7. Eine andere Zukunft
Es war bereits Mittag als Bartosz sie endlich in einem Hafen für besondere Kunden, definitiv reich, in Stockholm einparkte. Gemeinsam mit Matthias saß er auf dem Sofa und aß was noch übrig war.
Ihr Vater hatte auf dem großen Fernseher tatsächlich eine Trash-Sendung gefunden und lachte mit Bartosz über die Teilnehmer irgendeiner Castingshow. Sie wirken, wie alte Freunde, genau wie Ava es Bartosz eingeflüstert hatte. Sie überließ die beiden dem Fernseher und freute sich auf ein wenig Einsamkeit.
Das ständige Aufeinanderhocken tat ihrem Verstand nicht gut. Sie war es gewohnt, kleine Momente zum Reflektieren zu finden und über Matthias Lachen konnte sie sich kaum denken hören. Eine warme Dusche wäre in diesem Augenblick genau richtig, nachdem sie die halbe Nacht einen Meter davon entfernt vor dem Klo verbracht hatte. Noch nie war sie einer ordentlich geputzten Toilette so dankbar gewesen.
Sorgfältig verschloss sie die Tür und entkleidete sich langsam. Von weitem hörte sie Matthias laut reden und schmunzelte. Es war schön, dass zumindest er seine Probleme ignorieren konnte. Sie war sich beinahe sicher, dass die nächtliche Kotzerei den überstrapazierten Nerven geschuldet war. Mit verkrampften Schultern stand sie vor dem Spiegel und kontrollierte die diversen Verletzungen ihres Körpers.
Die Schusswunde verheilte ausgesprochen gut. Es würde eine hässliche Narbe werden, aber neben den Geburtsmalen kaum der Rede wert. Die blauen Flecken verschwanden zunehmend und wenn nicht diese plötzliche Übelkeit gewesen wäre, hätte sie sich heute für Gesund erklärt.
Genervt von der ganzen Situation stieg sie hinter die gläserne Duschwand und schaltete das Wasser ein. Zunächst kalt, verwandelte es sich schnell in kochend heiß. In siedenden Bächen floss es über ihre verspannten Muskeln, lockerten und wärmte sie. Die Übelkeit schwand, die Müdigkeit trat in den Vordergrund. Erschöpft legte sie den Kopf gegen die kalten Fließen in der Hoffnung dadurch wach zu bleiben.
"Will...kannst du mich hören? Kannst du mich fühlen?", selbst wenn er ihre Emotionen über diese Distanz wahrnehmen könnte, eine Antwort würde ausbleiben. Sie hatten das Band zwischen ihnen nie in beide Richtungen zwingen können.
"Ich liebe dich.", flüsterte sie heißer im nebligem Wasserdampf und spürte die Sehnsucht Wellen in ihrem Körper schlagen. Wie in Trance begann sie sich einzuseifen. Bartosz teure Seife roch nach Jasmin und Honig. Sie fuhr über die Schultern, die Beine und schließlich den Bauch.
Perplex hielt sie inne und strich erneut über das weiche Stück Haut. Etwas war anders. Etwas hatte sich verändert. Etwas war gewachsen. Krachend fiel die Seife auf den Duschboden. Ava lehnte sich zitternd an die Glaswand und schloss die Augen.
Das konnte nicht wahr sein, durfte nicht wahr sein. In ihrem Kopf begann sie die Tage, die Monate zu zählen und konnte doch das untrügliche Gefühl der Veränderung nicht ignorieren. Ihr Körper hatte sich verändert, daran gab es nichts zu rütteln.
Hastig drehte sie das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Ihre Bewegungen waren abgeharkt und steif, ihr Körper fühlte sich nicht mehr wie ihrer an. Sie wollte runter von diesem Boot, musste Gewissheit in einer ohnehin ungewissen Zeit haben. Kopflos zog sie sich an und trat zu ihrem Vater in den Hauptraum unter Deck. Matthias warf ihr einen verwunderten Blick zu.
