Kapitel 32

Ich schaute mich nach rechts um.

Zögerlich traten einige Bändiger vor und näherten sich dem riesigen Schiff. Ava klammerte sich an die Hand von Andrew.

„Na das kann ja was werden.", hörte ich jemanden neben mir flüstern. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und erblickte das dunkle Gesicht von Max. Kurz schaute ich ihn erstaunt an. „Das glaube ich auch.", antwortete ich dann aber unbeteiligt.

Ob er wohl noch an den Kampf zwischen uns dachte? Ob es ihm nun Leid tat, gegen mich gekämpft zu haben? Ich wusste es nicht. Jedenfalls benahm er sich nicht anders, als sonst. Er war einfach wieder der Alte.

Als er spürte, dass ich ihn von der Seite eine Weile anschaute, drehte er seinen Kopf in meine Richtung und erwiderte meinen Blick eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. „Es tut mir Leid.", sagte er, dann stapfte er an mir vorbei zum Steg.

Langsam lief ich ebenfalls hinter den etwas schüchternen Bändigern her auf den Steg. Ich rutschte fast aus, als ich die ersten Schritte auf dem zugefrorenen Holzsteg machte. Die Planken waren spiegelglatt, was aber dummerweise unter der dicken Schneeschicht nicht zu sehen war. Nun vorsichtiger, schritt ich langsam den Steg entlang, bis ich an der Stegplanke ankam, über die die Bändiger vorsichtig auf das Schiff liefen. Ich schaute noch einmal nach hinten. Diese Besatzung war mir irgendwie nicht ganz geheuer, doch Chad nickte mir kurz zu, als ich ihn etwas verunsichert ansah. Wir mussten jede Chance nutzen, um weg von Santinija zu kommen, und das war vermutlich unsere einzige.

Ich lief über das riesige Schiff, bis zur Reling der anderen Seite und lehnte mich dort an. Dann schaute ich wieder zu den Soldaten und Captain Jartsow, die noch auf dem Steg standen und lautstark über den Preis verhandelten.

Ich ließ meinen Blick nach hinten über das Meer schweifen. Wellen rauschten in meinen Ohren und schlugen gegen das Ufer. Der eingefrorene Schilf am Ufer des Hafens wiegte sich leicht im Wind. Der Himmel war größtenteils von grauen Wolken bedeckt und wirkte auf uns eine bedrückende Stimmung aus.

Ich schaute hinaus aufs Meer. Eine grenzenlose Weite erstreckte sich vor uns. Wie weit war es wohl bis Etriest und waren wir dort wirklich in Sicherheit? Es wäre bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis uns Kiremsew und seine Swaresk wieder finden würden und was würde dann passieren? Wir könnten ja nicht ewig davon laufen, doch noch einen Kampf würden wir sicher nicht gewinnen.

Es klapperte, als einer der Männer der Besatzung die Stegplanke einzog und sich das Schiff langsam in Bewegung setzte. Damien wechselte noch ein kurzes Wort mit einem Soldaten, dann schaute er sich auf dem Schiff um. Als er mich erblickte, kam er auf mich zu und lehnte sich neben mich an die Reling.

„Wir haben es geschafft.", sagte Damien und schaute ebenfalls wie ich hinaus aufs Meer.

„Ja, das haben wir.", murmelte ich leise. „Aber es ist doch bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis die Swaresk uns wieder finden werden, oder nicht?", fragte ich etwas später und sprach somit meinen Gedanken aus, der mich die ganze Zeit beschäftigte. Doch eigentlich wollte ich die Antwort gar nicht hören, denn sie würde so oder so negativ ausfallen. Damien schüttelte den Kopf.

„Mach dir darüber keine Gedanken. Jetzt sind wir frei. Denk nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit nach.", sagte er und lächelte. „Lebe nur den Augenblick.", fügte er noch leise hinzu.

