Kapitel 6
Mühselig stapfte ich durch den Wald. Ich wusste nicht wohin, aber versuchte einfach aus dem Wald hinaus zu kommen. Vielleicht würde ich irgendwo auf ein kleines Dorf stoßen. Doch was sollte ich dann dort machen? Ich kannte nichts und niemanden! Schuldgefühle durchfraßen mich immer weiter und ich hatte fast das Gefühl als würde ich daran ersticken. Ich lief immer weiter, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass mir meine Füße demnächst abfallen würden. Ich hatte sie wundgelaufen und es hatten sich bereits fiese Blasen an meinen Füßen gebildet, doch ich lief weiter. Ich hatte ja keine Wahl. Ich hielt den Dolch des Swaresk immer fest in der Hand, jeder Zeit darauf gefasst, dass mich jemand angreifen würde. Es war meine einzige Waffe und die Soldaten von Kiremsew konnten mich jeder Zeit finden.
Ich war unglaublich durstig und als ich endlich an einen kleinen Bach stieß, der sich durch den Wald schlängelte, stürzte ich sofort hin und trank gefühlt den ganzen Bach leer. Ich betrachtete mein Gesicht im Wasser. Es waren noch leicht, die schon verfärbten Blutergüsse zu sehen, die ich Adam und anderen Schülern mit denen ich zusammen gekämpft hatte, zu verdanken hatte. Meine grünen Augen sahen immer noch verheult aus. Ich spritzte mir das kühle Wasser ins Gesicht und betrachtete mich noch eine Weile in dem klaren Wasser des Baches, bis ich schließlich die Hand hob und damit kreisende Bewegungen über dem Wasser machte. Schwer zu sagen wieso ich das tat. Vielleicht weil ich mich selbst testen wollte oder einfach weil ich Lust hatte?
Das Wasser drehte sich genau in die Richtung in die ich meine Hand schwang. Ich wechselte wieder und wieder die Richtung und das Wasser tat es mir gleich. Wasserbändigen ist kein Zwang das Wasser dazu zu bewegen uns zu gehorchen, Grace. Das Wasser muss freiwillig das tun was wir wollen, wir müssen es sozusagen dazu überreden. Dieser Satz hatte einst Rick zu mir gesagt. Und er stimmte. Wieso das Wasser jedoch, jetzt auf mich hörte und nicht schon in den letzten Übungsstunden, war mir allerdings immer noch unklar. Ich hob die Hand und plötzlich durchfuhr mich ein Gefühl der Gewissheit. Energie durchströmte mich als ich das Wasser meiner Hand folgte und aufstieg. Unfassbar und bewundernd schaute ich den kleinen Wassertropfen zu, wie sie sich schließlich überreden liesen, mir zu folgen. Das Wasser stieg immer und immer weiter und es war, als hörte das Wasser des Baches einen Moment auf zu fließen.
Plötzlich hörte ich etwas hinter mir. Es raschelte. Erschrocken lies ich die Hand sinken und drehte mich um. Das Wasser platschte wieder zurück in den Bach. Mir stockte der Atem. Schnell griff ich nach dem Dolch, den ich neben mir am Ufer abgelegt hatte und hielt ihn schützend vor mich. Ich schaute mich um, konnte aber nichts erkennen, bis eine Elster aus dem Gebüsch flog und piepsend und zwitschernd in den Baumwipfeln verschwand. Erleichtert atmete ich aus und lies den Dolch sinken. Keine Soldaten. Nur ein Vogel. Keine Soldaten, Grace. Keine Soldaten.
Was war mit allen anderen aus dem Dorf passiert? Lebten sie noch? Waren sie inzwischen bei Kiremsew? Was war mit Ava und Andrew, meinem Vater, meiner Mutter und all den anderen? Hatten sie es geschafft zu fliehen oder waren sie tot? Was war mit Jayden? Diese Fragen, gingen mir Tag für Tag nicht aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn ich im Wald irgend ein plötzliches Geräusch oder ein Rascheln hörte, zuckte ich zusammen und griff sofort nach dem Dolch. Doch jedes Mal war es nur ein Tier, das aus einem Busch sprang oder einfach nur der Wind. Schuldgefühle durchfraßen mich, vor allem wegen Jayden. Wie hatte ich ihn nur einfach so zurück lassen können?