"Müssen wir schon los? Ich dachte, wir könnten hier frühstücken." "Das kannst du ruhig machen. Ich muss was besorgen, Frauensachen. Sollte nicht lange dauern." Er runzelte die Stirn, schielte halb auf den Fernseher.
"Soll ich dich begleiten?", war offensichtlich seiner aufkeimenden Vatersorge zuzuschreiben. Ava schüttelte den Kopf. "Bleib hier. Ich komme bald wieder."
"Du machst aber nichts Dummes, oder?" "Ohne dich? Niemals. Bis später." Sie kletterte aufs Deck und schließlich auf den hölzernen Steg des Piers. Bartosz rief ihr noch etwas nach, aber Ava hatte keine Nerven sich mit ihm zu unterhalten oder Matthias gar als Dolmetscher einzubinden.
Sie wollte einfach nur weit weg. Es herrschte geschäftiges Treiben. Gerade zur Mittagszeit schien einiges los zu sein. Ava drängte sich an den Menschen vorbei und versuchte tunlichst nicht aufzufallen.
Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern rannte sie auf die Innenstadt zu. Wie so viele europäische Städte gab es auch hier eine Altstadt im Zentrum. Die Gebäude waren niedrig und alt und die Geschäfte hauptsächlich auf den Touristenbetrieb ausgelegt.
Stockholm war sauber, gut organisiert und in jedem Fall grün. Ava kam sich neben den gut gekleideten Menschen reichlich schäbig vor. Ihre Kleidung war auf der Flucht dreckig geworden und der Angstschweiß hatte sich in jede Faser gebrannt.
Bei der ersten Gelegenheit schlüpfte sie in eine Boutique, um ihrem schrecklichen Zustand zu entkommen. Zu ihrem Glück schien gerade wenig los zu sein und auch die Verkäuferin war mit Ware beschäftigt. Innerhalb weniger Minuten fand sie Einiges, dass es wert war, ausprobiert zu werden.
In der Umkleidekabine entschied sie sich für eine blickdichte Strumpfhose und ein senffarbenes Minikleid im Stil der sechziger. Irgendwie passte das Ganze zu ihrem kurzen Bob und nachdem die Verkäuferin noch einen dezenten Hut obendrauf gelegt hatte, war das Outfit perfekt.
Es war fast schade, dass sie die Verkäuferin nicht bezahlen konnte, zumindest nicht mit echtem Geld. Lächelnd hielt die freundliche Frau Monopolypapier in den Händen, fest davon überzeugt ein gutes Trinkgeld erhalten zu haben. Zum Schluss fragte sie sie noch nach der nächsten Apotheke.
In nahezu perfektem Englisch gab die Verkäuferin ihr eine genaue Beschreibung. In dem neuen Kleid und dem angenehmen Trenchcoat über den Schultern konnte sie fast vergessen, weshalb sie von Bord gegangen war.
Die kleine Apotheke lag nur wenige Meter von dem Geschäft entfernt. Je näher sie kam umso langsamer wurde sie. Etwa einen Meter davor blieb sie stehen und atmete tief durch. Der Wunsch ihren Verdacht zu ignorieren war ungeheuer groß. Für ein paar Monate konnte sie sicher noch so tun als wäre da nichts, als hätte sich nichts verändert.
Ava biss die Zähne zusammen, nein, es führte kein Weg herum. Die Glocke klingelte als sie das Geschäft betrat und sich vorsichtig umsah. Außer einer gelangweilten Apothekerin war niemand da. Der kleine Raum wurde durch große Fenster erleuchtet und heizte ihn zunehmend auf. Unsicher trat sie zum Schalter.
"Guten Tag. Ich bräuchte...einen Schwangerschaftstest." Ihr Englisch war gut und sie erhoffte sich dasselbe von der Apothekerin. Die junge Frau lächelte höflich und holte das gewünschte Produkt.
In perfektem Englisch erklärte sie ihr was zu tun war und wünschte ihr viel Glück, für welches Ergebnis sie auch immer war. Auch hier bezahlte Ava mit Monopolygeld und hatte ein schlechtes Gewissen. Freundliche Menschen zu bestehlen, war nicht so lustig wie von miesgelaunten Tankstellenangestellten.
