das hier, war es mir wert.

Unser Ziel schien nicht mehr fern zu sein, ich konnte bereits das sachte Plätschern des kleinen Flusses hören, was einen Abschied von meiner Wegbegleiterin bedeutete. Das Pferd ließ sich kaum zum Stehen bewegen, tänzelte vor Anspannung auf der Stelle und drehte ihre Ohren ruckartig mal hier hin und mal dorthin. Es tat mir beinah Leid sie allein lassen zu müssen, aber es war besser, sie nicht mitzunehmen. Sollte diesem Treffen doch jemand auf die Schliche gekommen sein, konnte sie mich nicht verraten und bot mir jederzeit eine Möglichkeit zur Flucht, um nicht als Verräter im Kerker zu enden - oder kopflos im Kaminfeuer des Königs. Schnell zog ich die Füße aus den ledernen Steigbügeln, schwang ein Bein über ihren Hals und rutschte auf der anderen Seite locker hinab. Der Boden knarrte unter meinem Gewicht. Ich nahm mir einen kurzen Moment meiner Stute beruhigend durch die dunkelbraune Mähne zu fahren, ehe ich ihr die Zügel über den Hals zog und um einen besonders dicken Ast am nächstbesten Baum knotete. Das Pferd blickte mir aus grauen Augen entrüstet hinterher, als ich mich zum Gehen wandte. Trotz all meines Mitleids konnte ich ihr nur die kalte Schulter zeigen und legte das letzte Stück zur Lichtung nun zu Fuß zurück. Das Mondlicht empfing mich freundlich, als ich aus dem dichten Gehölz trat und auf das Wasser des Flusses schaute, dass still und unberührt dahin floss. Vorsichtig schritt ich langsam auf das Ufer zu, das taufrische Gras tränkte meine Schuhe. Ein sachter Wind kam von den Bergen und wehte mir durch die braunen Haare, sodass mir einige der wenigen schwarzen Strähnen in die Augen fielen. Blätter raschelten sanft im Wind und Grillen zirpten leise am Ufer. Einige Meter flussaufwärts ragte eine riesige Weide mit den Wurzeln tief ins Wasser, als habe sie ihre Hölzer zum Angeln ausgeworfen. Ich ging auf sie zu, setzte mich in ihren grasbewachsenen Schoß und lehnte mich an den eingekerbten Stamm. Es war schon lange her, dass ich diesen Ort bei Nacht besuchte. Vier, vielleicht sogar fünf Monate? Früher hatten wir uns, entgegen der Willen unserer Väter, oft hier getroffen. Gedankenverloren strich ich mit meiner linken Hand über das Gras, welches hier viel trockener und rauer war, als auf dem Rest der Lichtung. Im Kindesalter spielten wir hier beinah täglich verstecken oder fangen zwischen den Bäumen des Waldes. Irgendwann verbot sein Vater ihm den Umgang mit mir, was uns allerdings nicht davon abhielt, im geheimen doch mehrere Zusammenkünfte zu verabreden. Mit dem fortschreitenden Alter wurden unsere Treffen ruhiger. Wir lagen nebeneinander am Ufer, zählten gemeinsam Sternschnuppen und teilten Geschichten aus dem Dorf. Dennoch nahmen uns die aufkommenden Pflichten die Zeit für all dieses. Er musste Etikette erlernen und im Schwertkampf trainiert werden, während ich darin unterrichtet wurde, wie man aus Getreide Mehl herstellt und ein gutes Brot backt. Unsere Freundschaft geriet in den Hintergrund und beinah ins Vergessen, wäre nicht vor ein paar Tagen dieser unscheinbare Brief mit dem Siegel des Königshauses unter der Tür hindurchgeschoben worden. Mein Herz schlug etwas schneller, als ich ihn in blinder Neugierde aufgerissen hatte und die fein säuberlichen Druckbuchstaben entzifferte. Er bat um ein Treffen, heute, wenn der Mond am höchsten steht. Natürlich bin ich auf seine Einladung eingegangen, selbst wenn mich wilde Hunde verfolgt oder ein Ritter mit Hinrichtungsbefehl empfangen hätte, ich wäre erschienen. Meine Augen blickten in das Wasser zu meinen Füßen. Selbst