4. Walk This Way

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https://youtu.be/4c8O2n1Gfto

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Als Jay aufwacht, steigt ihm der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase. Ein wohltuender Duft, der ihn sofort aus dem Halbschlaf reißt. Er schaut auf die Uhr – es ist 8:27. Da bemerkt Lzzy seine Bewegung und ruft ihm fröhlich zu: „Guten Morgen!"

Er setzt sich langsam auf, dehnt sich ausgiebig, der Rücken tut weh. Die Couch hat ihre Spuren hinterlassen – man ist eben nicht mehr zwanzig. Er dreht sich zu ihr, als sie mit zwei dampfenden Bechern Kaffee in der Hand auf ihn zugeht. Lzzy scheint auch gerade erst aus dem Bett gestiegen zu sein. Sie trägt ein riesiges Band-T-Shirt, und nach einem Moment erkennt Jay das Logo: Master of Puppets – also Metallica. Ihre weite, schwarze Nachthose passt perfekt dazu.

Jay schiebt die Decke zur Seite, um ihr Platz zu machen. Während sie sich auf die Couch setzt, sagt er verschlafen: „Guten Morgen!"

Sie schaut ihn an und nippt an ihrem Kaffee. „Wie war die Nacht?" fragt sie, neugierig.

Jay stöhnt ein wenig und greift sich an den Rücken. „Mittelprächtig. Ich glaube langsam wirklich, dass ich alt werde."

Lzzy grinst, als sie den Grund vermutet: „Die Couch?"

Er nickt. „Ja, aber danke trotzdem, dass ich hier schlafen durfte."

Lzzy hebt ihren Becher und nimmt noch einen Schluck Kaffee. „Da nicht für. Ich habe die Nacht noch genutzt, um zu recherchieren." Sie deutet auf den offenen Laptop auf ihrem Bett, der noch warm von ihrer nächtlichen Arbeit ist. „In deinem Haus ist etwas passiert. In der Zeitung stand, dass eine Frau im Garten gefunden wurde, wahrscheinlich erhängt. Ich habe weiter nachgeforscht. Sie war verheiratet, ihr Mann zog später weg. Die Leute sagten, er würde immer den Geist seiner Frau sehen. Es heißt, er sei aus dem Haus geflüchtet."

Jay verschluckt sich fast an seinem Kaffee, das kommt völlig unerwartet. Warum hat niemand ihm davon erzählt, als er eingezogen ist? Es hatte ihn nur gewundert, dass die Wohnung so günstig war, aber jetzt wird ihm langsam klar, warum. Er starrt sie an und fragt dann: „Du meinst, dass ich SIE gesehen habe? Also den Geist der Frau, die da umgekommen ist?"

Sie nickt und antwortet ruhig: „Das wäre naheliegend."

Jay runzelt die Stirn, das hatte er sich immer anders vorgestellt: „Aber warum ist sie noch da? Gehen Menschen nicht einfach ins Licht, wenn sie sterben, damit sie Frieden finden? Ich verstehe das nicht."

Lzzy nimmt einen weiteren Schluck Kaffee, bevor sie ihm zu erklären versucht: „Manchmal ist es nicht so einfach. Dann verweilen die Seelen der Verstorbenen noch auf der Erde, aus verschiedenen Gründen. Meistens sind sie an einen Ort gebunden, das sollte dir seit gestern klar sein."

Jay nickt, während er einen großen Schluck Kaffee trinkt. Jetzt erinnert er sich daran, dass sie dieses Thema schon gestern angesprochen haben: „Stimmt, das hatten wir gestern schon, oder? Aber warum bleiben sie dann hier? Aus welchen Gründen genau?"

Lzzy überlegt einen Moment, bevor sie ruhig fortfährt: „Es kann vieles sein. Ein Gegenstand, der sie hier festhält, oder etwas, das sie noch erledigen wollen. Vielleicht geschah ihnen Unrecht und sie können nicht loslassen."

Jay schaut nachdenklich auf den Boden und nickt dann langsam: „Und wie findet man heraus, was das ist?"

