42 - Clara de Flocon

Nachdem Roach versucht hat, mich zu erwürgen, treffe ich mich trotz all meiner Vorbehalte jeden zweiten Tag mit Matt, um in einem der eigentlich immer verlassenen Lagerräume zu trainieren. Meinen Rückzugsort ein paar Türen weiter habe ich ihm allerdings immer noch nicht gezeigt. Ich bin um ehrlich zu sein ziemlich paranoid, was das angeht.
Jedes Mal, wenn der Sunhunter eine Wand hinaufrennt, um einen Backflip zu machen, was erstaunlich oft vorkommt, sehe ich vor mir, wie er einfach durch das Metall bricht und mitten zwischen meinen Pflanzen landet.

Doch trotz der Stabilität der Wände bin ich mir ziemlich sicher, dass wir in absehbarer Zeit auffliegen. Bis jetzt sind wir allerdings erst ein einziges Mal beinahe erwischt worden, haben es aber gerade noch geschafft, uns hinter ein paar vollgestopften Regalen in Sicherheit zu bringen.

Trotz seiner Fürsorge in der Nacht des Angriffs schont mich der Sunhunter nicht im Geringsten, sodass mir trotz der mottenzerfressenen Teppiche, die wir ausgelegt haben, schon nach unserer ersten Trainingssession alles wehtut. Matt ist trotz seines Enthusiasmus jedoch kein besonders guter Lehrer – er lacht mich aus, wenn ich auf die Schnauze falle und kickt mir spielerisch in die Rippen, bis ich mich nach einem besonders anstrengenden Kampf endlich wieder zum Weitermachen aufraffen kann. Dass er meistens auch noch irgendwelche Schlager oder wahlweise bekannte Filmmusik vor sich hin summt, ist auch nicht unbedingt entspannend, wenn man andauernd Schlägen und Tritten ausweichen muss.

Ich bin ihm trotz der Grundausbildung und all der Stunden in der Sporthalle so fundamental unterlegen, dass ich manchmal am liebsten schreien würde. Doch ich beiße die Zähne zusammen, stehe wieder auf und stelle mich seiner nächsten Attacke. Denn auch wenn ich immer noch nicht beabsichtige, Booth oder Dragon den Offiziersplatz streitig zu machen, habe ich inzwischen kapiert, dass man alles an Kampferfahrung mitnehmen sollte, wenn ein Secret Core Intelligence Agent Privatstunden während eines Krieges anbietet.
Während ich mich immer wieder vom Beton hochkämpfe, gegen die Regale donnere und mir die Ellenbogen aufschlage, beschleicht mich immer mehr die Ahnung, dass er die ganze Zeit Recht hatte. Nicht, dass ich das je zugeben würde.

Nebenbei bemerkt ist natürlich der Oktopus auch immer anwesend bei unseren schweißtreibenden Trainingskämpfen, knabbert an Erdnussflips und stellt Matt ab und zu ein Bein, um mir zu helfen, was den Sunhunter jedes Mal fuchsteufelswild macht. Als er auch an diesem schönen Mittwoch wieder über eine leuchtende Tentakel stolpert und fluchend an mir vorbei taumelt, muss ich so lachen, dass mein Brustkorb schmerzt. Ich lasse mich in die Hocke sinken, weil ich meinen Knien nicht mehr traue und gebe dem Oktopus ein High Five.

„Meuterei", knurrt der Sunhunter, deutet anklagend mit dem Finger auf das Alienbaby und klopft sich mit der anderen Hand Staub von den Beinen, während er wieder aufsteht.

„Er hat Hunger", sage ich, während Grabsy sich meinen Arm hinauf schlängelt und beginnt mit meinen Haaren zu spielen. Es muss wahnsinnig witzig aussehen, wenn er das macht, aber Matt lacht nicht. Stattdessen verengt er die Augen und legt den Kopf schief.

„Was?", frage ich.

„Woher weißt du, dass er Hunger hat?"

Ich sehe zu dem Oktopus hinüber, der begonnen hat, meinen Zopf aufzulösen, sodass mir in absehbarer Zeit meine verschwitzten Haare auf die Schultern fallen werden.

„Seine Tentakelspitzen hören auf zu leuchten. Und er wird extrem aufmerksamkeitsbedürftig", antworte ich etwas verspätet.

Der Sunhunter hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts. Wenn das sein beeindrucktes Gesicht ist, dann ist es von seiner genervten ‚Ach-wirklich?'-Miene kaum zu unterscheiden.

„Ich glaube, wir sind fertig für heute", sagt er, wischt sich über die Stirn und wirft mir mein Handtuch zu, während der Oktopus damit beginnt, meine Haare neu zu flechten. Das hat er sich in den letzten Wochen selbst beigebracht, was ich persönlich beeindruckender finde als all meine eigenen Mikrofortschritte in Sachen Nahkampf.

