Kapitel 15
Meine Augen öffneten sich ganz langsam und schlossen sich wieder sobald das helle Licht von draußen auf sie traf. Ich gab einen brummenden Laut von mir und drehte mich auf die andere Seite.
»Guten Morgen, Mylady.« hörte ich eine Stimme.
Ein Zucken durchfuhr meinen gesamten Körper und abrupt setzte ich mich auf. Jeremy stand in der Türschwelle und lächelte mich an.
»Morgen?« flüsterte ich sichtlich verwirrt.
»Du musst wohl schon länger nicht mehr geschlafen haben.« bemerkte er und grinste. Sein Gesicht wirkte so warm und herzlich.
»Eh...Was?...Warum?...Ehm...«stotterte ich vor mich hin.
Er lachte auf und kam näher. Dabei klärte er mich auf. »Du kannst dich wohl nicht mehr erinnern. Also du und ich trafen uns bei der Bank, wo wir uns schon einmal begegnet waren. Du hast angefangen zu weinen und ich wollte dich nur trösten. Irgendwann bist du dann eingeschlafen und ich habe dich hier zu mir gebracht.«
»Das war's?«
»So im Großen und Ganzen schon, ja«
»Ich hab nichts gesagt?«
»Du hast nur gemeint das du nicht mehr kannst.«
Das stimmte ich wollte nicht mehr. Dies konnte ich ihm jedoch nicht sagen. Warum sollte ich auch?
»Warte...du hast mich die ganze Strecke über getragen?«
»Ja?«
»Neun Kilometer?!«
Er kicherte, räusperte sich dann und gab mir die überraschende Antwort: »Nein. Ich glaube du bist einen Riesen Umweg gegangen. Es gibt eine direkte Verbindung. Da geht man gerade mal fünf Minuten.«
Nun musste auch ich etwas schmunzeln.
»Ich habe Frühstück gemacht, wenn du willst können wir essen.«
»Könnte ich vorher ins Bad?«
»Klar. Ich zeige es dir.«
Ich nickte und hüpfte aus dem Bett. Meine Kleidung war noch dieselbe wie gestern. Nur meine Schuhe hatte er ausgezogen. Der Raum, den wir gerade dabei waren zu verlassen war ein kleines Schlafzimmer. Alles bestand aus dunklerem Holz und es wirkte sehr gepflegt.
Zwei Türen weiter befand sich das Badezimmer, in dem ich schließlich für eine kurze Zeit verschwand.
Als ich mein Gesicht im Spiegel erblickte, erlitt ich einen Schock. Wie konnte er mich überhaupt so ansehen? Hatte ihm das nicht gestört? Mein Make up war total verschmiert und man erkannte noch wie die Tränen gestern Nacht geflossen waren.
In der Hoffnung etwas brauchbares zum Abschminken zu finden kramte ich mich durch die Schränke. Ich wusste normalerweise durfte man dies nicht, doch mein Gesicht war ein Notfall.
Ich hatte tatsächlich ein Abschminkwasser gefunden und schminkte mich sogleich mit meinen Fingern ab. Besser kein Make up als auszusehen wie eine verweinte Leiche. Allerdings konnte man nun die Narbe an meiner Schläfe deutlich erkennen. Sie würde ihm doch nicht auffallen, oder?
Schnell löste ich meine Haare von der zerstörten Frisur und kämmte sie mir mit der Bürste, die ich in einen der Schubladen gefunden hatte, durch. Mein Aussehen war jetzt nicht unbedingt schlecht allerdings würde ich so niemals rausgehen. Da fehlte definitiv das Make-up. Jedoch konnte ich dies jetzt nicht ändern.
Ich ging den kurzen Flur entlang und sah Jeremy draußen stehen. Mein Weg führte auf die Veranda, die Richtung Feld zeigte. Es befand sich ein runder Holztisch auf der linken Seite. Dieser war bestückt mit zwei Tellern, zwei Tassen, Besteck sowie reichlich Nahrung.
Jeremy deutet auf den einen Holzsessel und ich nahm Platz. Er knackte ein wenig als ich mein Gewicht auf ihn lud genauso tat er es bei Jeremy.
Aus einer Pfanne hob er mir zwei Spiegeleier auf mein Teller, dazu ein bisschen kross gebratenen Speck und eine Scheibe Toast.
»Danke.«
»Gerne. Ich hoffe du isst Fleisch?« sprach er und belud seinen eigenen Teller.