Gemächlich spazierte sie durch die Altstadt, bis sie schließlich ein kleines Kaffee entdeckte. Nach einer kleinen Mahlzeit und viel Wasser wurde es zeit, einer unschönen Wahrheit ins Auge zu blicken. Ihre Gefühle völlig unterdrückend pinkelte sie auf den kleinen Streifen. Ohne den Test anzusehen, packte sie alles wieder in die Verpackung und ging zurück zum Pier.
Sie brauchte das Meer, sie brauchte Ruhe. Umgeben von ausgelassenen Menschen setzte sie sich ans Ufer und ließ die Beine über dem Kanal baumeln. Unter ihr schwammen Enten, Weibchen, Männchen und einige Jungtiere.
Kleine Kinder warfen ihnen essen zu und lachten, wenn die Enten es schnatternd aßen. Ein verliebtes Paar bastelte an einem Blumenkranz und hielt sich mit Küssen von der Arbeit ab. William hätte es wahnsinnig gemacht, wenn sie ihn von der Arbeit abgehalten hätte.
Zweifellos wäre er besser im Flechten gewesen und Ava konnte ihn beinahe erklären hören. "Dann müssen wir das so biegen. Genau und da hinein gehört die andere Blume.", kummervoll wandte sie den Blick ab und griff in ihre Tasche. Laut der Anleitung sollte sie fünf Minuten warten und die waren längst um.
Ihr Hände zitterten als sie das Testergebnis überprüfte. Zwei kleine Linien. Zwei kleine Linien, die Eis durch ihren Körper jagten. Schwanger. Verdammt. Wie hatte das passieren können? William und sie passten doch auf! Und auf Williams Ordnungszwang konnte man sich verlassen, oder nicht? Er war abgelenkt gewesen, sie auch. Wie hatte sie nur so DUMM sein können!
Schwanger, das Wort kreiste wie eine dunkle Wolke über ihrem Kopf. Sie versuchte ruhig zu atmen, aber ihre Lunge wollte sich nicht mit Luft füllen. Hyperventilation. Richtig, das war das Wort, nach dem sie gesucht hatte.
Alles begann sich zu drehen, Panik überschwemmte ihre Sinne. Plötzlich war sie nass. Ava öffnete ihre zugekniffenen Augen und starrte das Kind neben sich verwundert an. Ein kleiner Junge, kaum älter als drei. Er hatte einen ganzen Leib Brot zu den Enten geworfen und sich selbst wie auch Ava angespritzt.
Die Lippen des Kindes verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Er begann zu lachen und wie wild auf die Enten zu deuten. Das Brot schwamm unsicher auf der Wasseroberfläche, doch gegessen wurde es nicht. Ein junger Mann griff sich den Jungen, während eine Frau in Avas Alter sich überschwänglich entschuldigte.
Die Eltern des Übeltäters hatten wohl einen Augenblick nicht aufgepasst. "Schon okay, alles gut. Es ist ja nur Wasser.", beruhigte Ava die Frau lächelnd. Erleichtert grinste die Mutter und zeigte dabei deutliche Ähnlichkeit zu ihrem Sohn. Mit einem Blick auf den Test in Avas Händen scheuchte sie ihre Familie jedoch zu einem anderen Abschnitt der Promenade.
Eine Sekunde nur sah Ava sich selbst in der Familie. Sie sah das kleine Wunder, das in ihrem Bauch wachsen würde. Die perfekte Kombination aus ihr und William, ein wundervoller neuer Mensch. Ein süßes Baby, das jeden ihrer Tage mit Liebe und Lachen füllen würde. Es wäre gut, sie wären glücklich. Sie wären eine Familie. Das Zuhause, dass weder William noch sie seit Archers Tod wirklich besessen hatten.
Eine Träne entkam ihren Augen und lief langsam über ihre Wange. Zu schade, dass William in einer Forschungseinrichtung festgehalten wurde, dass ihre Mutter eine Mörderin war und eine Wahnsinnige sie alle in einem Labor einsperren wollte. Die Welt wäre weder freundlich noch hilfsbereit.