Ich sehe zu, wie der Sunhunter nach seiner Flasche greift und in großen Schlucken einen Liter Wasser herunterkippt. Irgendetwas hat sich verändert, seit ich bei ihm geschlafen habe. Wenn wir trainieren lässt er mich immer sofort los, sobald ich verloren habe, fast als wäre meine Haut brennend heiß. Er spielt nicht mit mir, wie er es bei dem Trainingskampf in der Halle getan hat. Jede seiner Bewegungen ist effektiv und kontrolliert, jeder Atemzug zielgerichtet.
Das ist gut, sage ich mir, aber gleichzeitig verstehe ich nicht, was ich getan habe, um ihn dazu zu bringen, sich zurück zu ziehen. Um ehrlich zu sein dachte ich ganz kurz, wir hätten einen dieser seltsamen Momente gehabt. Als er die Flasche absetzt und mir einen fragenden Blick zuwirft, schüttle ich nur den Kopf und steuere mit dem Oktopus auf den Schultern auf die Tür zu.

„Du hast dich angesabbert", ich deute auf sein T-shirt. Er sieht an sich hinunter und ich nutze die kurze Ablenkung, um mit dem Oktopus auf den Schultern hinaus zu huschen.

„Hey! Kidnapping!", ruft mir der Sunhunter nach, doch Grabsy wippt vor Freude auf und ab, während wir den Gang hinunter pilgern. Wenn Matt wirklich etwas dagegen hätte, dass ich das Babyalien mitnehme, hätte er mich schon längst eingeholt. Regel Nummer drei – „Wer den Oktopus anfasst, stirbt" – ist anscheinend nach wie vor außer Kraft gesetzt.

Also schlendere ich mit besagtem Oktopus auf den Schultern, vollkommen verschwitzt und müde wie noch nie, durch die Gänge des Schiffs. Als mich die anderen Rekruten sehen und völlig schockiert zurückweichen, verstehe ich zuerst nicht, was sie so verunsichert. Ich bin so fertig, dass ich es einen Moment lang nicht einmal hinterfrage. Doch dann taucht eine Tentakel in meinem Sichtfeld auf und deutet bestimmt in Richtung des Snackautomaten vor der Cafeteria. Ein Rekrut aus Dragons blauem Jet Team, dem fast die Augen aus dem Kopf fallen, springt zurück, um mir den Vortritt zu lassen.

Während ich dem Oktopus eine weitere Packung Erdnussflips kaufe, kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht primär meine eigene Idee war, den Oktopus mitzunehmen. Ich drehe um, reiße die Tüte auf und schiebe mir ein paar Flips in den Mund, bevor ich sie meinem achtarmigen Freund überlasse. Auf der einen Seite bin ich sauer, weil Matt nicht mit mir geredet hat, auf der anderen bin ich schlicht beeindruckt von seiner Gerissenheit. Niemand würde auch nur im Traum daran denken, mir den Hals umzudrehen, wenn um eben jenen Hals das Alienbaby des Sunhunters hängt.

Ich überlege kurz, Grabsy demonstrativ vor der Tür zu seiner Suite abzuladen, entscheide mich dann aber dagegen. Der Schreck sitzt mir noch mehr in den Knochen, als ich zugeben will. Grummelnd mache ich mich in Richtung Schlafsaal auf, während neben meinem linken Ohr jemand laut Erdnussflips futtert. Niemand wagt es, mich auf den Oktopus anzusprechen, während ich dusche und mich umziehe. Das Babyalien hängt von den Bettlatten des Bettes über mir, leuchtet zufrieden vor sich hin und erfüllt den ganzen Schlafsaal mit sanftem blauem Licht. Ich rolle mich zusammen und der Oktopus dimmt sein Leuchten so weit herunter, dass es mich nicht mehr beim Einschlafen stört.
Was ist nur aus deinem Leben geworden, Clara, denke ich noch und hoffe inständig, dass ich heute Nacht nicht noch einmal von Siren, ihrem Holzkreuz und dem Sunhunter an seiner Stange träume.

~

Als ich mich am nächsten Morgen mit meinem Frühstück an den Tisch meines Jet Teams setze, ist der Sunhunter nirgends zu sehen und die Stimmung so gut, dass ich sofort misstrauisch werde. Booth macht immer wieder kleine Tanzbewegungen, während er seine rohen Eier verquirlt, Mouse und Jenkins klauen extrem unauffällig Essen von Crimsons Teller, Angel begutachtet ihre Spiegelung in ihrem Müslilöffel und Panic mischt unter dem Tisch so schnell seine Karten, dass seine Finger ineinander verschwimmen. Louis Platz ist leer, was seltsam ist. Er lässt sonst nie eine Mahlzeit aus.