»Ja.«
»Möchtest du Kaffee?«
»Nein, danke.«
»Du trinkst keinen Kaffee?«
»Nein. Du schon?«
»Ja. Ohne Kaffe komme ich nicht aus dem Bett. Ich hab schonmal überlegt, ob ich mir einen Roboter bauen sollte, der mich jeden Morgen mit einer frischen heißen Tasse Kaffee weckt.«
Diese Überlegung löste in mir ein prickelndes Lachgefühl aus und so musste ich kichern. Ihm ging es wohl genauso, denn in seinen Augen spiegelte sich die Freude wieder.
Wir begannen zu essen und es wurde für einen Augenblick still. Hier war es so idyllisch. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel unterstrich das wunderbare frühlingshafte Wetter. Die Sonne ließ alles um einen herum glitzern. Kleine Vöglein zwitscherten um die Wette. Man fühlte sich wie in einem Märchen.
Mein Blick wanderte aufs Feld. Meine Augen wurden groß als ich erkannte, was mein Nachbar anbaute. Das wirre Gestänge, wie ich es vor kurzen noch genannt hatte, waren tatsächlich Sonnenblumen. Sie waren noch nicht so schön prachtvoll aber man konnte erkennen, das es bald soweit sein würde.
»Du baust Sonnenblumen an?!« fuhr es aus mir heraus.
»Ja.«
»Was machst du damit?« fragte ich ihn noch immer ein wenig fassungslos darüber. Warum erstaunte es mich denn? Ist doch normal das man Sonnenblumen anbaute, oder?
»Den Großteil verkaufe ich an eine Ölfabrik. Sie sind schon langjährige Kunden und legen großen Wert auf Bio und Umweltfreundlichkeit.«
»Und der andere Teil?«
»Der geht an den Blumenladen von Abigail.«
Ich nickte und überlegte ob ich die Frage die ich gerne stellen würde beleidigend wirken könnte.
»Worüber denkst du nach?« fragte mich Jeremy. Er schien mein grübeln wohl zu bemerken.
»Wie alt bist du?«
Er schmunzelte.
»19. Ich werde aber in drei Monaten 20. Du?«
»17. Ich werde erst im Dezember 18«
»Hast du schon eine Antwort bekommen von der Universität?«
»Nein, das dauert noch.«
Für ein paar Sekunden wurde es wieder still doch dann setzte Jeremy an: »Heute geht es dir viel besser, oder?«
»Ja. Vielleicht liegt es daran, dass ich zum ersten Mal seit Wochen wieder durchgeschlafen habe.«
Eigentlich wollte ich ihm nicht soviel erzählen aber es rutschte einfach so aus mir heraus.
»Was hat dir deinen Schlaf geraubt?«
»Vielleicht sollten wir das ein andermal besprechen. Wie spät ist es?«
»Wie du willst. Es ist kurz nach elf.«
»Oh okay. Ich habe also wirklich lange geschlafen. Kim macht sich bestimmt total Sorgen um mich.«
»Das könnte allerdings stimmen. Ruf sie doch schnell an.«
»Ich könnte auch nach Hause gehen?«
»Das wäre aber schade, da ich gerade anfing deine Aufmerksamkeit zu genießen.«
Mein Gehirn fing an zu rattern. Was hatte dieser Satz gerade eben zu bedeuten? Wollte er mich hier haben? Wieso sollte er so etwas wollen?
»Okay.« stammelte ich misstrauisch und begann ganz langsam aufzustehen und in die andere Ecke der Veranda zu fliehen. Natürlich ließ ich ihn nicht aus den Augen.
Jeremy fand mein Verhalten anscheinend sehr lustig denn er lachte freudig auf. Sein Lachen war so süß. Doch ich ließ mich nicht täuschen oder gar verführen.
Schnell wählte ich die Nummer von Kim, die Rosie mir an meinem ersten Schultag gegeben hatte. Nachdem es zwei Mal klingelte hob sie ab.
»Hallo Kim, ich bin's Samantha.«
»Samantha! Zum Glück. Geht's dir gut?«
»Ja. Danke. Ich bin bei Jeremy.«
»Oh, okay. Dann viel Spaß euch beiden.«
»Eh...Danke?«
Dann hatte sie auch schon aufgelegt. Verdutzt blickte ich auf mein Handy.
»Und?« fragte mich Jeremy kichernd.
