16 - Einer von uns

[Louis]

Die Monitore piepsten leise im gleichmäßigen Ton, das Zimmer war dunkel, an die Scheiben prasselte der Londoner Regen unerbittlich im selben monotonen Rhythmus wie schon seit Stunden. Ich saß in dem unbequemen Sessel neben dem Bett meines Vaters und konnte mich nicht rühren. Das Handy hielt ich in meiner Hand, immer noch den Daumen schwebend über Harry's Kontakt in meinem Telefonbuch. Ich wollte ihn unbedingt anrufen, das wollte ich schon seit heute morgen. Doch es kam mir unpassend vor. Ich wollte ihn nicht belasten.

Gegen sieben Uhr heute früh hatte mich der Pager unsanft aus meinem Tiefschlaf gerissen. Notfall stand darauf und ich war sofort aufgesprungen und hatte mich angezogen, war mit dem Taxi zum Krankenhaus gefahren und nach oben auf die Station gerannt.
Dr. Shepherd hatte mich auf dem Gang bereits erwartet. Er sprach von einem zweiten Anfall, einem diesmal schlimmerem Ausmaß und dass die Chancen für meinen Dad nochmals gesunken waren.

Jetzt saß ich nun hier, es war mittlerweile bereits 17 Uhr und ich hatte mich nicht aus dem Zimmer bewegt. Er sah noch immer so klein und müde aus, wie er da in dem Bett lag. Nichts erinnerte mehr an den starken Mann von damals. Mir kamen die Tränen. Ich hatte gestern endlich einmal losgelassen und den Augenblick genossen, so wie Mom und Dad es sich für mich wünschten. Ich hatte es wirklich genossen und ich bereute es auch nicht. Doch gleichzeitig fühlte es sich an wie ein Schlag, dass jetzt wieder etwas schief ging. Es fühlte sich nicht fair an.

Eine Schwester betrat den Raum und stellte mir eine Tasse Tee hin. "Sie haben noch gar nichts getrunken oder gegessen, Mr Tomlinson. Soll ich Ihnen etwas zu essen bringen?" fragte sie sanft und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich schüttelte den Kopf, sagte nichts und sah weiter auf meinen Dad.
"Okay." Die Schwester verließ leise wieder das Zimmer und ich schniefte leise. Ich wusste genau, dass meine Hoffnung auf eine Heilung nun noch um ein vielfaches kleiner geworden waren. Da konnte auch mein Medizinstudium nichts mehr ausrichten, das war mir klar. Bis ich fertig war, würden noch etliche Jahre vergehen. Jahre, die mein Dad nicht hatte.
Dr. Shepherd hatte mir zwar gesagt, dass er noch immer dabei war, unseren Fall genaustens zu prüfen, doch mir wurde immer mehr bewusst, dass auch er wohl keine Möglichkeit finden würde. Und selbst wenn es so wäre, dann wäre es noch immer nicht gesichert, dass die Krankenversicherung die Kosten für eine OP übernehmen würde. Ich musste anfangen, mir einzugestehen, dass es vielleicht wirklich keine Rettung mehr gab.
Schluchzend zog ich die Beine näher an mich heran, schlang die Arme mehr um sich selbst, doch dann realisierte ich was ich tat. Ich sollte hier im Krankenhaus nicht so einbrechen, nicht vor Dad. Also atmete ich tief durch und setzte mich aufrechter hin, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
"Sorry, Dad." flüsterte ich und zwang mich selbst dazu, mich zusammenzureißen. Ich war in der Öffentlichkeit. Naja, gewissermaßen.
Mein Nachrichtenton durchbrach die Stille und ich blickte auf mein Handy. Harry hatte mir geschrieben. Sofort schlug mein Herz ein bisschen schneller. Er fragte mich, wie es mir ging. Was sollte ich darauf antworten? Ich wusste es nicht. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ging eine zweite Nachricht ein.

Kommst du mit uns in's Willers heute?
Wir gehen gleich los, Zayn, Kelly und ich.
Die anderen haben abgesagt. Ich würde mich so freuen...

Ich sah wieder auf die Uhr und dann zu Dad. Ich weiß wenn er wach wäre, würde er mir jetzt sagen ich soll hingehen und Spaß haben. Abgesehen vom Spaß haben, denn das würde ich sicher nicht so wie er es sich wünschte, wollte ich hin. Ich wollte Harry sehen. Und er hatte gesagt, er würde sich freuen.
Ich stand auf und rückte noch einmal Dad's Decke gerade. "Bis morgen." wisperte ich, strich über die blasse Haut seines Handrückens und versuchte zu ignorieren, dass man jede Ader durchscheinen sehen konnte.
Leise ging ich aus dem Zimmer, da kam mir die Schwester von vorhin wieder entgegen und lächelte mich freundlich an.
Ich schenkte ihr ein zaghaftes Nicken. "Ich komme morgen wieder."
"Natürlich! Wenn etwas ist, rufen wir Sie an!" entgegnete sie mir mitfühlend. Sie war wirklich nett zu mir und ich war ihr dankbar dafür.
Mit flauem Gefühl im Magen lief ich aus dem Krankenhaus heraus um in die Bar zu den anderen zu gehen.