Lzzy denkt nach, dann erklärt sie: „In deinem Fall habe ich ihren Mann gefunden. Ich denke, bevor wir in deine Wohnung fahren, sollten wir ihn heute besuchen. Er lebt nicht weit entfernt, vielleicht erfahren wir von ihm, warum der Geist noch hier verweilt."

Jay sieht sie skeptisch an. Er kann sich nicht vorstellen, dass dieser Mann ihnen einfach so Auskunft erteilen wird: „Warum sollte er uns helfen, wenn wir alte Geschichten aufwühlen?"

Lzzy lächelt ihm zu, ein Ausdruck, der Jay misstrauisch macht: „Ich denke, ich habe da eine Idee."

Er legt seinen Kopf schief und starrt sie an. Es ist ihm fast klar, dass sie etwas in der Hinterhand hat. „Und zwar?"

Lzzy steht auf und geht zur Kommode auf dem Flur. Sie öffnet sie und holt zwei Lederausweismappen heraus. Mit der zweiten in der Hand fährt sie ein paar Mal mit dem Finger über das Leder, als würde sie sich sammeln. Ein Moment der Stille, bis sie regungslos stehen bleibt.

Jay bemerkt das und fragt leise: „Ist alles in Ordnung?"

Ein Ruck fährt durch sie, als würde etwas Dunkles aus der Vergangenheit wieder hochkommen. Die Erinnerungen scheinen sie zu übermannen. „Ja, alles gut. Es ist nur..." Sie macht eine kurze Pause, dann fährt sie fort: „Ich habe lange nicht mehr den zweiten..."

Wieder hält sie inne, atmet tief ein. Jay spürt, dass etwas in ihr arbeitet. Er steht auf und geht zu ihr, merkt, dass sie etwas beschäftigt. „Was ist los?"

Als er neben ihr steht, dreht sie sich zu ihm, blinzelt ein paar Mal, um die Fassung zu bewahren. „Nein, wirklich alles gut!"

Doch Jay kann das nicht ganz glauben. „Bist du sicher?" Er sieht ihr tief in die Augen, als sie nur kurz schluckt, dann nickt sie zögerlich.

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Sie hat so viel verloren. Jeder, der ihr etwas bedeutete, der sie unterstützte, ist nicht mehr da. Die Erinnerungen fluten sie, überwältigen sie, und Tränen sammeln sich in ihren Augen.

Sie dreht sich weg, räuspert sich, und blinzelt die Tränen schnell weg. Dann zieht sie ihre Mauern wieder hoch, versteckt ihre Emotionen hinter einer undurchdringlichen Fassade

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Dann dreht sie sich zu Jay und drückt ihm ein Lederetui in die Hand. Ihr Blick bleibt für einen Moment auf ihm, während sie darauf wartet, dass er es öffnet.

Er betrachtet das Etui neugierig, öffnet es dann vorsichtig und schaut auf den Ausweis darin. „Landeskriminalamt?" fragt er, als er das Emblem erkennt und den Text liest.

Sie lacht beinahe, als wäre das alles nur ein kleiner Scherz: „Ja, wir wollen den Fall neu aufrollen. Es sind Unstimmigkeiten aufgetreten."

Jay zieht die Stirn kraus, als er den Namen auf dem Ausweis liest. „Mike Fassbender?" Dann dreht er den Ausweis, liest den Namen auf dem nächsten und wiederholt: „Diane Krüger." Ein skeptischer Blick trifft sie, während er den Kopf schieflegt. „Ernsthaft?" fragt er, nicht sicher, ob sie wirklich damit durchkommen will.

Sie grinst nur und zuckt mit den Schultern: „Was denn, hat immer funktioniert!" Ihre Antwort klingt wie eine Herausforderung, als ob sie das Spiel schon lange spielt und weiß, wie man es gewinnt.

Jay merkt plötzlich etwas: „Gut, dass sie keine Fotos drauf haben!" Er schüttelt den Kopf, während er sich die Ausweise noch einmal ansieht. Es fühlt sich alles ein wenig zu einfach an, fast wie ein Spiel, das sie perfektioniert hat. Doch dann kommt ihm ein weiterer Gedanke. „Trotzdem haben wir dann ein Problem."