»Alles gut.«
»Und bleibst du noch ein wenig?«
Ich nahm wieder Platz um meinen Teller weiter zu leeren. »Nur wegen dem Frühstück« erklärte ich während ich mir die Gabel in den Mund schob.
Da war wieder sein Lachen, jenes zutiefst melodisch klang.
»Wohnst du hier ganz alleine?« erkundigte ich mich.
»Ja. Leider.«
In seinen Augen hörte das funkeln auf und sie färbten sich dunkel. Ich hatte eine tiefe Wunde getroffen.
»Warum wohnst du alleine?«
»Lass uns das später bereden.«
Ich zuckte mit den Achseln und nahm den letzten Bissen meines Frühstücks. Eins musste man ihn lassen, er konnte kochen.
»Was tun wir jetzt?« erkundigte ich mich bei ihm.
»Komm mit.«
Jeremy zog mich am Arm und wollte von der Veranda laufen.
»Ich hab keine Schuhe an.« kreischte ich.
»Ist doch egal.«
Er zerrte mich die drei Treppen nach unten und rannte mitten in sein Feld. Die Blumen gingen uns bis auf Kopfhöhe und manche sogar darüber.
Die Wiese fühlte sich komisch unter meinen Füßen an. Die Grashalme kitzelten meine Zehen bei jedem Schritt. Auch die braune Erde, woraus die Sonnenblumen wuchsen, war angenehm kühl.
Mein gelbes Minikleid rutschte manchmal etwas höher, weshalb ich öfter stehen bleiben musste um es wieder zu richten. Ich konnte dennoch gut mit Jeremy mithalten.
Er beendete unseren kleinen Sprint bei einer kleinen Lichtung mitten im Feld.
»Das ist mein Lieblingsort.« flüsterte er kaum hörbar.
Es lag dort eine große Holztruhe, die ein bisschen an eine Schatzkiste erinnerte. Jeremy beugte sich zu ihr hinunter und öffnete sie. Er holte eine gelbe Picknickdecke heraus und und breitete sie aus.
»Leg dich hin.« forderte er mich auf.
Ich tat es, wie befohlen. Jeremy legte sich zu mir und nun blickten wir beide in den Himmel.
»Warum ist das hier dein Lieblingsort?«
»Meine Mom und mein Dad hatten hier ihre Dates.«
»Wo sind sie jetzt?« Ohne genauer darüber nachzudenken stellte ich diese Frage. Mir wurde klar warum er alleine hier wohnte und warum es ihm so schwer fiel darüber zu reden als er schwieg.
Jeremy flüsterte: »Sie sind tot.«
Bei diesen Worten fühlte es sich an als hätte mir jemand ein Messer in mein Herz gerammt.
»Es tut mir so leid. Ich weiß wie weh das tut.«
»Nein. Keiner kann so etwas wissen ohne es selbst erlebt zu haben.«
»Ich habe es erlebt.«
»Was?«
Sein Kopf schoss blitzschnell zu mir. Ich drehte mich auf die Seite um ihn ansehen zu können.
»Ja.«
Er sah mir in die Augen und ich ihm und da war plötzlich diese Verbindung. Wir beide kannten den Schmerz von Verlusten, die wir nie haben wollten. Und doch war es so.
»Wie sind deine Eltern gestorben?« erkundigte ich mich bei ihm.
»Meine Mom hatte kurz nach meiner Geburt eine Lungenentzündung. Sie war noch zu schwach. Nach einer Woche war sie tot. Mein Dad hatte es nie verkraftet. Die beiden waren das Traumliebespaar. Bis zum Schluss hat er sie geliebt. Jeden Tag war er hier und hat so getan als wäre sie bei ihm. Vor einem Jahr ist er dann gestorben. Man hatte nichts organisches Feststellen können. Ich denke, das es für ihn Zeit war zu gehen. Da ich achtzehn war und deshalb in kein Waisenhaus müsste, hat seine Psyche ihn von seinem Leid erlöst. Er war der beste Dad, den man sich vorstellen konnte.«
Jeremy brach in Tränen aus. Ich zog ihn in eine Umarmung und streichelte sanft über seinen Kopf. Meine Finger schlängelten sich durch seine blonden Haare. Sie fühlten sich weich und gepflegt an. Es schien ihn ein wenig zu beruhigen.
»Ich vermisse ihn so sehr.« schluchzte er.
»Ich weiß.« flüsterte ich ihm zu.
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