4. Gute und schlechte Seiten

Nichts beharrlicheres lebt auf der Welt als ein Liebender (Properz)

Es vergingen fünf Tage in denen Ava nichts anderes tat als schlafen, essen und sich von merkwürdigem polnischem Fernsehen berieseln zu lassen. Die alte Besitzerin der kleinen Pension, in der sie sich befanden, war freundlich und zuvorkommend. Sie schaute auf sie und schien auch Avas seltsame Verletzung gefließlich zu ignorieren.

Avas Kräfte reichten schon nach dem zweiten Tag wieder aus, um den Zimmerservice zu manipulieren. Jeden Tag wurde sie mit gutem Essen überhäuft und genoss es die verschiedenen Kuchen der Pension zu kosten. Und während all der Zeit wahrte ihr Vater Abstand.

Matthias drängte sie nicht, er blieb für einige Stunden bei ihr, sprach mit ihr, lachte mit ihr und dann ließ er sie wieder in Ruhe. Wohin er ging, wenn er durch die Zimmertür verschwand, konnte sie nur erraten. Er sprach vor allem von Spaziergängen und dem Rauschen des Meeres. Ava war seiner Geduld dankbar und begann seine Nähe zu schätzen.

Er war chaotisch und impulsiv, in vielen Situationen merkte man ihm die jahrelange Gefangenschaft deutlich an, aber er bemühte sich um sie. Besonders liebte sie seine Geschichten über Georgette. Jedes Mal, wenn er den Namen ihrer Mutter sagte, leuchteten seine Augen voller Liebe.

Die zwei schienen in ihrer stürmischen Liebesgeschichte einiges erlebt zu haben und obwohl Ava, diesem spontanen Techtelmächtel nicht nachempfinden konnte, so fühlte sie doch mit. William und ihre Beziehung war völlig anderes. Viel ruhiger und beständiger, zumindest hatte es den Anschein, wenn sie ihrem Vater zuhörte.

"Sie war verrückt nach Eiscrème. Sowas hatte ich vorher noch nie erlebt. Ich meine, sie war generell ein Fan von Essen und ich meine wirklich jedem Essen, aber Eiscreme...dafür hätte sie getötet."

"Und hat es vermutlich auch.", entgegnete sie trocken und erntete wie so oft einen missbilligenden Blick von Matthias. Er sah in Georgette nur die guten Eigenschaften, sprach nie von ihren grausigen Taten, andererseits verdrängte er auch gerne seine eigenen Sünden.

"Ich habe sie in unserem ersten gemeinsamen Sommer oft auf die Donauinsel mitgenommen.", erzählte er versonnen und wechselte geschickt das Thema, "sie hatte einen Eiswagen arrangiert, der uns überall hin folgen sollte. Falls sie Lust auf Eis hätte, wäre sofort welches zur Stelle. Es war skurril. Aber auch so typisch sie."

"Ich schätze mal, dass sie für die Dienste des Eiswagens nichts gezahlt hat." "Nein, hat sie nie. Georgie hat immer bekommen was sie wollte.", Matthias seufzte, er wusste genau worauf Ava hinauswollte. Sie musste wissen, wie ihre Mutter mit dem Hass umgegangen ist, musste es verstehen.

Wer sonst auf dieser Welt könnte ihr sagen, wie sie mit Isabella und den zunehmenden Bedrohungen umgehen sollte. "War sie...traurig, weil jeder sie verabscheut hat?", fragte sie kleinlaut in das stille Zimmer, in dem sie auf dem Bett picknickten. Matthias verzog den Mund.

"Sie war...ich weiß nicht." "Bitte sag es mir." "Einsam. Sie war einsam. Und traurig und wütend und so vieles mehr. Sie wusste nicht, wie sie ihre Situation ändern sollte, sie kannte nichts anderes und ihre Kräfte...haben ihr viel abverlangt."