im fahlen Mondlicht konnte man die schneidigen Leiber einiger Fische erkennen, die mutig gegen die Strömung anschwommen und sich vor Feinden in den Algen versteckten. Ich wagte es noch immer nicht ein Licht anzuzünden, all die Schönheit würde dann verschwinden. Vor dem Schatten einer zuckenden Flamme würde das Getier auseinander streben, die Grillen verstummen und das Wasser zu einer öligen Masse verdicken. In manchen Situationen war die Dunkelheit einfach schöner als das Licht. Während ich in meinen Erinnerungen vor mich hin träumte, den Blick nicht von unserem Fluss abwendend, ließ mich die plötzliche Spiegelung eines roten Umhangs im weißen Schaum der Wellen aufsehen. Ein sachtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich die Anwesenheit meines Gastgebers bemerkte und ihn begrüßte. „Diesen Mantel würdest du als unauffällig bezeichnen, Eirik? Du hättest genauso gut 'Prinz' auf deine Stirn schreiben können." Für einen 'normalen' Bürger aus dem Dorf hätte diese Anrede mindestens eine Woche Kerker bedeutet – für mich nicht. Mein Gegenüber erwiderte die Stichelei mit einem schelmischen Funkeln in den kastanienbraunen Augen. „Oh, Bjame. Wenn ich es gewollt hätte, so hätte ich es schreiben lassen. Wozu hat man denn Diener?" Einladend klopfte ich auf den Platz neben mich. „Wenn eure königliche Hoheit sich zu mir setzen möchte? Natürlich nur, wenn es euch angenehm ist." Lächelnd ließ sich mein Freund auf die Knie fallen, allerdings sorgsam darauf achtend, dass seine graue Kleidung keine Flecken davon trug. Eine Müllerfamilie, wie die Meinige, hätte wahrscheinlich hunderte Jahre arbeiten müssen, um sich überhaupt den Stoff leisten zu können, aus dem sie geschneidert waren. „Es muss Ewigkeiten her sein, seit ich das letzte mal hier war.", flüsterte er andächtig, als sein Blick auf die dunklen Fischleiber im Fluss fiel. Stille breitete sich zwischen uns aus, als mein Besucher ebenfalls begann träumerisch auf das Wasser zu starren. Ich gab ihm dem Moment für seine eigenen Gedanken. Er war sehr hübsch, wie er hier saß. Die beinah weißen Haare fielen ihm vom Nachtwind zerzaust in die Stirn. Mondlicht schimmerte in seinen Pupillen und warf kurze Schatten unter die Wangenknochen. Seine Züge waren so fein definiert, dass sie denen einer Puppe glichen, dessen Eindruck seine helle und reine Haut zusätzlich unterstützte. Während er träumte glich er einer Porzellanfigur, wunderschön und doch so unerreichbar. Kurz schloss ich die Augen und ließ dieses Bild hinter meinen Lidern auf mich wirken, denn es könnte das letzte Mal sein, dass ich ihn hier sah: Ehrlich und wie einen Menschen, nicht wie eine Gottheit. „Bjame?" Ich schreckte ein wenig hoch, als mich seine Stimme aus der Trance des eigens erschaffenen Traumes holte. Meine Augen fanden seine und mein Mund formte sofort ein Lächeln. „Du fragst dich bestimmt, weshalb ich dich nach solch langer Zeit um ein Treffen gebeten habe." Ich nickte langsam. „Ehrlich gesagt, glaubte ich, du hast unsere gemeinsamen Stunden vergessen, Eirik." Es fühlte sich gut an seinen Namen zu sagen, ohne ihn mit einem Titel in Verbindung zu bringen. Er klang, als würde er zu mir gehören. Seine Augen weiteten sich bei meinen Worten und Erstaunen schaute mir entgegen. „Wie könnte ich?",fragte er. „Ich habe oft an dich gedacht und genau deshalb bin ich hier." Mein Herz setzte für ein paar kurze Schläge aus, ehe es mit doppelter Geschwindigkeit alles wieder nachzuholen versuchte. Ich spürte wie meine Wangen sich aufwärmten und rot wurden, weshalb ich etwas verlegen zurück