Er griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. Trotz der eisigen Kälte waren seine Hände warm und wärmten somit meine eiskalten Hände. Natürlich hätte ich mich selbst durchaus wärmen können, doch das Risiko, dass wir auffallen würden, wenn wir unsere Kräfte einsetzten war einfach zu hoch.

„Du hast Recht.", antwortete ich nach einer Weile, noch immer den Blick auf das grenzenlose Meer gerichtet.

Dieser Satz stimmte wirklich. Man sollte nicht über die Vergangenheit oder die Zukunft nachdenken, man sollte einfach den Augenblick leben, auch wenn es schwer war.

Es gab einen kleinen Ruck als das Schiff vom Steg absetzte. Ich hielt mich ruckartig an der Reling fest.

„Segel setzten!", kam der Befehl von Captain Jartsow, der sich nun auf den Weg die Treppe hinauf zum Steuerrad machte. Die Holztreppe knarzte, als er mit seinen schweren Lederstiefeln die Treppe hinauf stapfte.

Die Besatzung lief aus einer großen Kajüte mit einigen Fenstern und machten sich auf zu den beiden Mästen, an denen die riesigen Segel aufgerollt und befestigt waren. Die Männer riefen etwas, was ich allerdings nicht verstehen konnte und zogen gleichzeitig an den dicken Seilen um die Segel zu setzten. Das Segel blähte sich auf, als der Wind hinein blies und das Schiff nun schneller hinaus auf das Meer fuhr.

Captain Jartsow drehte das Steuerrad, sodass wir geradewegs hinaus aufs Meer fuhren.

„Männer!?", rief der Captain, schaute aber hinaus aufs Meer und nicht zur Besatzung. „Zeigt den Leuten ihre Kajüte!"

Ein großer, dünner Mann rief uns über die Schulter ein brummeliges „Mitkommen!", zu und machte sich auf den Weg nach hinten. Wir Bändiger und einige Soldaten folgten ihm.

Die alte, hölzerne Tür knarzte, als der schlaksige Mann sie aufzog und mit schweren Schritten die schmale Treppe hinunter stapfte und währenddessen die Ärmel seiner dunklen Jacke aus braunem Leder hinauf krempelte. Zögerlich liefen wir hinter ihm her. Er lief einen ebenso schmalen Gang entlang und riss anschließend eine andere Tür auf.

„Das ist eure Kajüte.", sagte er mit einer komischen Stimme, die wie ich fand, überhaupt nicht zu ihm passte. „Hier werdet ihr die nächste Zeit schlafen!"

Er schaute einmal durch die Runde und kratzte sich nebenbei an seinem stoppeligen Kinn. Er trat zur Seite und ließ uns hinein laufen. Mir stockte der Atem. Hier sollten wir alle schlafen? Der Raum war so groß wie mein Gemach im Schloss in Alentija!

Der ganze Raum war mit vielen alten und morschen Balken, die aus dem Boden ragten und bis zur Decke reichten durchzogen. Jeder Balken wurde mit mindestens drei Hängematten gefüllt. Die Hängematten waren aus schmutzigen Leintüchern gefertigt und waren an den Balken befestigt. Zwischen den Balken und den Hängematten war gerade einmal so viel Platz das man dazwischen hindurch laufen konnte. Aber das schlimmste war der Gestank. Es roch nach Schweiß, Fisch und Salzwasser.

Es war sichtlich nicht wie das große Himmelbett im Schloss, aber auf jeden Fall um einiges besser als noch eine Nacht draußen in der Kälte, im Land des ewigen Eises zu verbringen.

Der schlaksige Mann grinste breit und zeigte somit seine schmutzigen Zähne.

„Dann macht es euch mal gemütlich, ihr Landratten!" Er lachte und verschwand auch gleich aus der Kajüte. Bei welchen Leuten waren wir nur gelandet? Die Besatzung war sicherlich keine ganz normale, die Frachten von Libresch nach Santinija transportierte.