Der Hunger war mein ständiger Begleiter und ich freute mich immer wieder über irgendwelche Waldbeeren, die ich im Wald fand. Einmal schaffte ich es sogar, einen Hasen zu erlegen, was mehr oder weniger Glückssache war. Auch wenn Sommer war, waren die Nächte kalt und ich fror jede Nacht auf dem kalten feuchten Waldboden.
Irgendwann war ich sogar tatsächlich aus dem Wald draußen gewesen und ich stapfte über einige matschige Felder, in denen ich manchmal sogar bis zu den Knöcheln im Matsch versank. Doch nach ein paar Feldern, lief ich auch schon wieder in den Wald. Ich wollte auf gar keinen Fall die Richtung ändern. Irgendwann musste ich doch wohl auf ein Dorf treffen.
Das schlimmste waren die Albträume. Sie verfolgten mich Nacht für Nacht wie mein eigener Schatten. Und sie drohten niemals aufzuhören.
Ich rannte. Rannte so schnell ich konnte. Doch dann stolperte ich und fiel auf den harten Waldboden. Die Blätter, die um mich herum auf dem Boden lagen, stoben auf. Ich drehte mich auf dem Boden herum und versuchte aufzustehen, doch als ich hinauf blickte erkannte ich das Gesicht eines Swaresk. Er lachte, wobei ich seine schwarzen Zähne sehen konnte. Seine Augen waren tief schwarz und seine schulterlangen Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Ich schrie und versuchte rückwärts auf dem Boden liegend zu fliehen, was eher einem hilflosen Krabbeln entsprach. Ein stürmischer Wind wirbelte mir die Haare ins Gesicht und versperrten mir die Sicht. Der Swaresk lachte, packte mich am Kragen und zog mich hoch. „Du hast ihn umgebracht.", sagte er und grinste. „Du hast ihn umgebracht." Er hielt mich noch immer fest. „Alles ist deine Schuld. Du hast ihn umgebracht.", wiederholte er abermals und ergriff noch fester zu. Wen hatte ich umgebracht? Ich hatte nichts getan! Was meinte er nur? „W- wen habe ich umgebracht?", stotterte ich und schaute in seine Augen. Sie waren so schwarz, dass man fast denken konnte es wären nur die dunklen Augenhöhlen, in die man schaute. Ich zitterte. Schwer zu sagen, ob vor Kälte oder vor Angst. „IHN!", schrie er und drehte sich, sodass ich auf den Menschen hinter ihm schauen konnte. Dort stand Jayden, so wie ich ihn kannte. Der gute alte Jayden. Ich riss mich los und rannte zu ihm. Der Swaresk lachte schallend. „Er kann dich nicht sehen!", krächzte er und das letzte Wort sprach er unglaublich hoch aus. „Dies ist nur eine Erinnerung!" Ich rannte zu Jayden und umarmte ihn, doch ich spürte ihn nicht. Er war wie Luft. Ich konnte ihn nicht berühren. Er war nur eine Illusion. Ich trat zurück und erkannte ein Mädchen, dass aus dem Wald schritt. Es war etwas kleiner als Jayden und hatte langes blondes Haar, welches ihr der Wind aus dem Gesicht wehte. Sie grinste hämisch. Ich erschrak. Sie sah genauso aus wie ich! Ich war dieses Mädchen! Das Mädchen oder das Spiegelbild von mir kam näher. Sie sah genauso aus wie ich, aber das hämische, gehässige Grinsen war mir fremd. Sie zog einen Dolch aus ihrem Gürtel und schritt auf Jayden zu. „Und wie du das verdient hast!", schrie sie. Es war meine Stimme. Sie war ich. Ich war sie und doch war sie mir so fremd. Sie drehte den Dolch einmal in ihrer Hand, schritt dann auf Jayden zu und stieß ihm ohne zu zögern den Dolch in die Brust. Ich schnappte nach Luft und schlug mir die Hand vor den Mund. Blut sickerte aus der Wunde, als sie den Dolch wieder aus seiner Brust zog. Im Nu, war sein ganzer Körper mit Blut bedeckt. Ich schrie erstickt. Jayden sank zu Boden und drehte den Kopf zu mir. Sah mich eindringlich an. Die Farbe wich aus seinem Gesicht und das Leben entrann ihm. „Das ist allein deine Schuld!", sagte er, bevor er auf dem Boden zusammen brach.