Ava schüttelte den Kopf und steckte den Test weg. Das war nicht die Welt, in der sie ein Kind bekommen wollte. Ein sicherer Hafen und William an ihrer Seite wären von Nöten, um sie von einer guten Zukunft zu überzeugen. Aber nicht so, nicht in diesem Moment, nicht in ihrer Lage.
Langsam ebbte die Panik ab, das Gefühl der Hilflosigkeit verblasste und was zurück blieb war Resignation. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Nun wäre es an der Zeit diese durchzusetzen. Ruhig fragte sie das verliebte Paar neben sich nach dem nächstgelegenen Krankenhaus.
Ohne Umschweife gaben sie ihr eine genaue Beschreibung. Die beiden Männer sahen sie besorgt an und fragten, ob sie Hilfe brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Verneinend schüttelte sie den Kopf und verabschiedete sich.
Ihre Blicke im Rücken spürend, folgte sie der Beschreibung und spazierte durch die engen Gassen der malerischen Altstadt zu einer kleinen Klinik. Die Sonne stand schon reichlich tief als sie sich dem Gebäude näherte. Offensichtlich kein großes Krankenhaus, aber für ihre Zwecke sicher ausreichend.
Diesmal stand sie nicht ratlos vor dem Gebäude und sie ließ sich auch nicht von ihrer Furcht lähmen. Zielsicher trat sie ein und wurde von mäßigem Betrieb überrascht. In dem kleinen, lichtdurchfluteten Warteraum starrten die Patienten auf ihre Handys oder lasen die Zeitung. Die entspannte Atmosphäre konnte ihrer Nervosität nichts anhaben.
Avas Herz flatterte als sie an die Rezeption trat und die Dame dahinter freundlich anlächelte. "Sprechen Sie englisch?", die wohl wichtigste Frage. Schwedisch stand außer Frage und Ava wollte für diese Sache kein Googleübersetzer benutzen.
Die ältere Frau nickte lachend. "Natürlich. Was kann ich für dich tun, liebes?", ihr englisch hatte einen dicken Akzent, aber zumindest würden sie einander verstehen. Die Erleichterung über dieses gemeisterte Problem, schuf Raum für das kommende.
"Ich bin...schwanger. Und ich brauche einen... Abbruch.", presste sie ungeschickt hervor und erntete einen mitfühlenden Blick. Die Krankenpflegerin, dessen sie Namenschild "Astrid" nannte, stand auf und trat hinter der Rezeption hervor. Mütterlich legte sie einen Arm um ihre Schultern. Sie roch nach Desinfektionsmittel und Rosen.
Eine seltsame Kombination, die Avas Nerven dennoch beruhigte. Dankbar nahm sie ihre Hilfe an, denn jede Bewegung schien ungeheuer viel Kraft zu kosten und die Müdigkeit schlich bereits am Rand ihres Sichtfelds. Astrid führte sie in ein kleines Untersuchungszimmer, dessen hellblaue Wände sie an den Himmel erinnerte.
"Setzt dich mal hin und sag mir wie du heißt." Ava, etwas überfordert, setzte sich auf die Krankenliege. Ein falscher Name würde hoffentlich reichen. "Mina. Ich bin Mina."
"Gut, Mina. Ich muss dir ein paar Fragen stellen. Für die Protokolle." "Okay." "Dein voller Name?" "Mina Archer."
"Woher kommst du?" "Wieso ist das wichtig?" Astrid lächelte entschuldigend. "Dabei geht es hauptsächlich um die Versicherung. Wenn du Ausländerin bist, musst du die Prozedur selbst bezahlen."
"Ich bin Schwedin.", erwiderte Ava ohne den Hauch von Zweifel und half mit ihrer Gabe nach. Astrids Lächeln verrutschte etwas, als die falsche Information bei ihr ankam. "Okay. In welcher Woche bist du denn?"