"Das heißt, sie wusste, dass sie Menschen weht, tat? Ihr war klar, dass ihr Verhalten falsch war?" Verärgert schnaubte Matthias und schüttelte den Kopf. "Natürlich wusste sie das! Sie war nicht das Monster, das die Medien gerne aus ihr gemacht haben. Sie hatte nur...manchmal da war es, als würde sie die Realität nicht von Fantasie unterscheiden können. Ihre schlimmsten Ängste wurden dann für sie wahr und sie verlor die Kontrolle. Besonders das Biegen der Realität hat es verschlimmert."

"Wie häufig ist das passiert?", es hörte sich sehr nach Williams Vermutung an, dass Georgette an episodischen Psychosen gelitten hatte. "Alle paar Wochen, aber wenn wir die Symptome rechtzeitig erkannt hatten, konnten wir Georgette nach Hause bringen. Sie würde dann in ihrem Schlafzimmer Tabletten nehmen und so gut es ging schlafen. Ihre Telepathie beeinflusste dann nur wenige Menschen, die ihrer Villa zu nahekamen. Alle anderen blieben verschont."

Also hatte ihre Mutter versucht, den Schaden zu begrenzen. "Du hast ihr geholfen?" "So gut es ging. Ich habe ihr die Schlaftabletten besorgt und auf sie aufgepasst. Wir haben ihre Anfälle mit der Zeit besser unter Kontrolle gehabt. Mein Traum war es ihr wirkliche Hilfe zu besorgen. Einen guten Psychiater und wirksame Medikamente. Sie ist nicht als Monster geboren. Die Gefangenschaft und ihre Fähigkeiten, sie sind schuld, dass sie...na du weißt schon."

"Hat es dich nicht gestört, dass die Welt sie gehasst hat?" Diese Hürde schien ihr zu groß, als dass eine frische Beziehung sie überlebte. Matthias zuckte jedoch unbeeindruckt mit den Achseln. "Ich habe sie nicht anders kennengelernt. Als ich ihr begegnet bin, war sie bereits die Person, die sie war. Mit all ihren guten und schlechten Seiten. Und naja, ich war...bin ja auch kein Heiliger."

"Aber sicher nicht so schlimm wie Mutter.", zweifelnd runzelte sie die Stirn. Ihr Vater konnte sich unmöglich mit einer Massenmörderin vergleichen. "Ich habe auch Dinge getan...auf die ich nicht stolz bin."

"Was genau?" "Willst du wissen, wie wir uns kennengelernt haben?", dumme Frage, natürlich war Ava neugierig und obwohl sein Versuch ihrer Frage auszuweichen so plump war, konnte sie nicht widerstehen. Wo lernte man die tyrannische Herrscherin Europas kennen und lieben. Matthias lächelte bei der Erinnerung.

"Im Prater. Ich war immer ein großer Fan der Achterbahnen und der Zuckerwatte. Der ganze Rummel mit den Geisterhäusern und den bunten Gebäuden hat mich stets aufgeheitert, egal wie mies ich drauf war. Und an diesem Tag hatte ich Aufmunterung echt nötig."

"Warum?", unterbrach Ava und biss in einen Schokokeks. Ihr Vater winkte ab. "Ach jetzt nicht mehr so wichtig. Auf jeden Fall hatte Georgie den gesamten Prater für sich beansprucht. Niemand hatte Zutritt." "Da wird Milo sich gefreut haben."

Matthias lachen klang ehrlich amüsiert, "Milo war nicht schwindelfrei. Schon beim Anblick einer Achterbahn hat sich der Junge übergeben. Den Prater mied er wie die Pest. Nein, Georgie war allein. Wie viel weißt du über ihre Kindheit?"

"Alles.", entgegnete Ava bitter und wünschte sich es wäre nicht so. Milos Erinnerungen spuckten nach wie vor durch ihre Albträume. Matthias nickte verständnisvoll. "Ist keine schöne Geschichte." "Nein, wirklich nicht."