Nach Luft schnappend schreckte ich hoch und stieß mit dem Rücken gegen den Baum hinter mir. Ein Traum, alles nur ein Traum. Es war nur ein Traum, versuchte ich mir einzureden. Ich strich mir das feuchte Haar aus dem Gesicht und wischte mir mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. War er wirklich tot? War Jayden tot? Es war alles meine Schuld. Wie hatte ich ihn nur zurück lassen können? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich dachte an den Tag, an dem ich Jayden zurück gelassen hatte, an den Traum, an seine Sticheleien und an die Tage an denen er mir einfach nur ein Freund gewesen war. Ich hatte ihn zurück gelassen! War er tot, folterten sie ihn? Was taten sie mit ihm? Jayden hätte mich niemals zurück gelassen. Ich schloss krampfhaft die Augen und lehnte mich zurück gegen den kräftigen Baumstamm. Ich schluchzte und mir stiegen die Tränen wieder hinauf. „Oh Jayden. Es tut mir ja so Leid!", schluchzte ich durch meine schmutzigen Hände hindurch, die ich mir fest ins Gesicht presste. „Es tut mir ja so unendlich Leid!" Ich schluchzte und konnte gar nicht mehr aufhören. Die Tränen rannen mir wie einen Wasserfall die Wagen hinunter. In dieser Nacht machte ich kein Auge mehr zu.
Über eine Woche verbrachte ich nun im Wald und war noch immer auf kein Dorf oder auch nur auf irgendeinen Menschen gestoßen. Ich saß auf dem feuchten Waldboden und machte eine Pause, als es auf einmal zu regnen begann. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich rutschte weiter unter einen Baum, doch selbst der konnte mich nicht viel mehr schützen. Der Regen platschte nur so auf mich herab. Plötzlich hörte ich etwas. Es hörte sich an als würde jemand über den Waldboden laufen. Ja, es hörte sich an wie Schritte. Ich hörte genauer hin. Das waren bestimmt nur wieder irgendwelche Tiere, versuchte ich mir einzureden, doch ich konnte es nicht verhindern, dass sich jede Zelle in meinem Körper anspannte. Doch da hörte ich sie erneut und sie kamen immer näher. Angespannt, wie eine Katze auf der Jagd, stand ich auf und versteckte mich hinter dem mit Efeu und Moos bewachsenen Baum. Ängstlich schaute ich hinter dem Baum hervor.
Ich erkannte dass es Soldaten waren. Keine Swaresk, aber sie konnten mich bestimmt dennoch ihnen ausliefern. Es waren zwei bewaffnete Männer mit jeweils einem Dolch am Gürtel und Langschwertern, so wie ich sie vom Unterricht im Schwertkampf kannte. Nur dass sie scharf waren. Scharf wie die Zähne eines Berglöwen.
Sie trugen keine Helme und so konnte ich die Gesichter erkennen. Der auf der linken Seite hatte eine dicke Knollennase und kurz geschorenes schwarzes Haar. Der Soldat neben ihm war etwas kleiner und schlanker als er und hatte braunes wuscheliges Haar. Er hatte ein sehr rundes Gesicht und ein stoppeliges Kinn. Die Rüstung der beiden war silberfarben und schwarz, und sah ziemlich robust und schwer aus. Zitternd fasste ich den Dolch fester an seinem verzierten Ledergriff. Die beiden liefen nur knapp neben mir vorbei und ich atmete erleichtert aus, dass sie mich nicht gesehen hatten. Ich wollte um den Baum herum laufen um mich auf der anderen Seite zu verstecken, falls sie sich nochmals umdrehen würden, doch da trat ich auf einen im Weg liegenden Ast. Es knackte laut und die Soldaten drehten sich wie auf einen Schlag um und sahen mich. In diesem Moment hätte ich mich am liebsten selbst geschlagen. Sie nickten sich zu und rannten auf mich zu. Ich ergriff die Flucht. Nein! Wie hatte das nur passieren können? Wieso war ich nur immer so unvorsichtig? Ich warf mir die schlimmsten Schimpfwörter an den Kopf, als ich so schnell ich konnte durch den Wald rannte.