Lzzy sieht ihn an, ein spöttisches Funkeln in ihren Augen. Sie kneift die Augen zusammen, als wolle sie sich ein Bild von ihm machen. Ihr Blick wandert von oben nach unten und mustert ihn dabei von Kopf bis Fuß. Jay steht vor ihr in seinem T-Shirt, der ausgefransten Trainingshose und Socken – eindeutig nicht das Outfit eines Kriminalbeamten.

„Na ja, ich kann da ja schlecht, in meinem Freizeit Outfit, als Beamter auftauchen." Jay hebt die Hände und sieht sich selbst an, als müsse er es erst glauben.

Lzzy hält sich kurz den Mund zu, um ein Lächeln zu unterdrücken, bevor sie antwortet: „Gutes Argument! Warte kurz." Dann geht sie zielstrebig in ihr Schlafzimmer und öffnet eine Kommode, als wüsste sie genau, was sie braucht, um die Situation zu retten.

Jay hört, wie Lzzy im Zimmer herumräumt, das Rascheln von Kleidung und das Schieben von Gegenständen hallt durch den Raum. Langsam, fast zögerlich, geht er mit dem Kaffeebecher in der Hand zum Schlafzimmer und lehnt sich an den Türrahmen. Er beobachtet sie, während sie in einem großen Reisekoffer wühlt, der auf dem Bett liegt. Es scheint, als suche sie verzweifelt nach etwas, das sie schnell ausfindig machen will.

„Ha!" ruft sie schließlich triumphierend und wirft ein weißes Hemd, eine schwarze Hose und ein dunkelgraues Sakko aufs Bett.

Jay ist mehr als nur verwundert und kann kaum fassen, was er da sieht. „Äh, warum hast du Männerkleidung?" fragt er, während er die Kleidung skeptisch mustert.

Lzzy dreht sich zu ihm um, als ob sie auf diese Frage gewartet hätte: „Von meinem Vater, er hatte deine Statur. Das sollte dir passen."

Jay bleibt für einen Moment still, die Worte sinken tief ein. Das hat er nicht erwartet, und es fühlt sich irgendwie unangemessen an, auch wenn er es nicht aussprechen will. Schließlich öffnet er den Mund: „Lzzy, ich kann doch nicht die Sachen deines verstorbenen Vaters anziehen. Das steht mir nicht zu."

Doch Lzzy wird plötzlich ernst, ihre Augen verdunkeln sich und sie schließt den Koffer. „Ich habe den Koffer sieben Jahre unangerührt unter dem Bett liegen lassen. Wenn ich die Sachen nur liegen lasse, wird das meinem Vater nicht gerecht. Er hätte es so gewollt, glaub mir." Ihre Stimme klingt fest, als ob sie sich sicher ist, dass dies die richtige Entscheidung ist.

Jay sieht sie an, seine Augen weiten sich, während er die Bedeutung ihrer Worte erfasst. „Bist du dir da wirklich sicher?" fragt er fast flüsternd, als hätte er Angst, zu viel von ihrer Trauer aufzurühren.

Lzzy packt die Kleidung vom Bett, nimmt sie und drückt sie ihm in die Arme. Ihre Geste ist unmissverständlich – sie lässt ihm keine Wahl. „Das Bad ist hinten rechts."

Jay bleibt einen Moment stehen, die Kleidung fest in seinen Armen haltend. Es fühlt sich irgendwie falsch an, aber in Lzzys Augen erkennt er, dass sie wirklich hinter dieser Entscheidung steht. Ohne ein weiteres Wort nickt er und geht ins Bad, um sich umzuziehen.

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Damit sind alle Fragen geklärt. Auch Lzzy verschwindet durch eine zweite Tür im Schlafzimmer, die fast verborgen hinter dem Bett ist. Es ist ein kleines, aber praktisches Detail: das Schlafzimmer hat ein eigenes Bad.

