20 - Clara de Flocon
Wie bereits erwähnt ist die Hackordnung an Bord nicht nur ausgeprägt – sie bestimmt das Leben aller Rekruten, wie ein fieses ungeschriebenes Gesetz.
Egal, ob es um große Dinge geht, wie zum Beispiel die Reihenfolge der Teams bei praktischen Prüfungen, oder auf den ersten Blick Irrelevantes, wie die Tischwahl in der Cafeteria.
Die besten Tische sind die, die sich direkt neben der Essensausgabe aufreihen. Man muss praktisch nur die Hand ausstrecken, um Nachschlag zu bekommen und bewegt sich auf dem Weg zu besagten Tischen mitten durch den Raum, um wie auf einem Laufsteg zwangsweise die Aufmerksamkeit all seiner Kommilitonen auf sich zu ziehen.
Am Kopfende seines Tischs fläzt „Dragon" in seinem Metallstuhl, der genauso gut ein Thron sein könnte. Hätten wir heute nicht Überraschungsbesuch der Ausbildungskoordinatoren, die uns von ihren Plätzen an der Wand aus im Auge behalten, wie Raubvögel, hätte er sich die Stiefel ausgezogen und seine Füße auf der Tischplatte abgelegt, um dem gesamten Raum seine unsäglichen bunten Socken zu präsentieren.
Als ich vorbeigehe, klaut mir einer seiner Team Kollegen den Apfel vom Tablet und beißt krachend hinein.
Der ganze Tisch explodiert in Gelächter.
„Hey", schnappe ich den Typ an, traue mich aber nicht, richtig laut zu werden, aus Angst die Ausbilder auf mich aufmerksam zu machen.
Das blaue Jet Team hat dadurch gleich noch mehr Spaß.
Dragons Handlanger wirft den angebissenen Apfel zurück auf meinen Teller, sodass Kartoffelbrei und Soße auf meine Uniform spritzen. Empört und hilflos fluche ich auf, balanciere das Tablet mit einer Hand und wische mir über die Brust, was alles nur noch schlimmer macht. Jemand pfeift und ich schieße einen tödlichen Blick in Richtung des Idioten.
„Richte Booth aus, dass ich ihn bei der Praxis nächste Woche in den Boden stampfen werde", lässt Dragon, der eigentlich Alyosha Hamton heißt, huldvoll verlauten, „Recht viel tiefer kann er zwar nicht mehr sinken, aber wie soll man sich da sicher sein, ohne es auszuprobieren?"
Nicht viele meiner Kommilitonen erwecken in mir den Drang, ihnen eine ganze Packung Kaugummi in die schwarzen Korkenzieherlocken zu schmieren, aber Dragon ist gerade auf einem sehr guten Weg.
„Hast du zu viel Schiss, um es ihm selbst zu sagen, oder was?", schnappe ich, ohne darüber nachzudenken.
Der Tisch verstummt.
Mit mörderischem Blick erhebt sich Dragon, dem die Ausbilder plötzlich völlig egal zu sein scheinen, aus seinem Sitz.
„Hey, Booth!", brüllt er durch den Raum, während das Klappern von Geschirr und die Gespräche der anderen verstummen, um durch interessierte Stille ersetzt zu werden, „Ich werde dir in den Arsch treten bei der Praxisübung!"
Vereinzelte Lacher folgen, hauptsächlich aber zustimmende Bemerkungen und sogar Applaus. Obwohl die Ausbilder die Unruhe im Keim ersticken, fliegen eine Unzahl von mörderischen Blicken zu dem Tisch ganz hinten in der Ecke, direkt neben den Türen, den Mülleimern und der Geschirrrückgabe.
Dem Tisch, an dem mein Jet Team sitzt und sich anscheinend immer noch in Schockstarre befindet.
Ich ziehe den Kopf ein und steuere durch die Menge.
Neben der Fehde zwischen Dragon und Booth, die unter anderem für unseren Platz in der Cafeteria verantwortlich ist, hat es einen ganz praktischen Grund, dass das blaue Jet Team uns bei der Übung fertig machen will.
Ich lasse meinen Blick möglichst unauffällig über die vielen feixenden Gesichter schweifen, über die vielen verschiedenen Jet Teams.
Eines davon hat die Möglichkeit, sich direkt für den Offiziersdienst zu qualifizieren, was in diesen Zeiten nicht nur bedeutet, dass das gesamte Team ein deutlich höheres Gehalt bekommt, sondern auch, dass diese Auserwählten nicht wie alle anderen in diesem Raum schon sehr bald mitten auf das intergalaktische Schlachtfeld geworfen werden, in das sich das schwarze Nichts zwischen der Domäne der VHN und der Föderation verwandelt hat.