Doch sie waren schneller. Der mit der Knollennase, packte mich und zog mich zurück. Er zückte sein Schwert und hielt es mir an die Kehle. Ich wagte nicht zu atmen. Mein Herz pochte rasend schnell in meinem Brustkorb. „Was tust du hier?", fragte er mit einer tiefen brummigen Stimme. Ich zögerte kurz. Mir blieb keine Zeit zu überlegen. „I- Ich...", stotterte ich und versuchte mich nicht zu bewegen. Wenn ich mich wehren würde, würden sie bestimmt noch mehr Verdacht schöpfen, doch dieser Mann widerte mich an. „Ich habe mich verlaufen.", brachte ich meinen Satz voll zu Ende und wartete auf seine Reaktion. Der braune Wuschelkopf kam ihm zuvor und sagte:" Und das sollen wir dir glauben?" „Ja.", sagte ich so glaubwürdig und entschlossen wie es nur ging, wenn man ein Schwert an der Kehle hatte. Die beiden lachten. „Und wo wolltest du denn hin, wenn ich fragen darf?", fragte der, der mich festhielt wieder und drückte mir mit seinem Arm schier die Luft ab. „Ins Dorf?!" Der Soldat wollte gerade antworten, als ich aus der Fehrne Hufgetrappel wahr nahm und vor uns einen Rappen mit einem jungen Mann erblickte.
„Hey! Was macht ihr da?", schrie er von weitem und der dicke lockerte seinen Griff ein wenig. „Sie ist auf das Gelände eingedrungen und behauptet sie hätte sich verlaufen.", sagte er unschuldig. Der junge Mann parierte sein Pferd zum Schritt durch und blieb ein paar Meter vor uns stehen. Er suchte meinen Blick und schaute mich an. Er war nicht viel älter als ich, stellte ich fest. Ich versuchte eine unschuldige Miene aufzulegen. Er stieg ab und fuhr sich durch sein leicht verwuscheltes, schwarzes Haar, dass nass an seiner Stirn klebte. Er hatte graue Augen, die leuchteten wie der Mond in einer klaren Nacht, was ihn irgendwie geheimnisvoll wirken lies. Ich musste zugeben, dass er ziemlich hübsch war.
Der Regen prasselte wie kieselsteine so laut wie fallende Kieselsteine auf uns herab und durchnässt unsere Kleidung.
Er tätschelte seinem Pferd den Hals und schritt auf mich zu. Ein paar Zentimeter vor mir blieb er stehen, legte den Kopf etwas schief und schaute mich abermals eindringlich an. Er überragte mich nur um wenige Zentimeter. Ich schluckte. Ich sah wie er überlegte und wünschte mir, dass ich nicht so schlecht im Gedankenlesen im Unterricht wäre und seine Gedanken hätte lesen können. Er antwortete erst nach einer Weile. „Lasst sie los. Ich werde sie mit nehmen und dann überlegen was mit ihr geschieht.", sagte er und nickte den Soldaten zu. „Und ihr geht weiter auf Patrouille!" Der Dicke lies mich los und ich konnte endlich wieder frei atmen. „Danke.", sagte ich leise. „Keine Ursache.", sagte er und lief zu seinem Pferd zurück.
„Steig auf und setzte dich hinter den Sattel.", sagte er und schaute mich unbeteiligt an. „Was? Nein! Ich kann nicht... Also ich meine: ich muss zurück.", sagte ich erstaunt und stolperte einen Schritt zurück. Wo wollte er mich hinbringen? Und wer war er überhaupt? „Steig schon auf oder soll' ich die Soldaten zurück rufen, dass sie dich hinrichten lassen?" Hinrichten? Er machte wohl Witze. Ich schluckte und senkte meinen Blick auf meine Stiefel. Wo war ich hier denn nur, dass man hier gleich hingerichtet wurde, wenn man nur den Wald betrat? Auf einmal nahm er meine Hand und griff nach dem Dolch. Meine einzige Waffe. Er steckte ihn sich an den Gürtel. „Ich möchte ja nicht dass du noch auf dumme Gedanken kommst.", sagte er und lächelte verschmitzt. „Und nun steig schon auf oder soll ich dich hinauf tragen?"