auf den Fluss schaute. Eirik schmunzelte kurz über meine Reaktion auf sein Geständnis, bevor auch er erneut der Stille verfiel. „Bjame, ich muss dir etwas sagen. Du solltest es durch mich erfahren und durch niemanden anderes in diesem Königreich." Er schaute mir bei seinen Worte nicht direkt in die Augen, sondern fixierte einen Punkt hinter mir in der Nacht. Warum hatte er plötzlich nicht mehr den Mut dazu? „Das wäre dir gegenüber nicht fair." Seine Stimme war leise, als er diesen Satz sprach. Vielleicht besaß er die Hoffnung, dass ich ihn nicht hörte. Dennoch hatte ich ihn all diese Worte sagen hören, was Furcht in mir aufsteigen ließ. Was war geschehen, dass bisher niemand im Dorf davon gehört hatte? Und was hatte es mit mir zu tun? „Bjame.",setzte Eirik an, ihn schien allerdings die Kraft zu verlassen, als er meinen Namen aussprach und so schloss er seinen geöffneten Mund wieder. Ein schmerzendes Gefühl machte sich in meiner Brust breit und ich spürte die Dunkelheit umso deutlicher auf meinen Schulter. Der Wunsch nach Licht erschien plötzlich in meinem Kopf und so griff ich zur Lampe, die noch immer an meinem Gürtel hing und löste sie, um das teure Gerät zwischen uns zu stellen. Während ich ein Streichholz zündete und die Lampe ansteckte, spürte ich Eiriks prüfenden Blick auf mir. Eine kleine Flamme züngelte zwischen dem Glas hervor. Sie spiegelte sich in seinen Pupillen, als meine Augen wieder auf seine trafen. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Ist das die Lampe deines Vaters?" Ich nickte zur Antwort. „Er wird mich vermutlich den Hunden zum Fraß vorwerfen, wenn er bemerkt, dass ich sie genommen habe."  „Sollte etwas kaputt gehen, werde ich sie ersetzten." Dieses Mal schüttelte ich den Kopf. „Das spielt keine Rolle, Eirik." Die Fische im Wasser waren verschwunden, die Grillen verstummt und das Wasser reflektierte schwarz und ehrlich die goldenen Strahlen auf seiner Oberfläche.

„Bjame, ich habe mich verlobt." Ruckartig atmete ich aus, starrte gezwungen auf das Wasser. Gegen den Schmerz in meiner Brust hatte das Licht nichts ausrichten können. Es hatte nichts besser gemacht. „Oh.",sagte ich nur, ohne ihn anzusehen. Meine Reaktion schien ihn zu beunruhigen, denn sofort begann er stürmisch sich zu entschuldigen. „Es tut mir Leid, Bjame. Wir unterstützen es beide nicht, doch unsere Eltern sehen in unserer Heirat einen Weg für einen langen Frieden zwischen Alvarr und Alviss. Neue Handelswege eröffnen sich, das Volk würde von all dem profitieren und..." Was brachte mir das jetzt noch? Die Wahrheit war raus und in meiner Naivität hatte ich auch noch geglaubt, er würde dieses Treffen organisieren, weil ich ihm etwas bedeuten würde. Ich lehnte mich etwas zurück und schlug mit aller Kraft die ich aufzubringen vermochte auf einen Wurzelast neben mir. Der süße Schmerz in meiner Hand, ließ mich für ein paar Sekunden klar sprechen. „Ja, Eirik! Ich habe es verstanden! Wie konnte ich nur denken, dass aus uns jemals etwas werden könnte? Pff... Ein Bauer und der Königssohn. In welch einem Märchen wollt' ich leben?" Ich lachte verbittert auf, grub meine Fingernägel in den kalten Boden. „Immerhin war ich dir noch so viel wert, dass du mich treffen wolltest, um mir das zu sagen. Ha, als ob ich dir all die Monate nicht vollkommen egal gewesen wäre!" Die ganze Zeit während ich sprach, starte ich auf das leer und tot wirkende Wasser, spürte Tränen in meinen Augen aufsteigen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie sich aufgestaut hatten. Seine warme Hand legte sich unter mein Kinn