Kapitel 11

Fast zwei Wochen ist es her, dass Clara bei mir war. Seitdem war ich nur am Lernen und wenn ich mal nicht gelernt hatte, dann hatte Rosie mich in Beschlag genommen. Sie wollte das Sommerfest am 20. Juli veranstalten und das war nicht mehr so lange hin.

Dennoch stresste mich ein ganz besonderes Thema mehr. Heute war der letzte Tag, an dem ich noch eine Bewerbung abschicken konnte. Ich hatte mich noch immer nicht entschieden, welches Studium ich wählen sollte. Clara hatte mir heute mehrmals geschrieben, damit ich es ja nicht vergesse.

Jetzt war ich aber viel zu durcheinander, um so eine wichtige Entscheidung treffen zu können. Ich stieß mich vom Schreibtisch weg und rollte mit dem weißen samtartigen Drehstuhl zum Bett. Gerade hatte ich ganze zwei Stunden am Stück gelernt und jetzt musste ich irgendwie meinen Kopf frei bekommen. Somit entschied ich mich für einen kleinen Spaziergang.

Nun machte ich mich auf den Weg in die Richtung zu dem Ort an dem Träume wahr werden konnten. Vielleicht würde dies mir helfen. Nur leider war diese Holzbank viel zu weit entfernt. Allerdings, ich hatte Zeit.

Starr blickte ich auf meine Füße. Sie befanden sich in meinen weißen Sneakern mit dem blauen Schnürsenkel. Schritt für Schritt gingen sie über den Schotterweg. In meinem Kopf war rein gar nichts. Kein Gedanke, gähnende Leere. Dennoch war es gut, denn so konnte immerhin mein Gehirn nicht explodieren.

Nach diesem langen Fußmarsch fühlte ich mich ein wenig luftiger. Ich ließ mich auf die Bank fallen und stieß die Luft, die sich gerade eben noch in meiner Lunge befand, aus.

Die Natur mit den vielen verschiedenen Bäumen und Gebüschen war wundervoll, dennoch war der Himmel das, was mich am meisten faszinierte. Die Dämmerung hatte schon längst begonnen und der Himmel wurde tiefschwarz. Mit der Zeit fing er an zu funkeln. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.

Die Sterne begannen stärker zu strahlen und schließlich war der gesamte Himmel übersät mit glitzernden und funkelnden Himmelskörpern. So wundervoll auch dieser Moment war. Es war Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Welchen Weg sollte ich wählen?

»Was grübelst du so, Mylady?«, sagte eine Stimme neben mir.

Ich erschrak und zuckte zusammen. Neben mir saß der Feldbesitzer. Anscheinend hatte ich nicht bemerkt, wie er sich zu mir gesellte.

»Warum willst du das wissen?«

»Weil das hier 'die Bank an der Träume wahr werden können' ist.«

Sollte ich ihm, der mir doch so fremd war, mein Herz ausschütten? Was hätte ich schon zu verlieren? Also tat ich es...

»Ich weiß nicht, was ich studieren soll und heute um Mitternacht endet die Anmeldefrist.«

»Das ist eine schwere Entscheidung.«

»Ja, das ist es.«

Kurz bildete sich eine Stille und dann unterbrach er sie mit einer schwungvollen heiteren Stimme: »Wofür brennst du? Wovon kannst du nicht aufhören, zu träumen? Was liebst du?«

Ich überlegte und das einzige, was mir einfiel, war nur eins.

»Ich liebe die Natur. Ich träume jeden Tag von den Sternen und ich brenne für Blumen.«

»Dann würden zwei Studiengänge passen. Botanik und Astronomie.«

Er hatte recht. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten, die mich glücklich machen konnten.

»Dennoch muss ich mich für eines von den Beiden entscheiden.«

»Kannst du zwei Bewerbungen abgeben?«

»Nein, es ist nur eine möglich.«

»Was ist das, ohne das du nie leben könntest?«

Dieser Unbekannte überraschte mich. Er stellte die richtigen Fragen, die nur zu einer Antwort führten.

Beides war so unfassbar aber die Sterne waren so weit weg und die Pflanzen waren hier. Hier bei mir und das würden sie auch immer sein. Mit den Blumen könnte ich die Welt schmücken und mit den Kräutern könnte ich Heilmittel entwickeln. Die Sterne würden immer so fern sein und sie wären immer am Himmelszelt und würden die Menschen anfunkeln und ihre besondere Schönheit präsentieren. Egal, was ich tun würde, sie würden die Welt nicht zu einem besseren Ort machen. Sie würden jedem Menschen strahlende Augen schenken und Kinnladen würden in die Tiefe fallen aber Blumen konnten mehr. Man konnte sie schenken. Seinen Liebsten konnte man damit eine Freude machen. Jede Blume hatte eine bestimmte Bedeutung und damit würde man zu Tränen rühren, ein Lächeln auf die Lippen zaubern und im Herzen ein wenig Zauber hinterlassen.

Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte.

Ich holte mein Handy heraus und schickte meine Bewerbung, die ich vor zwei Monaten zusammengestellt hatte, ab. Es würde so viele Bewerber geben und die Uni wünschte sich nur volljährige Bewerber. Ich würde erst am 9. Dezember achtzehn werden. Da aber mein Notenschnitt bis jetzt immer zwischen 1,0 und 1,3 lag, würden sie vielleicht ein Auge zudrücken.

»Wofür hast du dich entschieden?«

»Botanik.«

»Bist du damit glücklich?«

»Ja.« Als ich diese Worte aussprach, wurde mir klar, dass es die richtige Wahl war.