***

Nach meinem Weg betrat ich die Bar und bei dem Geruch von Essen und Alkohol meldete sich mein Magen lautstark. Ich hatte weder gegessen noch getrunken, mein Blutzuckerspiegel war sicherlich absolut im Keller und ich spürte jetzt erst die Auswirkungen. Ich war müde, zittrig und mir war auch leicht schwindelig. Mist, ich musste dringend etwas essen.
Ich sah mich nach den anderen um und erkannte sofort Harry, der mit dem Rücken zu mir saß. Ich erkannte ihn dennoch an seinen Haaren. Mein Magen rebellierte sofort und mein Herz setzte einen kleinen Schlag aus. Was war nur los mit mir?
Ich lief zum Tisch und Kelly entdeckte mich als erstes. Sie fing an zu strahlen, im selben Moment jedoch verwandelte sich dies zu einem geschockten Gesichtsausdruck und ich wurde langsamer. "Oh mein Gott, Loulou!" rief sie aus.
Erst jetzt fiel mir auf, was ich für ein Bild abgeben musste. Mit Sicherheit hatte ich zerzauste Haare und Augenringe. Ich trug eine Jogginghose und einen übergroßen Hoodie, der damals von Dan übrig geblieben war nach unserer Trennung. Ich hatte heute morgen wahllos Kleidung aus dem Schrank gezogen in der Eile. Er trug die Aufschrift Boyfriend Material und noch niemals im Leben war mir etwas peinlicher. Ich betete zum Himmel, dass es niemandem auffallen würde. Aber was redete ich da. Natürlich würde es ihnen auffallen. Gleich würden sie vermutlich anfangen zu lachen.
"Was ist denn mit dir passiert, Loulou geht es dir gut? Ist irgendwas passiert?" Kelly sprang auf und legte die Hände auf meine Arme, musterte mich kurz und zog mich dann in eine feste Umarmung. Überfordert erwiderte ich nicht und blickte zu Zayn, der mich nicht weniger erschrocken ansah. Mir war das so unglaublich unangenehm.
Sie löste sich von mir, ergriff aber meine Hände und sah mich besorgt an.
"Ich...nein, es ist...also..." stammelte ich wenig intellektuell, weil ich nicht wusste was ich sagen sollte.
"Du zitterst ja" stellte sie mit einem Blick auf meine Hände fest und ich nickte leicht, sah auf den Boden. "Hast du geweint?"
"Nein, also...n-nein.." begann ich wieder, meine Knie wurden ganz weich. Ich fühlte mich als würde ich gleich umfallen, doch da spürte ich, wie sich ein Arm um meine Hüfte legte und ich blickte zur Seite, wieder einmal direkt in seine Augen.
"Lou..." sagte er ganz leise und ich schluckte, nickte leicht. Und mit einem Mal konnte ich die schon deutlich bröckelnde Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Nicht vor ihm.
Tränen schossen mir in die Augen, ich schluchzte auf, so sehr ich es auch vermeiden wollte. Harry reagierte in Windeseile, zog mich behutsam mit auf die Sitzbank und schloss die Arme fest um mich. Ich schlang meine Arme um ihn, drückte mich an ihn und fing einfach an zu weinen. Ich wollte das nicht. Nicht hier. Aber wenn ich bei Harry war, schien mein Gehirn alles andere um mich herum einfach auszublenden.
"Hey, hey..ganz ruhig..." murmelte er immer wieder, strich mir über die Haare. "Er hatte wieder einen Anfall..." flüsterte ich so leise wie möglich, damit nur Harry es hören konnte. "Heute morgen. Schlimmer als der letzte."
Harry's Griff wurde fester und er platzierte einen Kuss auf meinem Kopf. "Das tut mir so leid, Lou" gab er genauso leise wieder zurück.

"Das bringt so nichts. Lasst uns gehen. Wer wohnt am nächsten dran?" hörte ich Zayn sagen.
"Er." antwortete Harry, meinte mich damit.
"Okay" erwiderte Zayn. "Wir bringen ihn heim und bestellen Pizza. Er braucht Ruhe, keine laute Bar."
Ich hörte, wie sie aufstanden und ich spürte einen sanften Druck von Harry. Ich ließ mich von ihm hochziehen, zog mir die Kapuze mehr über den Kopf, ich wollte nicht dass die anderen Gäste mich sehen konnten.
Vor meinem Gesicht tauchte Kelly auf. Sie sah mir kurz in die Augen, lächelte mich ganz sanft an und zupfte dann ein wenig an meiner Kapuze, damit diese mein Gesicht richtig bedeckte, dann verschwand ihr Gesicht wieder.
Harry bugsierte mich mit festem, aber sanftem Griff aus der Bar und lief mit mir die wenigen Minuten nach Hause.
"Lou, die Schlüssel?" fragte er mich, als wir ankamen.
Ich kramte sie aus meiner Hosentasche und gab sie ihm. Er schloss die Tür auf und gemeinsam gingen wir alle nach oben.
Sanft platzierte er mich in der Wohnung auf der Couch und ich zog die Kapuze ab, atmete tief durch und sah zu den anderen. Als diese sich umsahen, erschrak ich mich. Ein kurzer Blick hier sagte alles. Neben der Couch stand ein Krankenbett, auf dem Couchtisch noch die verschiedenen Medikamente, zusätzlich die Rehazentrum-Broschüren, leeren Urinflaschen, Spritzen. "Oh mein Gott...nein..." hauchte ich.

