Kapitel 30
Ich sah alles wie durch einen Schleier. Damien zog oder trug mich fast durch die noch immer kämpfende Menge. Ich nahm aus dem Augenwinkel die schwarzen Mäntel der Schwarzmagier wahr, die ihre Hände erhoben hatten, um uns Bändiger zu schwächen. Ich wehrte mich so stark ich konnte gegen Damien. Wir durften sie jetzt nicht einfach alle im Stich lassen. Das wäre feige. Dann würde sich alles wiederholen. Dann würde ich genauso handeln wie damals. Doch ich hatte keine Chance gegen ihn. Er hatte mich so fest gepackt, dass ich mich kaum bewegen konnte.
Jemand rief etwas, das ich nicht verstand. Der Kampflärm war zu laut. Doch dann hielten alle inne und hörten auf zu kämpfen. Nun flohen die Bändiger. Sie hatten keine Wahl. Gegen die Schwarzmagier waren wir machtlos.
Auf einmal lockerte Damien seinen Griff und hielt mich etwas von sich, sodass er mir in die Augen schauen konnte. „Du musst mir vertrauen, Grace. Wir müssen jetzt so schnell es geht hier raus." Er suchte mit den Augen nach Anzeichen in meinem Gesicht.
Ich konnte nicht mehr klar denken und doch nickte ich.
„Vertraust du mir?", fragte er mich noch einmal und wischte mit dem Daumen eine Träne von meiner Wange.
Noch immer waren meine einzigen Gedanken an Jayden gefesselt. Ich hatte ihn zurück gelassen! Erneut!
Doch ich nickte stumm und schaute ihm tief in seine wunderschönen, mondgrauen Augen. „Ja. Ich vertraue Euch!", flüsterte ich noch immer mit Tränen in den Augen. Und das stimmte. Noch nie hatte ich jemandem so vertraut wie Damien.
Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen und er beugte sich zu mir hinunter und küsste mich flüchtig.
„Dann los!", flüsterte er und fasste mich an der Hand. Dann rannten wir Seite an Seite hinter den fliehenden Bändigern hinterher. Würden wir es schaffen? Ich wusste es nicht. Im Moment konnten wir nur hoffen. Die Flucht war unsere einzige Hoffnung.
„Lasst sie nicht entkommen!", ertönte hinter mir ein lauter Ruf. Doch wir hatten schon einen gewaltigen Vorsprung.
Ich drückte die Hand von Damien fester und er erwiderte den Händedruck. Ihn werde ich nicht verlieren!' erfasste ich einen Entschluss. Niemals!'
Was hatten die Bändiger getan, was die Swaresk aufgehalten hatte und uns schließlich den Vorsprung verleiht hatte? Ich hatte nichts mitbekommen. Ich war voll und ganz in der Trauer um Jayden versunken. Ich hatte ihn zurück gelassen! Wieder! Wie hatte ich das nur tun können? Als hätte Damien meine Gedanken gelesen flüsterte er gerade so laut, dass ich es hören konnte: „Er hätte es ohnehin nicht geschafft." Ich nickte stumm. Aber trotzdem ließ mich der Gedanke, ihn erneut zurück gelassen zu haben, nicht los.
Wir hatten nun die große Holztür erreicht, die hinaus aus dem Schloss führte. Die Bändiger vor uns brachen sie mit einer kurzen Bewegung auf und stürmten hindurch. Wie viele waren wir eigentlich noch? Wie viele hatten nach diesen beiden Kämpfen überlebt? Es waren nicht viele die vor und hinter uns das Tor hinaus stürmten. Ich stolperte neben Damien das Tor hinaus.
Mein Körper wurde noch immer von Schluchzern geschüttelt. Die Gedanken um Jayden kreisten in meinem Kopf. Der Schmerz war für mich wie ein Fels in der Brandung. Und ich wurde von den reißenden Wellen immer wieder gegen die Klippen geschleudert. Immer und immer wieder. Die Flut riss mich mit. Und es drohte niemals aufzuhören.
Als ich aufblickte sah ich die große Wiese hinter dem wunderschönen Schlossgarten, die von Schnee bedeckt war. Knöchelhoch lag der Schnee, der die ganze Landschaft bedeckte. Die Äste waren von einem weiß, glitzernden Frost überzogen, der aussah wie Zuckerguss und die Tannen waren von oben bis unten mit Schnee bedeckt. Der ganze Wald sah traumhaft schön aus, wie in einem Märchen. Doch leider war dies kein Märchen. Dies war ein leibhaftiger Albtraum.
Ich atmete tief die kalte Winterluft ein. Wie lange waren wir wohl schon hier unten festgehalten worden, wenn es nun schon tiefster Winter war? Doch ich wollte es gar nicht wissen.
Es knirschte, als wir Bändiger über die schneebedeckte Wiese rannten. Ich schaute zu Damien neben mir. „Wo sollen wir denn jetzt nur hin?" Ich schluckte.
„Keine Sorge, wir haben einen Plan.", sagte er und zog mich weiter mit sich.
Es war eiskalt hier draußen. Die schwarze Uniform war zwar dick, doch gegen die eisige Kälte konnte sie nicht standhalten. Nun verstand ich auch, wieso Chad, Damien und die anderen diese riesigen, dicken Umhänge trugen.
Der eisige Wind blies mir die langen Haare aus dem Gesicht und ich begann zu zittern. Mit meiner freien Hand zog ich den Kragen meiner Uniform höher, sodass mein Hals geschützt war.
„Wir müssen nur noch ein Stück weit.",hörte ich eine tiefe Stimme vor uns rufen. Ich glaubte, dass sie zu Chad gehörte, doch sicher war ich mir nicht.