und hob dieses vorsichtig an, um meinen Kopf aufzurichten und in seine Richtung zu drehen. Er war näher gekommen, sodass ich neben des tanzenden Feuers auch Trauer in seinen Seelenspiegeln erblicken konnte. „Bjame, du warst mir nie egal." Seine Stimme war sanft und schmerzte doch wie ein scharf geschliffenes Messer in meiner Brust. „Jeden Tag habe ich an dich gedacht, habe in der Nacht von dir geträumt und immer wieder habe ich mir gewünscht dich wiedersehen zu können." „Wirklich?",fragte ich leise schluchzend und fand, dass ich wie ein kleines Kind klang, dessen Leichtgläubigkeit es zu Fall gebracht hatte. „Ja.",hauchte er und ich konnte seinen Atem auf meinen Lippen spüren. „Da warst immer nur du in meinen Gedanken." Seine freie Hand legte sich an meine Wange und ich konnte nicht anders, als mich vorsichtig an sie zu lehnen. Wie gern würde ich ihm vertrauen, sollte dieser Moment doch nie enden. Sein Gesicht war meinem so nah, wie noch nie zuvor. Langsam schloss ich die Augen, in der Hoffnung, dass er das selbe dachte, wie ich es tat.

Krachend brachen einige Äste in der Ferne und das Knirschen von Laub unter den Hufen mehrerer Pferde hallte vom Waldessinnern über die Lichtung zu uns herüber. Erschrocken zuckten wir auseinander, als hätten wir uns aneinander verbrannt und tatsächlich glühte meine Wange an der Stelle, an welcher Eirik sie berührt hatte. „Verflucht! Sie scheinen meine Abwesenheit bemerkt zu haben." Mein Freund sprang sofort auf, wobei sein Umhang die die Öllampe meines Vaters strich, welche stumm zur Seite kippte und stotternd erlosch. Verwirrt blickte ich zu der Leuchte, deren Inhalt sich fettig auf dem Gras verteilte, nicht darauf gefasst, dass Eirik nach meiner Hand griff. „Wir müssen hier weg. Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn die Wachen dich finden würden." Er half mir mit einem Ruck zurück auf die Füße und begann sofort in die Richtung zu rennen, aus der ich gekommen war. Ich, der noch immer in seinen Gedanken gefangen war und den intimen Moment mit meinem Freund bereits jetzt vermisste, stolperte nur hinter ihm her, während ich einzig realisieren konnte, dass er meine Hand nicht losließ, anstatt zu bemerken, das ich jeden Moment einem langen Aufenthalt in der Folterkammer der van Alvarrs geschenkt bekommen würde. Wir liefen ein ganzes Stück, mein Atem verwandelte sich in der stetig kälter werdenden Nachtluft in kleine, hektische Wölkchen und auch Eirik schien sichtlich Probleme zu bekommen, seine Muskeln mit Sauerstoff zu versorgen. Während das Blut vom Herzen durch meinen Körper gejagt wurde, schienen meine Gedanken etwas aufzuklären und die wahre Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Wir flohen gerade vor den Wachen des Königs, der seinem Sohn nach der ungewollten Verlobung wohl kein Vertrauen mehr geschenkt hatte und ihn zusätzlich beobachten ließ. Sollte ich mit ihm gesehen werden, wäre mein Schicksal wohl besiegelt. Von der Anstrengung keuchend erhöhte ich das Tempo, sprintete an Eirik vorbei und zog ihn nun mit mir, wobei er vor Überraschung über meinen plötzlichen Energieschub beinah über eine aus dem Boden ragende Wurzel fiel. Ich verfluchte meine Naivität und Blindheit, die ich bis eben an den Tag gelegt hatte. Wie konnte dieser Königssohn meinen Verstand nur so in Nebel hüllen und mich alles vergessen lassen? Wütend auf mich selbst, auf die Verlobung, auf die Ungerechtigkeit dieser Welt, rannte ich schnell tiefer ins Unterholz hinein, mittlerweile völlig orientierungslos. Das Brechen des Laubs könnte genauso gut von meinen