Ich schüttelte den Kopf und lief ans Pferd. Ich wusste selbst nicht wie mir geschah. Ich wollte das nicht, ich konnte das nicht. Aber ich hatte keine Wahl. Ich schob mein linkes Bein in den Steigbügel und schwang mich hinauf, dann rutschte ich hinter den Sattel. Der Rücken des Pferdes war ebenfalls nass und rutschig, wie alles hier im Wald. Ich war selbst erstaunt, dass ich das einfach so tat. Ich konnte mich doch nicht einfach zu einem Wildfremden aufs Pferd setzten, der mich sonst wo hin bringen würde. Aber ich hatte keine Wahl. Kurz darauf schwang er sich ebenfalls elegant in den Sattel und ergriff die Zügel. „Du kannst dich an mir festhalten. Und unterwegs erklärst du mir mal, wer du bist und was du hier willst." Zögernd, schlang ich meine Arme um ihn. Darauf trieb er sein Pferd an und der Rappe fiel sofort in einen lockeren Trab.
„Also, wer bist du und was machst du hier?", fragte er abermals. Ich hatte keine Ahnung was ich sagen sollte. Ich konnte ja wohl schlecht sagen, ‚Ich bin Grace Hawkins und eine Bändigerin. Die Swaresk haben mein Dorf vor ungefähr acht Tagen überfallen und meinen Freund mitgenommen. Was mit den anderen aus meinem Dorf passiert ist weiß ich nicht. Ich bin entkommen und hoffe dass mich die Swaresk nicht finden werden.' Nein, das wäre schlecht. Womöglich würde er mich gleich König Kiremsew ausliefern. Ich musste mir also etwas einfallen lassen. Also sagte ich das, was mir gerade in den Sinn kam. „Ich heiße Lydia." Das musste ihm ja ziemlich viel nützen, wie mir im Nachhinein auffiel. „Und weiter?", fragte er darauf wieder. Ich klammerte mich fester an ihn, als wir bergauf ritten und ich nach hinten zu rutschen drohte. „Willst du meinen Nachnamen wissen oder was?", fragte ich und wünschte mir gleich darauf, nicht so mit ihm gesprochen zu haben. Was viel mir nur ein? Ich sprach so mit einem wildfremden jungen Mann, der mich gerade vor dem Tod bewahrt hatte. Und ich hatte leider Gottes keine Ahnung wer er war, geschweige denn wo er mich hinbrachte.
„Das wäre schon einmal ein Anfang. Und außerdem möchte ich wissen was du hier im Wald vom König treibst." Ich erstarrte. Ich war in dem Gebiet von König Kiremsew? Nein, nein, nein. Das konnte doch nicht sein. Wie blöd musste ich wohl sein? Ich war vor den Swaresk entkommen und eine Woche später auf das Gelände des Königs gelaufen. Ich war direkt in die unscheinbare Falle getappt. Das war mein Selbstmordkommando...
„Was ist?", fragte er und drehte den Kopf etwas zurück, um meinen erstarrten Gesichtsausdruck zu sehen, als er bemerkt hatte wie angespannt ich war. Ich versuchte so unbeteiligt wie möglich zu schauen und versuchte nicht meinem Drang, vom Pferd zu springen und weg zu laufen nachzugehen. „Nichts. Ich wusste nur nicht, dass ich so weit vom Weg abgekommen bin, dass ich auf dem Gelände von Kiremsew gelandet bin." Er grinste und drehte sich wieder um. „Du glaubst also, dass ich dir glaube, dass du dich verlaufen hast?", fragte er und ich hätte zu gern sein Gesichtsausdruck gesehen. „Ja, dir bleibt ja wohl keine andere Wahl." „Oh doch. Glaub mir. Ich hätte eine Wahl, von der du gar nicht wissen möchtest, worin sie bestände.", antwortete er etwas zu schnell für meinen Geschmack. Ich schaute über seine Schulter nach vorne und entdeckte vor uns ein riesiges, schon abgeerntetes Stoppelfeld.
„Und wo wolltest du hin, wenn ich fragen darf?", fragte er und nahm die Zügel auf. „Ich wollte in unser Nachbardorf, Freunde besuchen.", mich erstaunte, wie leicht mir diese Lüge über die Lippen kam, aber ich bezweifelte, dass mein Schauspieltalent ausreichte, um ihn zu überzeugen. „Ich bin diesen Weg noch nie zuvor gegangen, aber alle haben mir gesagt, es sei eine Abkürzung, also hab ich diesen Weg genommen.", ich schluckte. "Ja, und dann muss ich wohl einen falschen Weg eingeschlagen haben." Keine Reaktion. Glaubte er mir etwa nicht? „Und wo liegt dein Dorf?", fragte er und ich zeigte mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung, in der mein Dorf wirklich lag. Man konnte ja nie wissen ob er vielleicht schon das Richtige vermutete. "Ich glaube dort, aber da ich mich verlaufen habe, kann ich das nicht so genau sagen." Ich spürte, dass er mir nicht wirklich glaubte, aber er fragte auch nicht mehr weiter nach. „Und wer bist du, wenn ich fragen darf? Woher stammst du?" „Das wirst du schon noch früh genug erfahren.", sagte er. "Aber ich heiße Damien. So viel kann ich dir sagen." Das war ja klar. Mich ausfragen und dann selbst nicht antworten, wenn es darum ging, zu sagen wer man selbst war.