„Nur noch bis zum Waldrand!"
Was hatten sie nur vor? Was war ihr Plan?
Als wir am Waldrand angekommen waren blieben wir auf einmal stehen und drehten uns zurück in Richtung Schloss. Nur wenige Swaresk hatten bis jetzt das Schlsos verlassen können, die meisten befanden sich noch tief im Inneren.
Ich drehte mich zu beiden Seiten um. Wir waren nicht viele.
"Wir lassen das Schloss einstürtzen!", rief jemand aus der Menge, den ich nicht sehen konnte. Was? Das war ihr Plan?
"Zusammen schaffen wir das!"
Ich drehte mich in die Richtung des Schlosses. Das wunderschöne Schloss mit seinen hohen Zinnen und Türmen und einigen Wänden aus Glas.
"Und was ist mit den andern im Schloss?", rief einer. "Wir können doch keine Unschuldigen töten!"
Sara.
Dean.
Selma.
Ich kannte sie kaum, doch sie hatten nichts mit der Sache zu tun. Und sie waren im Schloss und sie würden sterben wenn wir dies taten.
"Das wissen wir.", rief ein Solat. "Doch wir dürfen leider keine Rücksicht auf sie nehmen. Wir müssen hier weg und zwar so schnell wie es geht!"
Ich wusste nicht was richtig war. Sollten wir diese unschuldigen Menschen opfern um unsere Freiheit zu erlangen? Konnte man das wirklich tun? Doch insgeheim wusste ich keinen anderen Ausweg.
"Auf drei!", rief der Soldat.
"Eins!" Wir hoben unsere Hände und stellten uns in Position.
"Zwei!" Ich schluckte und kniff einen Moment die Augen zu. All diese unschuldigen Menschen! Ich öffnete meine Augen wieder und betrachtete ein letztes Mal das wunderschöne Schloss, indem so grauenvolles passiert war. Ich prägte mir alles für einen Moment nocheinmal genau ein.
"Drei!" Wir begannen die Bewegungen auszuführen. Wir rissen die Erde unter dem Schloss auf. Liesen die Türme und Zinnen des gewaltigen Schlosses erbeben.
Schreie waren zu hören.
Einzelne Gesteinsbrocken krachten aus der Fassade der glänzenden Schlossmauer, dann wurde es immer mehr. Es war ohrenbetäubend. So unglaublich laut, als die Türme und Zinnen und schließlich das ganze Schloss in sich zusammen fiel. Das Schloss brach in sich zusammen und unter ihm die Swaresk, die uns töten wollten und ein Haufen voller Unschuldiger. Eine riesige Staubwolke bildete sich um das ganze Schloss, dass nun nur noch aus Geröll bestand.
„Los!", schrie eine tiefe Stimme hinter uns. „Wir müssen weg!"
Ich drehte mich um und zog Ava mit mir. Wir Bändiger flohen nun in den Wald, doch wohin gingen wir? Wohin sollten wir denn gehen?
Eine Weile rannten wir einfach nur. Ich ignorierte die Kälte, die sich durch meine pechschwarze Uniform hindurch fraß und die Anstrengung, die mir zu schaffen machte. Ich hatte mich so lange nicht mehr richtig bewegt, dass ich nur schwer mithalten konnte. Die Frage wohin wir gingen beschäftigte mich die ganze Zeit über.
Noch immer rannen mir Tränen die Wangen hinunter, die wie ich das Gefühl hatte, zu gefrieren drohten.
Ich habe ihn zurück gelassen, ich habe ihn zurück gelassen!
Doch Damien hatte Recht, ich hätte ihm nicht mehr helfen können. Doch wieso hatte er sich für mich geopfert? Er war für mich gestorben! Wieso hatte er das nur getan?
Hätte ich das Gleiche auch für ihn getan? ging mir die Frage durch den Kopf. Ich wusste es nicht. Ich wäre es ihm schuldig gewesen und doch wusste ich es nicht. Er war mir überhaupt nichts schuldig gewesen. Ich war die, die auf ewig in seiner Schuld gestanden hatte, da ich ihn zurück gelassen hatte. Ich war diejenige gewesen und doch hatte er sein Leben für meines aufgegeben.
„Oh Gott, Jayden." Flüsterte ich in die eisige Kälte und wischte mir eine Träne von der Wange.
Mein keuchender Atmen zeigte sich vor mir in einer hauchdünnen, weißen Wolke. Ich zitterte. Es war so unglaublich kalt hier draußen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielten wir endlich an. „Wir haben es fast geschafft!", hörte ich die Stimme von einem Soldaten, der ebenfalls wie Damien und Chad einen dicken Pelzmantel trug.
„Sie werden uns nicht mehr erwischen. Wir haben schon einen zu großen Vorsprung, außerdem wird es dauern, bis sie aus dem Schloss heraus kommen werden. Wenn überhaupt jemand überlebt hat." Er nickte uns zu. „Wir haben den Plan an die Küste zu gehen. Von dort aus werden wir mit dem nächst besten Schiff nach Etriest fliehen."
Ich schaute nach rechts und blickte zu Ava die ebenfalls zitternd neben mir stand.
„Wie sollen wir dort hin gelangen? Das ist doch bestimmt schrecklich weit weg!?", flüsterte Ava mir zu. Ich schaute wieder nach vorne zu dem Soldaten. Er sah entschlossen auf.
„Ich weiß es nicht, aber wir werden es schaffen. Wir sind ihnen entkommen und noch einmal werden wir uns von ihnen nicht schnappen lassen.", sagte ich. Dieser Satz sprach nicht nur Ava, sondern auch mir Mut zu. Das brauchten wir.
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