"Keine Ahnung." Neben all dem Tod und der Verschwörung, der Entführung und der Angst William zu verlieren, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte zu zählen. "Dann werden wir mal nachsehen." Astrids Untersuchung verlief rasch und schon nach einigen Minuten wusste Ava, dass sie vor etwa sechs Wochen einen großen Fehler begangen hatte.
"Wie wird...ähm...was passiert jetzt?", nervös strich sie ihr neues Kleid glatt. Astrid stand auf und holte aus einem abgeschlossenen Schrank eine Pillenpackung.
"Eine davon nimmst du hier, bei uns. Danach kannst du entweder nach Hause gehen oder hierbleiben. Nach etwa vier Stunden nimmst du die nächste Pille. Danach wirst du deine Tage haben, aber nicht auf die nette Tour. Es wird unangenehm. Du kannst die Zeit zwischen den Pillen auch bei uns absitzen. Wir haben einen anderen, bequemeren Warteraum."
"Und danach? Ist es vorbei?" "Danach ist es vorbei. Wir sollten in den kommenden Wochen noch mal einen Ultraschall machen, um abzuklären, dass alles nach Plan verlaufen ist, aber ansonsten wärs das." So einfach wäre ihr Problem gelöst. Ava hatte mit sehr viel mehr Gegendruck, Fragen und peinlichen Untersuchungen gerechnet. Vielleicht sogar mit einem Therapiegespräch. Aber so...
"Alles okay?", mitfühlend strich Astrid über ihr Knie. Ava nickte zaghaft. "Ich hatte solche Angst vor dem Ganzen." "Wenn du noch Zeit brauchst..." "Nein! Nein, ich hab es mir gut überlegt. Ich weiß, was ich will." Beruhigt nahm sie die erste Pille aus Astrids Hand. Sie war klein und rund. Kaum der Rede wert.
"Du hast mich nicht mal nach dem Grund gefragt.", wisperte sie heilfroh und schluckte. Astrid reichte ihr ein Wasserglas und lächelte traurig. "Jede Frau, die es hierherschafft, hat einen verdammt guten Grund. Keine von uns nimmt diese Entscheidung auf die leichte Schulter. Du tust, was das richtige für dich ist und ich muss deine Geschichte nicht kennen, um das Recht auf deine Entscheidung anzuerkennen."
Astrids Worte sackten langsam und die Tatsache, dass sie sich nicht rechtfertigen musste, war eine Erleichterung. Wie hätte Ava ihr die Gefahr, in der sie sich befand, erklären können?
Schnell durchdachte sie ihre Optionen. Zurück auf das Boot zu Bartosz und Matthias wollte sie nicht und in der Stadt spazieren erschien ihr auch nicht angenehm. Also entschied sie sich dafür in der Klinik zu warten. Astrid seufzte lächelnd.
"Da bin ich froh, ich hab unsere Patienten gerne im Auge. Es ist zwar nur ein kleines Medikament, aber die emotionale Belastung ist doch enorm. Dir wird unser Warteraum gefallen. Ich bin persönlich dafür zuständig."
Der Stolz sprach aus jeder ihrer Poren. Astrid nahm sie wieder an den Schultern und führte sie einige Türen weiter in den anderen Warteraum. Offensichtlich war die ältere Krankenpflegerin eine Freund von Esoterik.
Der Raum triefte vor Feng-Shui. In jeder Ecke stand ein kleiner Brunnen, der Boden war in hellen Farben angemalt und auf den bequemen Sesseln und Liegen lagen selbstgestrickte Decken.
"Ich hab es so schön wie möglich gemacht, aber leider hat das Krankenhaus auch Hygienevorschriften. Was sagst du?" "Ähm, sehr schön. Sieht beruhigend aus." Astrid strahlte wie ein Honigkuchenpferd und drängte sie auf einen roten Ledersessel.
"Da hinten sind ganz viele Bücher, falls dir fad wird. Aber du kannst auch eine Runde Schlafen. Ich komme dann so in drei Stunden für die zweite Pille." Mit einem letzten Lächeln verabschiedete Astrid sich. Ava ließ ihren Blick schweifen.