"Georgie hat sich immer nach einem unbeschwerten Leben gesehnt, nach der freien Kindheit, die ihre Eltern ihr nicht geben wollten. Ihr Haus war volles Spielzeug, obwohl Milo dafür längst zu alt war. Und der Prater war ein kleines Stück vom Paradies für ihr inneres Kind. Dort konnte sie frei sein, Kind sein und herumalbern. Alles woran sie sich von ihrer eigenen Kindheit erinnern konnte, waren Schmerzen und Angst. An jenem Tag war ich so dumm und hab die Absperrung missachtet. Teilweise weil ich abgelenkt war, teilweise weil ich als Flüchtiger anders auf Absperrungen und Verbote reagiert habe. War alles optional in meiner verrückten Welt aus Decknamen und falschen Ausweisen."

"War es hart? Immer auf der Flucht?", Ava konnte sich solch ein Leben nicht vorstellen. Sie war starre Strukturen und Regeln gewohnt. Auch nach Milos Massaker hatte sich das nicht wirklich verändert. William war genauso strukturell wie die besten Erzieher in den Wohngemeinschaften. Manchmal hatte sie sich nach mehr Spontanität gesehnt, aber der Gedanke war schnell verflogen und der Alltag hatte sie wieder eingeholt.

"Nicht wirklich. Ich war nie der beständige Typ. Hat meinen Bruder verrückt gemacht. Bin wahnsinnig oft umgezogen und hab Arbeitsstellen gewechselt. Für mich war das alles kein Problem, ich hab gerne von einem Tag auf den anderen gelebt und mich treiben lassen. Als Flüchtiger hat sich da kaum etwas für mich geändert. Das Einzige was mich gestört hat, waren die falschen Namen. Ich konnte mir meinen neuesten Namen nie merken und hatte oft peinliche Vorstellungsrunden."

Lachend lehnte Ava sich zurück. Sie konnte Matthias gut nachvollziehen. In Furia war es ihr genauso ergangen. Ihr Deckname Mina war zwar einfach, aber sie war nun mal einen anderen gewohnt und hatte mehrmals nicht reagiert. "Was ist dann passiert? Im Prater mein ich."

"Georgie hat mich entdeckt, natürlich. Und man ist die sauer geworden. Fuchsteufelswild sag ich dir." Wild gestikulierend versuchte er ihr die Situation zu beschreiben. "Sie hat geschrien und alles hat gewackelt. Sie wollte mich schon umbringen, dann hat sie gefragt, was ich hier eigentlich suchte."

"Und?" "Na ich hab ihr erklärt, dass ich nur ein bisschen Achterbahn fahren wollte. Mehr nicht. Danach hat sie mich gezwungen jede Achterbahn mit ihr gemeinsam zu fahren. Mehrmals! Ich schätze für andere hatte es wie Strafe ausgesehen, aber ich glaube, sie wollte nicht alleine fahren und hat mich deshalb mitgenommen."

Mitfühlend dachte Ava an ihre eigene Isolation, an die wenigen Freunde und ihr Bedürfnis gemeinsame Erinnerungen zu schaffen. Ihre Mutter hatte alles gehabt. Geld, Macht und Freiheit, aber trotzdem war sie einsam gewesen. Völlig allein mit ihren Problemen. "Und dann?"

"Dann sind wir einen ganzen Tag nichts als Achterbahn gefahren und haben ungesundes Zeug in uns reingestopft. Keiner von uns wollte zugeben, dass uns wahnsinnig schlecht war, wir haben einfach immer weitergemacht, bis wir uns übergeben haben. Und am nächsten Tag haben wir uns noch mal verabredet. Diesmal war es einer dieser Indoor-Spielplätze. Ich glaube ich hatte noch nie so viel Spaß wie an diesem Tag."

Ihr Vater blickte sie verträumt an, ob er sie sah oder doch seine längst vergangene Liebe blieb unergründlich. "Du bist ihr ähnlich." "Ich weiß, dass hab ich schon oft gehört. Es sind die Haare und mein Gesicht." Matthias schüttelte vehement den Kopf.