„Na dann", rief ein dunkelhaariger Bändiger namens Pijertsow, „suchen wir uns mal einen Schlafplatz aus!" Er seufzte, beschwerte sich aber nicht.

Wir hatten ja auch schließlich keinen Grund dazu. Unsere einzige Chance war die Flucht und wir mussten so schnell wie möglich weg von Santinija, sonst würden sie uns wieder finden und das ganze Spiel würde von neuem beginnen. Wir mussten jede Chance nutzen um hier weg zu kommen.

Die Bändiger quetschten sich alle gemeinsam in den Raum und verteilten sich. Jeder suchte sich eine Hängematte aus, auf der er sein Gepäck ablud. Zögerlich lief ich hinter Lewis, einem der Bändiger, her und suchte mir eine freie Hängematte. Als ich schließlich eine freie entdeckte schaute ich mich um. Die Soldaten, die uns begleiteten, und die Bändiger ließen ihr Gepäck und einige Waffen neben deren Hängematten sinken. Ich jedoch zögerte. Mir war die Besatzung wie schon gesagt nicht besonders geheuer.

Ich tat einen Schritt vor und erschrakt, als ich mit dem Fuß in den Boden einbrach. Schnell zog ich meinen Fuß wieder aus dem morschen Holzboden hervor und bückte mich. Alles ist gut, versuchte ich mich zu beruhigen, nichts ist passiert. Ich war nur auf eine morsche Holzplanke getreten, welche dann eingebrochen war.

Ich kniete mich neben dem Loch, ich Boden hin und hob die halb durchgebrochene Holzplanke an. Darunter war ein schmaler, aber langer Hohlraum. Flüchtig schaute ich mich nochmals nach hinten um. Niemand hatte es bemerkt. Ich zog mein Schwert aus der Scheide an meinem Gürtel. Es lag kühl und schwer in meiner Hand. Das Schwert hatte genau die Länge des Hohlraums und passte somit ganz genau hinein.

Natürlich konnten wir uns nicht Tag für Tag bis an die Zähne bewaffnet auf dem Schiff aufhalten, das würde nur Misstrauen erregen. Aber da ich keine Ahnung hatte, was uns die Tage oder Wochen, ich hatte keine Ahnung wie lange die Überfahrt nach Etriest dauer würde, noch erwarten würde, wollte ich auf Nummer sicher gehen. Unauffällig schob ich das Langschwert in den Hohlraum im Boden und deckte das ganze wieder mit der Holzplanke ab. Im Notfall hätte ich also immer noch eine Waffe. Den spitzen Dolch, der am Griff mit Leder überzogen war und mit sechs tief schwarzen, funkelnden Steinen verziert war, behielt ich zur Sicherheit aber lieber bei mir.

Als ich wieder aufstand, bemerkte ich, dass schon alle wieder gegangen waren. Ich war alleine hier unten. Der Raum war kalt und dunkel, aber da er so voll von Hängematten und altem Geröll und sonst irgendwelchem Zeug war, wirkte fast freundlich, wenn man das so behaupten konnte.

Als ich mich schließlich noch einmal umgeschaut hatte, lief ich ebenfalls wieder aus der kleinen Kajüte heraus und stieg die morsche Holztreppe wieder hinauf. Als ich meine Hand an auf die Türklinke der Tür, die an Deck führte, legte und sie öffnen wollte, kam mir jemand zuvor. Die Tür wurde aufgerissen und ich wurde von vier großen, breiten Männern umgerämpelt. Ich stolperte zur Seite und wurde mit dem Rücken gegen das ebenfalls morsche Geländer gedrückt.

„Tut uns Leid, Schätzchen!", rief einer der Männer, mit breiten Schultern, den ich ungefähr auf Mitte dreißig schätzte. "Vielleicht kann ich das eines Nachts ja wieder gut machen!?", rief er noch und zwinkerte mir zu. Die anderen liefen einfach vorbei und sprachen weiter mit ihrem tiefen nordischen Akzent, den ich fast nicht verstehen konnte. Sie beachteten mich nicht. Doch nach diesem Kommentar, war mir das auch nur recht.