„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?", fragte ich ihn. „Doch.", sagte er, und lachte. Er lachte einfach. Ich musste sagen, dass er ein schönes Lachen hatte, sodass ich fast automatisch mit einsetzen musste, doch ich zwang mich dazu es nicht zu tun. Mir war jetzt wirklich nicht nach Lachen zumute. „Und wo bringt Ihr mich jetzt hin?", fragte ich. „Das wirst du erfahren wenn wir dort sind." „Kannst du mich nicht einfach gehen lassen? Ich habe doch gar nichts getan.", fragte ich leicht aufgebracht und man konnte regelrecht die Verzweiflung in meiner Stimme hören. Ich hatte kein Ahnung wohin er mich brachte. Ich hoffte nur, dass es vielleicht in irgendeinem abgelegenen Dorf war, weit weg von Kiremsew und seinen Swaresk.
„Nein, dass kann ich nicht. Denn ich kaufe dir deine Geschichte nicht ganz ab, Lydia. Wer weiß mit welchen Absichten du hergekommen bist.", sagte er und hielt sein Pferd an.
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir eine Weile galoppieren würden? Wenn wir weiter so trödeln, kommen wir nämlich nie an und sind nicht nur bis auf die Haut durchnässt, sondern auch bis auf die Knochen." Er drehte den Kopf zu mir um und ich schaute in seine makellosen mondgrauen Augen.
Ich nickte, auch wenn ich mir nicht wirklich sicher war ob ich das wollte. Ich saß nämlich in meinem ganzen Leben, zum ersten Mal auf einem Pferd. „Gut festhalten.", warnte mich Damien noch, bevor er den Rappen in den Galopp fallen lies.
Ich klammerte mich so fest es ging an seinen muskulösen Körper und genoss den Rausch der Geschwindigkeit als, wir über das saftig gelbe Stoppelfeld preschten. Es fühlte sich an, als würde das Pferd jeden Moment seine Schwingen ausbreiten und davon fliegen.
Der Regen peitschte uns nur so ins Gesicht. Ich konnte das alles immer noch nicht glauben. Ich schaute zum Himmel hinauf. Inzwischen goss es wie aus Eimern und ich spürte, wie bereits meine ganz Tunika durchnässt war und mir die Kälte durch Haut fuhr.
Es war eine Mischung aus Freude und panischer Angst, als wir von einer Kurve aus dem Wald geritten kamen und ein riesiges Schloss erblickten.Zum einen war ich froh, dass wir angekommen waren und aus dem strömenden Regen kamen, der mich nun wirklich, wie Damien gesagt hatte, bis auf die Knochen durchnässt hatte, aber zum anderen hatte ich panische Angst vor dem Ort, andem wir angekommen waren.
Das besaß spitze Zinnen und Türme so hoch wie Berge und eine Burgmauer so hoch wie die Wipfel der Bäume. Ranken kletterten an ihr hinauf und ließen das Schloss auf eine eigenartige Weise geheimnisvoll wirken. Das Schloss war so unglaublich groß. Ein großer Schlossgarten zierte den Hof und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Staunen vor Überraschung und vor Angst.
Damien lächelte mir zu und schwang sich dann vom Pferd. „Wo sind wir?" Verwundert schaute ich zu, wie er irgendetwas an der Trense seines Pferdes hantierte. Dann schwang ich mich wenig später ebenfalls, wenn auch etwas ungelenk, vom Pferd. Ohne ein Wort von ihm, schwang das eiserne Schlosstor quietschend auf. „Am Hofe des Königs Kiremsew.", antwortet er reichlich spät auf meine Frage.
Nein, das konnte nicht sein. Hatte er bereits herausgefunden was ich war und war mit mir hergekommen um mich auszuliefern?