Nach ein paar Minuten tritt Jay frisch geduscht und umgezogen aus dem Badezimmer. Die Kleidung, die Lzzy ihm ausgehändigt hat, passt ihm überraschend gut. Er sieht jetzt völlig anders aus – er könnte beinahe als Beamter oder vielleicht als Bänker durchgehen. Ein Moment des Zögerns, dann tritt Lzzy ins Wohnzimmer. Als Jay sie ansieht, weiß er nicht, was er sagen soll. Sie trägt einen eleganten schwarzen Hosenanzug und eine schlichte weiße Bluse. Ihr Make-up ist dezent, und ihre Haare sind streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Das alles bringt ihre Augen umso mehr zur Geltung.

„Wow!" ist alles, was ihm entfleucht. Jay ist sichtlich überrascht, denn so hat er sie noch nie gesehen. Sie wirkt fast unkenntlich.

Lzzy mustert ihn ebenfalls, ein breites Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. Auch er hat sich verändert. Seine langen, dunklen Haare sind ebenfalls zu einem Zopf zusammengebunden, und die Kleidung von Lzzys Vater lassen ihn völlig anders wirken. Sie lässt ihren Blick langsam von oben bis unten wandern, bleibt dann jedoch an einem Detail hängen. Das Hemd ist nicht in der Hose, was ihm einen legeren, aber dennoch schicken Look verleiht. „Ich bin beeindruckt! Aber wenn wir vom Kriminalamt kommen, solltest du förmlich wirken. Vielleicht das Hemd in die Hose!"

Jay schmunzelt und antwortet ernst: „Wird gemacht!"

Nachdem sie fertig sind, machen sie sich auf den Weg. Lzzy holt die Ausweise heraus und reicht einen an Jay. Ihr Grinsen ist ansteckend, und für einen kurzen Moment scheint die Stimmung wieder etwas leichter. Doch die Wehmut schwimmt weiterhin in ihren Augen, auch wenn sie sich versuche, nichts anmerken zu lassen. „Denk dran, du bist Herr Fassbender!" Sie sieht ihm dabei tief in die Augen, als wollte sie sicherstellen, dass er die Rolle versteht.

Jay nickt, obwohl er sich nicht sicher ist, ob er wirklich bereit ist für das, was jetzt kommt. „Ja, ja... Herr Fassbender."

Lzzy deutet dann mit einer Hand zu Jay. „Du fährst!" Doch sie hält inne, als ihr plötzlich einfällt, dass sie nicht weiß, ob er mit dem Auto da ist. Er hat gestern Abend vor ihrer Tür gestanden, aber sie hat nicht darauf geachtet, ob er gefahren oder gelaufen war.

„Du bist doch mit dem Auto da, oder?" fragt sie.

Jay lacht leise. „Natürlich, Frau Krüger!" Lzzy muss ebenfalls schmunzeln. Es ist sinnvoller, mit seinem schwarzen Kombi vorzufahren, als mit ihrem knallroten Kleinwagen.

Dann verlassen sie die Wohnung, gehen zum Auto und fahren los.

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Es dauert nicht lange, bis sie das Nachbardorf erreichen. Ein Vorteil ihrer neuen Kleidung ist, dass sie so niemanden erkennen werden. Normalerweise würden sie nie in so formeller Kleidung herumlaufen, aber heute ist alles anders. Lzzy dirigiert ihn zu der besagten Adresse und liest weiterhin auf ihrem Handy. „Unser Mann heißt Torben Hoffgen. Überlass mir das Reden." Jay nickt, auch wenn er sich noch immer nicht ganz sicher ist, was er von all dem halten soll.

Einige Minuten später erreichen sie das Ziel, steigen aus und gehen in Richtung Haustür. Kurz davor bleiben sie stehen. Lzzy schaut ihn an und fragt: „Bereit?" 

Jay fühlt sich in seiner neuen Rolle nicht wirklich wohl, aber statt es zuzugeben, zuckt er mit den Schultern und sagt nur: „Ich denke schon."

Lzzy streicht ihm beruhigend über den Arm und holt tief Luft, als ob sie sich selbst noch einmal sammelte. Sie schauen beide auf das Namensschild an der Tür: „Hoffgen" – sie sind richtig. Ein letzter Atemzug von ihr, dann ist es auch an Jay, tief Luft zu holen, bevor Lzzy auf die Klingel drückt.


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