Außer ihr waren noch vier weitere Frauen im Raum. Zwei davon hatten ihren Partner mit und unterhielten sich leise. Ein Mädchen schlief zusammengerollt auf einem Sofa, sie konnte nicht älter als sechzehn sein. Und eine ältere Frau las gelangweilt eine Klatschzeitschrift. Ava sah auf ihre Hände. Was sollte sie mit der ihr bleibenden Zeit tun?
Auf Lesen hatte sie keine Lust, anderes Entertainment wäre ihr Handy gewesen, dass sich leider immer noch in Furia befand. Die Situation kam ihr surreal vor. "Alles klar?", hörte sie die ältere Frau neben sich höflich fragen und nickte abwesend. "Ja, irgendwie. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll." Ihr Geständnis traf auf verständnisvolle Ohren. Die Frau lächelte und zeigte auf die Saftbar am hinteren Ende des Raumes. Astrid hatte sie überschwänglich mit Kunstblumen verziert.
"Fang mit was zu trinken an. Das beruhigt immer und je entspannter du bist umso leichter wird es." Dankbar für die Empfehlung holte Ava sich einen Organgensaft und setzte sich wieder.
"Der ist gut. Danke." "Keine Ursache. Wir sitzen ja alle in derselben Scheiße. Ich wünschte, ich könnte es wie das Mädchen machen." Die Sechzehnjährige auf der Liege schnarchte leise. Ihre Ruhe war beneidenswert.
"Wieso kannst du es nicht?", rutschte es aus ihrem Mund, bevor sie sich bremsen konnte. Wie viele Fragen durfte man einer anderen Frau in dieser Situation stellen? Und besonders welche? Ihr Gegenüber zuckte mit den Achseln. "Bin zu nervös. Das letzte Mal hab ich das gemacht, als ich achtzehn war und damals war es die Hölle."
"Wegen der Schmerzen?" Besorgt griff sie sich an den Bauch. Noch spürte sie nichts, doch Astrid hatte sie gewarnt. "Nein, die Schmerzen hält man aus. Das ist nicht so schlimm. Aber das System, dass sie damals hatten, war ein anderes. Das Stigma viel härter. Ich durfte mir viele furchtbare Vorträge und gehässige Kommentare anhören. Die Welt hat mir Vorwürfe gemacht und ich...ich hab mich innerlich zerfleischt. In einer Situation, die mich sowieso schon fertig gemacht hat."
"Astrid war so nett.", hauchte Ava und dachte an ihre eigenen Befürchtungen. Die Frau vor ihr nickte zustimmend. "Sie ist großartig, aber bis wir zu diesem Punkt der Akzeptanz gekommen sind, war es ein langer weg." Das Grauen, dass viele Frauen vor ihr erlebt hatten, wollte sie sich nicht vorstellen.
"Aber genug davon. Jetzt haben wir ja Astrid. Wenn du schlafen kannst, solltest du es probieren. Die Bücher sind nicht besonders unterhaltsam, drei Stunden können lang sein und du siehst müde aus." Sie war müde. Todesmüde. Nach der vergangen Nacht war es ein Wunder, dass ihre Augen noch nicht zugefallen waren.
"Danke für das Gespräch. Ich glaub, du hast recht. Ich werde mich niederlegen." Eines der Sofas stand etwas abseits und die beruhigende blaue Farbe schien sie magisch anzuziehen. Völlig erledigt wickelte sie sich in die grüne Strickdecke und seufzte wohlig.
Just in diesem Moment beschloss ihr Verstand kleine Loopings in ihrem Kopf zu vollführen. Horrorszenarien erschienen vor ihren Augen, William blutig oder tot, weil sie zu langsam gewesen war. Oder er würde sie hassen, für das was sie soeben getan hatte. Obwohl ihre Gedanken kreisten, gab ihr Körper sich schließlich der Erschöpfung geschlagen.