Im Augenwinkel konnte ich ein Nicken von ihm erkennen.

»Und du?«, fragte ich ihn.

»Was soll mit mir sein?«

»Willst du nicht raus in die Welt und irgendetwas Bedeutendes tun?«

»Nein. Ich liebe diesen Ort und ich könnte ihn niemals verlassen. Das hier ist meine Heimat.«

»Es ist der schönste Fleck Erde, den ich jemals gesehen habe.«

»Das wird er auch immer sein.«

Wir blickten hinauf zu den Sternen und diesmal war ich diejenige, die die Stille unterbrach.

»Wie heißt du eigentlich?« rückte ich mit der Frage raus, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge lag.

»Jeremy. Du?«

Jeremy. Ein schöner Name. Melodisch und lieblich.

»Samantha.«

»Der Name passt zu dir.« Er lachte auf und grinste mich an.

»Ich weiß.« erklärte ich ihm und lächelte ihn neckisch an.

»Warum bist du hier?«

»Was meinst du?«

»Warum bist du aus der Stadt geflohen?«

»Ich bin nicht geflohen.«

»Was dann?«

Kam es nur mir so vor oder war er ein klein wenig neugierig?

»Ich bin aus der Schule geflogen.«

»Was hast du angestellt?«

»Nichts.«

»Für nichts wird man nicht rausgeschmissen.«

»Es war Notwehr. Mir hat nur keiner geglaubt.«

Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, wurde es still. Die Nacht verfinsterte sich ein wenig mehr und die Stimmung wurde betrübt.

»Das tut mir leid.«

»Ja...mir auch.«

Seit ich Clara alles erzählt hatte, war es schwerer einzuschlafen, schwerer, nicht an diese Nacht zu denken. Noch schlimmer war, dass wir nicht wussten, ob wir Julie noch vertrauen konnten.

Doch nun war ich hier. Hier in diesem Moment. In mir herrschte endlich wieder diese angenehme Ruhe.

»Deine Augen funkeln heller als die Sterne, weißt du das?«

Diese Aussage entlockte mir ein Schmunzeln. Ich blickte ihn an und da sah ich es in seinen Augen. Ein kleines Etwas, dass mir sagte das er in diesem Moment Hoffnung empfand, doch auf was?

»Was wünschst du dir im Leben?«, fragte ich ihn.

Schlagartig wurden seine tiefseeblauen Augen dunkel und er senkte den Blick. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Jeremy hob seinen Blick und richtete ihn auf die Himmelspracht.

»Frei sein.«

Ich ließ seine Worte ein paar Sekunden in der Luft hängen. Dann fragte ich ihn: »Wovon?«

Er schien zu überlegen, ob er sich mir öffnen sollte. Schließlich antwortete er: »Von der Last...die jeden Tag schwerer wird.«

»Glaub mir...ich kann dich verdammt gut verstehen.«

Er richtete seine Augen auf mich.

»Was bedrückt dich? Du weißt doch jetzt, was du studieren willst.«

»Das war das kleinste Problem.«

»Willst du darüber reden?«

»Nein. Dieser Moment soll zauberhaft bleiben.«

Er nickte und lehnte sich gegen die Holzbank.

»Früher war ich jeden Freitagabend hier mit meinem Vater.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Wir haben uns gemeinsam die Sterne angesehen und geträumt von einem Leben, das perfekt wäre.«

»Das Leben hier kann doch nur perfekt sein.«

»Nein. Hier ist es idyllisch aber das Leben nimmt einem manchmal alles, was einen glücklich macht.«

»Was ist passiert?«

»Eine Sternschnuppe!«

Tatsächlich, eine märchenhafte Sternschnuppe flitzte über den Himmel.

»Schnell, wir müssen uns etwas wünschen!« sprach ich aufgeregt.

Ich schloss meine Augen und wünschte mir das, was ich schon immer haben wollte.

»Was hast du dir gewünscht?«, fragte er mich. Wieder hatte er diesen hoffnungsvollen Schimmer in den Augen.

»Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen aber das muss geheim bleiben.«

Wir lächelten uns an und genossen noch ein wenig die gemeinsame Zeit unter dem prachtvollen Sternenhimmel.

Schließlich spazierten wir gemeinsam nach Hause. Ich mit Stirnlampe, die ich mir extra mitgenommen hatte und er mit einer Taschenlampe.

Auf dem Weg flüsterte er mir zu: »Du bist gar nicht so arrogant, wie du es immer vorgibst zu sein.«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Warum tust du dann so?«

»Weil es leichter ist...es macht mich weniger verletzlich.«

»Aber ist es nicht das, was Menschen zusammenschweißt? Ist es nicht Verletzlichkeit, die Freunde zu besten Freunden werden lässt oder die kleine Brise, die ein Pärchen zu etwas Besonderem macht?«

»Ich weiß nicht. Du könntest recht haben.«

Wir kamen beim Eingang von Kim an. Jeremy sah mir tief in die Augen. Ein vertrautes Gefühl machte sich in mir breit. In seinem intensiven Blick konnte ich ein kleines Feuer erkennen, das brannte und genauso schnell wieder erlosch, so wie es gekommen war.

»Gute Nacht, Samantha.«

»Gute Nacht, Jeremy.«

So ging ich meinen Weg und er seinen. Es war ein wunderbarer Abend, den ich nie vergessen würde. Er war nicht mehr der komische Nachbar, der dachte, er sei witzig. Nun war er so viel mehr. Ich sah ihn als einen Menschen, der eine Schramme in seinem Herzen trug, die genauso wie bei mir eine Weile brauchte, um zu heilen.

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