Booth war in seinen ersten Jahren hier bei Weitem der hellste Stern am Rekrutenhimmel.
Er schien dafür bestimmt, diesen besonderen Weg einzuschlagen, bis Dragon ihn in eine Falle lockte. Seitdem sitzen wir neben den Mülleimern.
„Clara MacClara", spricht mich unvermittelt jemand an, von dem ich sofort weiß, dass er weißblond ist und vermutlich einen Oktopus auf der Schulter trägt.
Ich drehe mich um und sehe den Sunhunter, der sich einen Sitz mitten in der Cafeteria ergattert hat und völlig alleine dort residiert, was bei der Menge an Rekruten in diesem Raum beinahe unmöglich ist.
Er hat aus dieser Entfernung möglicherweise gar nicht mitbekommen, was gerade passiert ist, vor allem, weil er viel zu beschäftigt ist, sich in den bewundernden Blicken der zukünftigen Star Soldaten zu sonnen, die ihm von allen Seiten zugeworfen werden.
Sie haben allerdings alle zu viel Angst vor ihm, um nach einem Autogramm auf ihrer Uniform oder diversen Körperteilen zu fragen.
Was macht er hier?
Natürlich muss mir genau an dem Tag Kartoffelbrei von der Uniform tropfen, an dem sich der Herr Sunhunter dazu herablässt mit dem Fußvolk zu speisen.
Auf seinem Tablet dampfen eine große Tasse Kaffee und ein übervoller Teller Spaghetti, die es heute eigentlich gar nicht gibt, um die Wette.
Die Gabel hält allerdings nicht er selbst in der Hand, sondern sein Oktopus, der mit viel Motivation die langen Nudeln aufkurbelt.
Der Sunhunter hält ein Papier in die Luft und verkündet laut genug, dass es seine nähere Umgebung hört: „Sie haben nach Harvard zitiert, obwohl ich ausdrücklich um APA gebeten habe! Eine Frechheit ist das!"
Er deutet auf den Platz gegenüber von sich.
„Lassen Sie uns das gleich klären, wenn sie schon mal da sind."
Dreifach verunsichert, weil es mir auf der einen Seite nie einfallen würde, nach Harvard zu zitieren und ich auf der anderen Seite noch gar kein wissenschaftliches Essay für ihn geschrieben habe – was auch soweit ich weiß überhaupt nicht im Curriculum vorgesehen ist – setze ich mich.
„Was soll das?", knurre ich, während der Oktopus dem Sunhunter eine Gabel Spaghetti in den Mund schiebt, bemerkenswerterweise, ohne dabei Tomatensoße auf dessen verwaschenes ACDC T-Shirt zu schmieren.
„Ich wollte nicht, dass sie alle sofort wissen, dass wir regelmäßig um vier Uhr nachts in der Küche Gespräche führen. Sehr überzeugend, oder?", fragt der Sunhunter stolz und klopft kurz auf den Ausdruck, der neben ihm auf dem Tisch liegt. Der Titel ist lang und beginnt mit den Worten THE PSYCHOLOGY OF TIMETRAVEL.
„Ich habe sogar meine halbfertige und erfolgreich abgebrochene Bachelor Arbeit ausgegraben", er streichelt melancholisch über das Papier.
„Einen mieseren Plan habe ich ja noch nie gehört. Niemand wird dir abnehmen, dass ich nach Harvard zitiert habe", zische ich ihn an, drehe resolut die Arbeit zu mir herum und klappe die erste Seite auf.
„Halt, stopp", der Sunhunter zieht den Schnellhefter wieder über den Tisch zu sich herüber.
Er wirkt nicht ganz so cool wie sonst, beinahe könnte man sagen er sähe ein wenig unruhig aus.
„Hier geht es nicht um meine Arbeit, sondern darum, dass ich dich brauche."
Ich pflücke den angebissenen Apfel von meinem Essen, den der Sunhunter einfach kommentarlos hingenommen hat und schüttle müde den Kopf.
„Deswegen hast du mich vor allen abgefangen?"
„Deswegen habe ich dich unauffällig vor allen abgefangen", korrigiert er, „Isst du das noch?"
Er deutet auf den Apfel und ich schüttle den Kopf.