Ich habe am Buffet drei Äpfel und zwei Bananen für den Oktopus abgestaubt, die dieser sicher im Griff hat. Es sieht ein bisschen grotesk aus, da bin ich mir sicher, aber wenn ich versucht hätte, alles zu tragen, hätte das kein gutes Ende genommen. Als Panic mich sieht, klappt seine Kinnlade nach unten. Das Team hört auf zu kauen und starrt ungeniert, während ich mich auf sie zu schiebe.

„Baguette", grüßt Panic mich, sieht aber nur den Oktopus an.

„Ich hab's euch doch gesagt", jubiliert Angel und stößt Booth in die Rippen, „Ihr glaubt mir nur immer nichts."

„Schöner Oktopus", lispelt Mouse und streckt eine Hand aus, die Panic sofort wegschlägt. Crimsons Seele scheint seinen Körper verlassen zu haben, Booth zieht eine finstere Miene. Grabsy leuchtet einmal kurz auf und aus dem ganzen Speisesaal erklingen ‚Aaaaah!'s und ‚Ooooh!'s. Ich seufze und stelle mein Tablet ab.

„Ja, ich habe einen Oktopus. Lange Geschichte. Können wir über was anderes reden?"

Crimson starrt mich immer noch an, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Angel freut sich diebisch über irgendetwas und Mouse streckt erneut die Hand aus, nur um von Panic in die Schranken gewiesen zu werden.

„Wo ist Louis?", frage ich und für einen Moment sinkt die Stimmung. Nicht, weil ich irgendjemandem erzählt hätte, dass Roach geflogen ist, oder mich halb erwürgt hat, sondern, weil es anscheinend irgendeinen dämlichen Streit zwischen Booth und unserem Klassenkiffer gab. Die einzigen Menschen, die von dem Vorfall im Schlafsaal wissen, sind Roach, ich und der Sunhunter.

„Keine Ahnung", brummt Booth, „Wird sich schon wieder einkriegen."

Angel, die ihre blonde Lockenmähne über die Schulter geworfen und den Löffel in ihr Müsli versenkt hat, ist ungebrochen gut gelaunt.

„Clara, weißt du, was morgen ist?"

Ich verziehe das Gesicht, immer noch verschlafen, während sich vor meinem inneren Auge ein Kalender materialisiert.

„Valentinstag?", frage ich etwas verloren.

„Nein, der ist übermorgen."

„Aha."

Die Scharfschützin verdreht die Augen.

„Die Initiationsparty, die sie wegen der Sunhunter Aktion nach hinten verschoben haben? Wir dachten alle, dass Siren sie abbläst, aber jetzt hat sie sich doch erweichen lassen? Das eine Mal, dass wir uns komplett gehen lassen können? Die Party, die ich seit einer halben Ewigkeit mitplane?"

Ich kaue auf meinem Toast herum und nicke.

„Hast du ein oder zweimal erwähnt."

Panic und Mouse glucksen neben mir, aber Angel lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Du weißt, was das heißt, oder?"

„Ihr werdet euch alle abschießen und es am Valentinstag bereuen?"

„Sicher", sagt Crimson, der sich wieder einigermaßen berappelt hat.

Angel lässt letztendlich die Bombe platzen:

"Der Sunhunter muss unbedingt zu der Party kommen!"

Ich höre auf, zu kauen.

„Spinnst du komplett?!"

Sie grinst. Sieht mich an. Sieht zum Oktopus hinüber. Der Oktopus winkt und sie winkt zurück.

„Nein. Das ist eine hervorragende Idee. Und du fragst ihn."

Der Rest des Teams fällt in ihr enthusiastisches Nicken ein. Nur Booth wirkt nicht begeistert davon, den Elitesoldaten, der bis vor kurzem noch unser Dozent war, auf diese dumme Party einzuladen.

„Er ist jetzt Student", sagt Crimson und schwenkt seinen Kaffee, „Das ist Pflicht."

„Und du hast irgendeinen Draht zu ihm. Zumindest schickt er dich nicht per Roundhouse Kick ins Koma, wenn du ihn erschreckst", steuert Angel bei.

„Warte ... was?!"

Sie winkt ab.

„Nebensächlich. Du hast seinen Oktopus dabei, Croissant, und du bist augenscheinlich noch nicht tot. Das ist Wahnsinn!"

Unter dem Blick meiner Jet Team Kameraden muss ich wieder an meinen Traum denken und hoffe inständig, dass es auf diesem Schiff keine Pole Dancing Stangen gibt. Ich bezweifle, dass meine Freunde wissen, auf was sie sich einlassen. Ich schüttle den Kopf bei der Vorstellung.

„Das mache ich nicht."

„Und wie du das machst", Angel zieht eine Schnute, „Bitte. Für mich. Dafür, dass ich allen gesagt habe, sie sollen die Schnauze halten, als sie wieder mit den Umkleiden angefangen ha ..."

Crimson boxt ihr so fest in die Rippen, dass die Scharfschützin aufschreit und von der Bank rutscht. Ich habe mein Müsli vollkommen vergessen.

„Die Umkleiden was?"

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