Als sie von sanften Händen geweckt wurde, fühlte sie sich tatsächlich besser. Gähnend rieb sie sich den Staub aus den Augen und suchte Astrids Blick. "Guten Morgen, Schlafmütze. Du siehst besser aus." "Meine Nacht war recht kurz gewesen." "Dann bin ich froh, dass du noch mal kraft getankt hast, denn jetzt...kommt der unangenehme Teil."
Astrid hielt ihr eine kleine Pille entgegen. Genau wie die erste, ein unscheinbares Ding. Ava nahm sie und schluckte sie mit Orangensaft hinunter. "Geschafft und jetzt?"
"Jetzt gehst du nach Hause und ruhst dich aus. Zumindest für die nächsten drei Tage. Hier hab ich einige Periodenprodukte. Binden und Periodenunterwäsche. Pass einfach auf dich auf und lass es langsam angehen."
Nickend nahm sie das Sackerl entgegen und folgte Astrid aus dem Raum. Keine der ihr bekannten Frauen saß mehr da. Statt ihrer saßen zwei neue Frauen in den Sesseln und warteten auf das unvermeidliche. Astrid verabschiedete sich mit einer langen Umarmung, auf die Ava nicht hätte verzichten können.
Der warme Körper der Krankenpflegerin erinnerte sie zu sehr an eine Mutter. Hätte Georgette dieselbe Entscheidung getroffen? Soweit Ava wusste, hatte sie nie eine Wahl gehabt. Der Weg zurück zum Boot war erfüllt von düsteren Gedanken und Gefühlen.
Der Mond verbarg sich in dieser Nacht hinter einer dicken Wolkendecke. Nur dank der reichlichen Beleuchtung der Stadt fand sie ihren Weg rasch. Die Dunkelheit hüllte sie in bedächtiges Schweigen. Sie sah Matthias erst, als er sich vor ihr aufbaute und ärgerlich die Nase rümpfte.
"Wo bist du gewesen? Ich hab mir Sorgen gemacht." "Ich hab dir doch gesagt, dass ich was zu erledigen habe." "Vier Stunden lang? In einer Stadt, die du nicht kennst?"
"Meine Angelegenheiten gehen dich nichts an!", knurrte sie und ballte die Fäuste. Der aufgebaute Stress der letzten Stunden wollte explodieren und irgendwas zerstören. Mühsam kämpfte sie ihre Gefühle hinunter und begegnete dem kalten Blick ihres Vaters. Mit verschränkten Armen sah er sie an.
"Ich dachte du wärst abgehauen. Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen. Oder tot auffinden, nachdem Isabella alles mit dir gemacht hat, was sie machen will." Angst. Er hatte Angst um sie gehabt. Daher die Inquisition. Das erste Ziehen in ihrem Unterleib verdrängte die Wut und überließ den Raum purer Erschöpfung. Seufzend rieb sie über ihr Gesicht.
"Ich weiß...ich weiß. Okay. Es tut mir leid. Jetzt bin ich ja wieder da. Und ich bin wirklich müde. Können wir diesen Streit nicht morgen in der Früh zu Ende bringen?" Matthias runzelte verwirrt die Stirn und schien keine Antwort zu haben.
Ohne darauf zu warten, kletterte sie an Bord und unter Deck. Ihr Ziel war das große Bett, das sie in dieser Nacht für sich allein haben würde. Kaum hatte sie den Raum betreten, versperrte sie die Tür hinter sich. An der Tür lehnend schloss die die Augen, als der erste Krampf ihr den Atem raubte. Keuchend beugte sie sich vor.
"Ava? Alles okay?", ihr Vater versuchte die Tür zu öffnen und scheiterte, "wieso ist die Tür zu?" "Ich hab was Falsches gegessen. Kannst du heute auf dem Sofa schlafen?" Einige Sekunden war es still, dann...
"Okay." Sein missbilligender Ton galt ihrer offensichtlichen Lüge und dem Geheimnis, dass sie zu tragen beschlossen hatte. Zittrig rollte sie sich auf dem Bett zusammen. In stetigen Schüben spürte sie die Medikamente wirken.
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