„Und was tust du hier?", fragte ich ängstlich und leicht panisch. „Ich wohne hier, Schätzchen.", sagte er lässig. „Ich bin Prinz Damien, Sohn von König Kiremsew."
Nein, nein nein! Das durfte doch nicht war sein.
„Das meinst du jetzt nicht ernst oder?", fragte ich und schaute mich um.
„Doch das meine ich ernst.", sagte er.
Ich schaute nach oben und erblickte erneut die emporragenden Zinnen und Türme des riesigen Schlosses. Was würde darin mit mir geschehen und was wäre, wenn sie heraus fänden wer ich wirklich war? Oder wusste Damien es bereits? Ich kannte ihn ja kaum und er war der Sohn des neugierigen, skrupellosen und brutalen Königs. Es war sehr wahrscheinlich, dass er genauso war, wie sein Vater, auch wenn ich das bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Auf einer der Zinnen wehte eine Fahne unseres Landes in den Farben grün und schwarz. Ich zuckte kurz erschrocken zusammen, als das Tor krachend den Weg in das Innere des Schlosses frei lies.
„Komm schon.", sagte Damien, als ich mich nicht rührte. „Ist das wirklich nötig? Könnt Ihr mich nicht einfach wieder gehen lassen?", fragte ich bettelnd und zitternd vor Kälte. „Es tut mir Leid, aber das kann ich nicht. Und jetzt komm." „Damien, ich kann nicht. Bitte lasst mich gehen.", sagte ich abermals bettelnd.
Ich konnte da nicht rein gehen. Wenn er heraus fände, wer ich wirklich war, würde er mich bestimmt den Swaresk oder direkt seinem Vater ausliefern! Angst machte sich in mir breit, als ich an all das dachte, was darin mit mir geschehen könnte.
Damien seufzte. „Komm jetzt oder ich lasse meine Wachen rufen, dass sie dich hinein schleifen." Nein, ich konnte da nicht rein. Das wäre Selbstmord. Wenn sie es heute oder morgen nicht herausfänden, würden sie es übermorgen herausfinden. Irgendwann würden sie es wissen und ich würde genauso enden, wie alle anderen, auch wenn ich nicht wusste wie. Würden sie uns Foltern? Umbringen? Oder...? Panisch sah ich mich um. Konnte ich noch fliehen? Ich machte einen Schritt zurück und drehte mich dann kurz entschlossen um, um die Flucht zu ergreifen.
Damien zögerte nicht. „Wachen!", rief er und gleich darauf stürmten ungefähr zehn uniformierte Wachen aus dem Inneren des Schlosses und liefen auf mich zu.
„Ergreift sie!"
Nein.
Die Wachen waren schneller bei mir, als ich bis fünf hätte zählen können. Zwei der Wachen packten mich an beiden Armen und zogen mich ruckartig ins Innere des Schlosses. Ich wehrte mich. Schlug und um mich. Versuchte sie abzuschütteln und wenn notwendig auch zu treten, doch es half nichts. Jeder Widerstand war zwecklos. Ich konnte mich aus dem festen Griff der Wachen nicht lösen.
„Mir hinterher.", sagte Damien fest und führte sein Pferd auf den Schlosshof. Kurz darauf blieb er stehen und übergab seinen Rappen einem dunkelhaarigen Stallburschen, der eilig mit dem Pferd in einem Stall, der sich auf der rechten Seite des Schlosshofs befand, verschwand. Fünf Boxen waren außen angebracht, sodass ich die hellen und dunklen, schnaubenen Pferdeköpfe sehen könnte, die in den Boxen standen. Links, befanden sich endlos viele Tore und in der Mitte war nur gepflasterter Boden. Ich konnte mir vorstellen, dass hier im Innenhof in lauen Sommernächten, bis spät in die Nacht gefeiert und getanzt wurde. Doch dieser Gedanke verflüchtigte sich schnell wieder, als ich mir der Realität mit einem Schlag wieder bewusst wurde.
Ruckartig versuchte ich meine Arme aus dem festen Klammergriff der Wachen zu lösen, doch ich konnte mich einfach nicht entwinden. "Lasst mich los!", rief ich aus zusammen gepressten Zähnen wütend hervor. Sie dankten es mir nur mit einem Stoß in den Rücken und griffen noch fester nach meinen Armen. Hinter uns fiel das Schlosstor wieder krachend ins Schloss.
Es war zu spät. Ich konnte nicht mehr fliehen.
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