und Eiriks Schritten stammen, wie es von den Pferden der Wachen kommen konnte. Während wir unseren Weg im Sprint fortsetzten, wurde das Buschwerk um uns herum immer dichter und die Schatten der Bäume lichter. Wir bewegten uns in Richtung der Felder, am Waldrand, immer weiter weg von unserer eigentlichen Heimat. Ich verlor die Tatsachen erneut vor den Augen und bemerkte kaum, wohin wir uns bewegten, bis mir ein plötzlicher Ruck den Boden unter den Füßen wegzog und ich rückwärts in das hochgewachsene Gebüsch zu unserer Rechten taumelte. Gegen meiner Erwartung landete ich allerdings nicht in den Dornen eines Strauchs, sondern auf der Brust Eiriks, der schnell einen Arm um mich geschlungen hatte und einen Finger an meine Lippen legte, um mir zu bedeuten keinen Ton zu sagen. Wir beide atmeten schwer von unserer Flucht und versuchten bestmöglich nicht laut nach Luft zu schnappen. Mir war unglaublich heiß, konnte nicht sagen, ob es von der sportlichen Leistung oder von der unbestreitbaren Nähe des Königssohnes kam. Der Busch hatte uns gänzlich verschluckt und in der völlig neuen, dichteren Dunkelheit konnte ich nur wenig erkennen. Erst als sich meine Augen schleichend an die trübe Umgebung gewöhnt hatten und meine Atmung ruhiger wurde, konnte ich eine etwa knopfgroße, braune Spinne erkennen, welche sich langsam in Richtung Eiriks Gesicht von einem beinah durchsichtigen Faden abseilte. Ein wenig panisch versuchte er sie weg zu pusten, doch die Kleine hielt sich wacker und landete schließlich auf seiner Wange, als er seinen Kopf schnell zur Seite drehte und seine Augenlider fest zusammen presste. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und hob eine Hand, um das Tier wegzuschnipsen. Er zuckte bei meiner Berührung kurz zusammen, ehe er sich wieder traut mich anzusehen. Erst jetzt schien uns die gegenwärtige Situation wirklich bewusst zu werden, denn wir beide brachen in gedämpftes Kichern aus, als unsere Blicke sich trafen. Genau wie wir beide erst jetzt bemerkten, dass sein Finger noch immer an meinen Lippen lag, sowie meine Hand an seiner Wange. Schlagartig schien sich die fröhliche Stimmung wieder anzuspannen, doch keiner von uns wagte es sich weg zu bewegen. Meine Gedanken waren absolut leer, als hätte der Sturm der vorher geherrscht hatte sie alle mit sich genommen. Es vergingen Stunden, bevor sich mein Freund als erster bewegte, in dem er seinen Finger zurückzog und mir stattdessen achtsam über die Wange strich. Langsam richtete er sich ein Stück auf, sodass er mir schon wieder viel zu nah war. Seine Hand strich mir erst sanft ein paar Strähnen hinter das Ohr, ehe er sie in meinen Nacken legte und mich behutsam näher zog. Beinah fragend legten sich seine Lippen auf meine und übten sanften Druck aus, den ich vorsichtig erwiderte. Eine Horde Schmetterlinge schien in meinem Bauch geschlüpft zu sein, denn ein warmes Kribbeln breitete sich von dort aus und zog sich durch meinen ganzen Körper. Ich begann mich leicht zu fühlen, wie ein Kissen aus Daunenfedern und wären da nicht die kratzigen Äste, die mich in die Seiten piksten, hätte ich schwören können, ich würde fliegen. Mein Herz kam nach dem Sprint überhaupt nicht mehr zur Ruhe und schlug so schnell und schwer, dass ich befürchtete im nächsten Moment ohnmächtig zu werden. Auf keinen Fall wollte ich auch nur eine Sekunde dieses Augenblicks verpassen, der wahrscheinlich nie wieder kommen würde. Der Augenblick, in dem Eirik mich küsste. Eirik, der Königssohn von Alvarr, küsste mich, Bjame, den Sohn eines armen, gewöhnlichen Bauernpaares.