Eine Tentakel schießt zu meinem Tablet herüber, so schnell, dass ich zusammenzucke. Das Babyalien auf der Schulter des Sunhunters leuchtet rosa auf, als es das Obst im Ganzen herunterschluckt. Matt zuckt nicht einmal.
„Also, was sagst du?", er hat inzwischen selbst die Gabel in die Hand genommen und mustert mich über den Tisch hinweg.
Entnervt stütze ich den Kopf in die Hände.
„Was hast du denn so Wichtiges vor?", frage ich.
„Einen Einsatz betreuen, bei dem politische Geiseln von einem VHN Frachter gerettet werden sollen, ein Meeting mit Schneewitchens böser Stiefmutter und eine Coreratssitzung. Dies das. Ach ja, und eine Power Point für euch Loser muss ich noch basteln."
Ich muss lachen.
„Du musst mich nicht mit ganz so unrealistischen Dingen abspeisen."
Er zuckt die Schultern, scheint aus irgendeinem Grund amüsiert.
„Du könntest in meiner Suite Oktopussitten", schlägt er dann vor, „dann bekommt das nicht sofort jeder mit. Außer natürlich, du willst dich mit diesem hübschen Baby schmücken, dann kannst du gerne durch die Gänge der Konservendose flanieren. Ich bin sicher, er lässt ein paar Discokugeleffekte für dich springen."
Zur Antwort lässt das Alien einen bunten Lichtschauer über seine Haut laufen. Alleine bei dem Gedanken daran, mit dem Aushängeschild des Sunhunters durch die Cafeteria zu flanieren, dreht sich mir der Magen um. Allerdings ist die Vorstellung mich in seine Suite zu schleichen, als wäre ich seine Freundin, ebenfalls nicht das, was ich gerade brauche.
„Matthias Green?", fragt jemand. Wir wenden uns einem blassen Rekruten zu.
„Aye", sagt der Sunhunter, „Was geht?"
Der junge Mann sieht aus, als würde er vor Entzücken und Todesangst gleich in Ohnmacht fallen.
Es ist mir ein Rätsel, wie er es noch schafft, in Richtung Tür zu deuten. Doch so weit kommt mein Blick gar nicht, denn ein Mann im Anzug schiebt sich durch die Menge, augenscheinlich Analyst oder irgendein Bürohengst, der inmitten der lauten Militärs völlig fehl am Platz wirkt.
Weitaus markanter ist an seiner Erscheinung jedoch, dass er einen Rosenstrauß trägt, der ungefähr die Dimension eines Pfauenrads hat.
„Matthias Green?", fragt der Analyst immer wieder und folgt den ausgestreckten Händen der Rekruten in unsere Richtung.
Im Vorbeigehen stößt er ein Wasserglas um und entschuldigt sich vielmals bei denjenigen, die er mit dem Monster von Rosen Bouquet fast bewusstlos schlägt. Ich werfe dem Sunhunter einen schrägen Blick zu.
„Ist deine Freundin Floristin?"
„Woher willst du wissen, dass ich eine Freundin habe und keinen Freund?", bekomme ich zurück. Breit grinsend blinzelt mich der Sunhunter an. Er tätschelt kurz meine Hand.
„Immer diese Konservativen."
Ich will gerade den Mund aufmachen, um meiner Verwirrung Luft zu machen, als der Analyst keuchend die Blumen auf dem Tisch absetzt und sich den Schweiß von der Stirn wischt. Neben den billigen Plastiktabletts wirkt der wahnsinnig teure Blumenstrauß etwas fehl am Platz.
„General van Haven schickt beste Grüße", lässt der Anzugträger den Sunhunter wissen, „Gratulation zur erfolgreich beendeten Mission Wazekya und dazu, dass Sie immer noch am Leben sind, soll ich ausrichten. Er sagt außerdem, ich soll Ihnen von ihm auf die Schulter klopfen."
Matt blinzelt, behält seine Mimik aber immer noch unter Kontrolle.
„Na dann", er reckt dem Fremden die Schulter entgegen, der dem Sunhunter unangenehm berührt auf selbige klopft und dann so schnell wie möglich wieder davoneilt.
Matt beäugt sein Geschenk, während ich völlig vergessen habe, meine Gabel wieder aus dem Mund zu nehmen vor Schreck. Der Vorsitzende der IV Legion, General Robert van Haven persönlich, hat ihm diesen riesigen Strauß Rosen geschickt?
„Kannst du mir tragen helfen?", fragt er mich dann ernsthaft.
Ich lache ungläubig auf, nehme mein Tablet und verschwinde in Richtung meines Jet Teams.
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