Ich lief, nachdem die Männer lautstark die Treppe verlassen hatten, hinaus aufs Deck. Ein eisiger Wind wehte mir die Haare aus dem Gesicht und die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Es war so unglaublich kalt hier draußen. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und machte mich auf zur Reling.

Wir hatten uns schon weit vom Hafen in Ziresk entfernt, sodass man die großen und kleinen Schiffe, die am Hafen standen, nur noch als kleine farblose Punkte wahrnahm. Der eisige Wind zog uns schnell aufs Meer hinaus.

„Pijetro!", rief der Captain und drehte am Steuer, „bring mir den Kompass!" Ein junger Mann mit langen, leicht gewellten Haaren griff vom Hals an unter seinen Mantel und zog einen runden Kompass, hervor und warf es in hohen Bogen in die ausgestreckte Hand des Captains.

Ich lag in der alten Hängematte. Es war ganz still, bis auf das Schnarchen einiger Bändiger. Ich konnte nicht schlafen. Schon sehr lange lag ich wach und starrte an die Decke, die aus dunklen Holzplanken bestand. Die ganze Zeit dachte ich über das ganze Geschehen nach. Ich dachte über alles nach. Über das, für mich, ganz normale Leben in unserem kleinen Dorf, über den ersten Überfall der Swaresk und der Schwarzmagier, über meine Flucht, den Aufenthalt im Schloss, die Gefangenschaft und unsere Flucht, bis jetzt.

Wir waren ihnen entkommen!

Wir hatten es geschafft!

Wir hatten das unmögliche geschafft, was sonst noch niemand zuvor geschafft hatten. Wir waren den Swaresk, den besten Soldaten aus ganz Santinija entkommen. Ich konnte es nicht fassen.

Doch ich hatte meinen besten Freund verloren. Er hatte sich für mich geopfert. Er war für mich gestorben. Ich hatte meine Eltern verloren! Sie waren im Kampf gegen die Swaresk gestorben. Ich hatte ihnen nicht einmal mehr sagen können, wie sehr ich sie liebte und wie sehr ich sie vermisste. Oh ja, ich vermisste sie so sehr.

Wo würde unsere Reise hinführen? Was würde uns erwarten wenn wir in Etriest ankamen? Diese Fragen beschäftigten mich und ich fand keine Antwort auf sie.

Nach einer Weile wurde es mir jedoch zu blöd. Ich konnte ohnehin nicht mehr schlafen. Also schwang ich meine Beine aus der Hängematte, schlüpfte in die dunklen Lederstiefel und streifte mir meinen dicken Pelzmantel über. Dann stand ich auf und lief so leise es ging zwischen den Hängematten hindurch, bis zur Tür, die in den Gang führte.

Die Tür knarzte leise, als ich sie behutsam öffnete und wieder schloss, doch niemand wachte davon auf.

Leise schlich ich den Gang entlang und stieg die Treppe hinauf. Ich wollte nur kurz raus. Nur für einen kurzen Moment Luft schnappen. In der kleinen Kajüte mit vielleicht fünfzig Leuten, war es so stickig, dass es fast nicht auszuhalten war.

Ich öffnete die Tür und trat hinaus an Deck. Tief atmete ich die eiskalte Nachtluft ein und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Auch wenn es schrecklich kalt war, war es angenehm hier draußen zu sein und die kühle Nachtluft zu atmen.

Als ich die Augen wieder öffnete und ans andere Ende des Schiffes schaute, sah ich eine dunkle Gestalt an die alten Holzfässer gelehnt stehen. Mir blieb die Luft weg und ich hielt mich krampfhaft an der Reling fest.

Was war das?

Ich blinzelte und versuchte Genaueres zu erkennen, doch da war es auch schon verschwunden.

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