Es war ein zärtlicher, langsamer erster Kuss. Unsere Lippen spielten miteinander, aber sehr behutsam, als ob wir Angst hätten den anderen mit Aufdringlichkeit zu verscheuchen. Eirik schmeckte nach Reichtum und seine Lippen, waren viel weicher, gefühlvoller, als ich sie mir jemals hätte vorstellen können. Nach ein paar weiteren unregelmäßigen Schlägen unserer Herzen, in denen wir mit geschlossenen Augen einfach die zarte Berührung des anderen genossen, löste der Königssohn sich von mir und blickte mir liebevoll in die Augen. In seiner braunen Iris schimmerten trotz der Dunkelheit goldene Flecken. Die Hitze in meinem Körper, wanderte hoch zu meinem Gesicht und ließ mich unter seinem Blick rosafarben anlaufen. Eirik lächelte nur darüber, strich mir noch einmal zärtlich über die Wange, bis er die Arme hinter meinem Rücken verschränkte und aus dem Gebüsch aufstand. Er zog mich mit und so standen wir beide wieder auf dem getrockneten Laub am Waldrand, nur wenige Meter entfernt von den goldgelben Weizenfeldern und hielten uns gegenseitig in den Armen. Mein Kopf fand platz an seiner Schulter und während ich mich entspannte und zu einem natürlichen Rhythmus zurück kehrte, wurde mir in der Ruhe auch bewusst, was wir getan hatten. Eirik war verlobt, würde in den nächsten Monaten heiraten, vielleicht sogar zum König gekrönt werden. Ich war nur ein Schatten in seinem Leben, eine kleine Jugendsünde, die es im Laufe eines adligen Lebens zu vergessen galt. Dennoch stellte ich fest, dass es mir nichts ausmachte. Vielleicht war ich noch benebelt von dem Gefühl seiner Lippen auf meinen, aber solange ich bei ihm sein konnte, solange er mir so zärtlich über den Rücken strich und mich dabei an seine Brust gedrückt hielt, konnte ich damit Leben nur ein zerknittertes Blatt in seiner Geschichte zu sein. „Bjame, ich fürchte ich muss gehen.",flüsterte er, nachdem er mir noch ein paar Minuten geschenkt hatte. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber es ist Zeit." Zögerlich löste ich von dem bequemen Platz an seiner Seite und schaute ihn an. Erneut fand seine Hand platz an meiner Wange und strich mir kurz über darüber, bevor er mir einen letzten, schnellen Kuss auf die Lippen hauchte. „Ich verspreche dir, wir werden uns wiedersehen.",sagte er mit einem ernstem Ausdruck auf dem schönen, im Mondschein glänzenden Gesicht, während er sich langsam von mir entfernte. Ich hielt ihn nicht auf, wusste, ich würde es sowieso nicht können. Noch lange Zeit sah ich Eirik mit gemischten Gefühlen nach, auch wenn sein sattroter Mantel schon längst in der fortgeschrittenen Nacht verschwunden war. Irgendwann, die ersten munteren Vögel zwitscherten in den Ästen, setzte ich mich ins Waldlaub, um meine Überforderung einzudämmen. Es schien mir, als hätte ich einen Traum durchlebt, als wäre diese intime Berührung niemals zwischen uns gewesen. Unbewusst führte ich einen Finger an meinen Mund und fuhr die raue Kontur meiner Lippen nach, als mir die letzten Worte des Königssohnes wieder in den Sinn kamen.

Und während ich noch in Erinnerungen und Wünschen schwelgte, dachte ich, dass dieses Wiedersehen wohl die süßeste Lüge war, die mir jemals erzählt werden würde.


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