Harry setzte sich neben mich und streichelte mir über den Rücken. "Alles gut. Lou, du kannst uns vertrauen." sprach er sanft. Ich nickte leicht, glaubte ihm jedoch nicht richtig. Wie würden sie reagieren?
Unsicher sah ich Zayn an, der sich noch immer ein Bild machte und zu mir schaute, als er meinen Blick bemerkte. Sanft lächelte er mich an, so als würde er mir zeigen wollen, dass alles gut wäre.
Kelly neben ihm musterte die Medikamente auf dem Tisch. "Bist du..." setzte sie an.
"Nein" unterbrach ich sie sofort. "Ich bin nicht krank."
Sie atmete kurz auf, realisierte dann jedoch offensichtlich, was das bedeutete.
"Dein Dad...?"
Ich nickte. "Hirntumor. Es sieht nicht gut aus."
Kelly blickte mich betroffen an.
"Scheiße..." hörte ich Zayn nach ein paar Momenten murmeln und irgendetwas an der Art, wie er das sagte, brachte mich kurz zum Lachen. Überrascht sahen mich nun drei Augenpaare an.
"Das kannst du laut sagen..." fügte ich hinzu und sah ihn entschuldigend an, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Mir wurde gerade bewusst, dass hier in diesem Raum Menschen standen, die sich um mich sorgten. Die sich so um mich sorgten, dass sie mich aus dieser Bar bugsiert hatten, mich heimgebracht hatten. Drei Menschen, die wirklich Interesse an mir hatten. Ich schniefte kurz und sah dann zu Harry, der mich aufmerksam musterte.
"Soll ich jetzt eigentlich beleidigt sein, weil Zayn dich zum Lachen gebracht hat, und nicht ich?" fragt er mich gespielt ernst.
Ich wusste nicht, was mit mir los ist, aber ich musste lächeln. Schnell schüttelte ich den Kopf. "Vielleicht ist er witziger als du." sagte ich leise.
Kelly lachte und auch Zayn, Harry grinste nur schief. "Was immer dich zum Lachen bringt, Lou. Hauptsache du tust es." Er küsste mich auf die Stirn und ich fühlte mich als würde ich dahin schmelzen unter seiner Berührung.
"Danke, dass ihr...naja...da seid?" Es klang mehr wie eine Frage.
Kelly und Zayn setzten sich auf den Boden gegenüber der Couch. "Du bist doch jetzt einer von uns, Loulou. Und wer zu uns gehört, auf den wird aufgepasst." sprach Kelly mit fester Stimme. An ihr schien das hier nicht spurlos vorbei zu gehen, das merkte ich.
"Genau. Jeder von uns hat irgendeine Scheiße durchgemacht. Du bist nicht allein." fügte Zayn hinzu und lächelte mich wieder an.
Wieder spürte ich die Wärme, die sich in mir ausbreitete und ich war dankbar. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich mich nicht verstecken musste, dass ich mich öffnen konnte und  vor allem - dass ich Freunde hatte.
Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. So schlimm meine Situation war, doch ich hatte jetzt neue Freunde, die mir da durch helfen würden.
Und nicht nur Freunde, dachte ich mit einem Blick auf Harry. Er erwiderte meinen Blick und in ihm lag soviel Wärme, dass mir ganz heiß wurde.
"Aww, unser Loulou wird rot..." bemerkte Kelly und kicherte.
Die Hitze wurde mehr und ich sah kurz nach unten, dann zu ihr. "Das wollte ich überhaupt noch fragen...Loulou?"
Sie grinste mich an. "Ja. So nenne ich dich."
"Ich weiß" gab ich zurück. "Aber wieso?"
"Na, weil du so süß bist, mit deiner Stupsnase und den tollen blauen Augen!" erwiderte sie frech und stupste meine Nase mit dem Finger an.
Ich musste schmunzeln. Kelly war ein bisschen verrückt, aber sie begann mir ans Herz zu wachsen.

"Also, lasst uns jetzt Pizza bestellen und den Abend noch zu etwas Positivem umwandeln!" schlug Zayn vor, schnappte sich sein Handy und öffnete die App des Pizza-Lieferdienstes.
Ich konnte nicht umhin mir zu denken, dass der Abend schon zu etwas Positivem umgewandelt wurde. Vor allem weil der Lockenkopf neben mir mich etwas mehr zurück in seine Arme zog und mir erneut einen Kuss auf die Stirn gab, als Zayn und Kelly gerade nicht zu uns schauten.

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