"Nein, das mein ich nicht. Du hast ihren Humor, ihre Neugierde auf die Welt. Und ihre Freigiebigkeit und Lebenslust. All das was gut an ihr war, hast du geerbt. Hoffentlich auch ein paar gute Sachen von mir." Offensichtlich vor allem die Rastlosigkeit. Matthias konnte nie lange stillsitzen, seine Hände waren stets in Bewegung.

"Wir wissen zumindest, dass ich deine Augen habe." "Ach, die könntest du auch von Ichabod haben. Ich bin sicher, wir finden noch was Besseres." "Wenn du meinst." Verlegen zupfte sie an ihren kurzen Haaren und lächelte verhalten. Matthias hatte ihr den Haarschnitt überarbeitet. Es sah nicht perfekt aus, aber besser. Vorher hätte man fast denken können, ein Kleinkind hatte sich mit einer Schere ausgetobt.

"Ich vermisse sie.", gestand er leise, seine Augen sahen bekümmert zu Boden. "Ich auch.", erschrocken hörte sie diese zwei kleinen Worte aus ihrem Mund kommen. Ihr gesamtes Leben hatte sie ihre Mutter verleumdet, ihre Gefühle für sie tief in sich begraben. Was anderes hätte sie auch tun können, sie war darauf konditioniert worden, Georgette Park zu verachten. Die Sehnsucht nach ihrer Mutter zuzugeben, hob eine schwere Last von ihren Schultern. Erleichtert atmete sie auf und spürte Tränen ihre Wangen hinunterlaufen.

"Ich vermisse sie auch.", schluchzte sie laut. Sie vermisste die Frau, die ihre Mutter geworden wäre, ihre Liebe und Geborgenheit. Es war ihr egal, wie irrational ihr Verlangen war oder wer Georgette Park am Ende war, Ava wollte einfach nur ihre Mama fest umarmen. Matthias nahm sie statt ihr in den Arm und drückte ihr liebevoll einen Kuss auf die Stirn.

"Sie wäre so stolz auf dich. Auf die Frau zu der du herangewachsen bist. Deine Stärke war ihr größter Wunsch. Sie wollte, dass du an ihren Fähigkeiten nicht zerbrichst, und du hast es geschafft." Zärtlich umfasste er ihr Gesicht und lächelte kummervoll.

"Sie hat dich geliebt. Mit jeder Faser ihres seines, hat sie dich geliebt. Jeden Abend hat sie dir ein Lied vorgesungen und darauf gewartet, dass du sie trittst. Sie hätte alles für dich geopfert, genauso wie ich. Ich werde dich nie wieder allein lassen. Hörst du mich. Wir sind jetzt eine Familie." Aber Ava hatte bereits eine und die musste sie retten. Zögerlich schälte sie sich aus seiner Umarmung.

"Dann hilfst du mir den Rest meiner Familie zu holen?" "Ava...", die Gesichtszüge ihres Vaters verfinsterten sich, er wusste genau wen sie meinte. "Wenn er lebt, müssen wir ihn befreien. Isabella hat etwas von einem Ort gesagt. Bittraslutet? Dort muss sie ihn hingebracht haben. Wir müssen hinfahren und ihn rausholen."

"Vermutlich. Ich hab gesagt, dass er vermutlich noch lebt. Und selbst wenn, das Ganze wäre viel zu gefährlich. Wir sind ihr gerade erst entkommen und du willst wieder zurück? Hast du die leiseste Ahnung was sie mit uns machen wird, wenn sie uns kriegt?"

Stur verschränkte sie die Arme. In dieser Sache würde sie nicht nachgeben. William würde die Welt nach ihr absuchen und sie war bereit dasselbe zu tun. "Ich gehe nach Bittraslutet und ich hole William. Es wäre schön, wenn du mir helfen würdest, wenn nicht...", sie ließ es offen und sah wie ihre Worte langsam sackten. Matthias Kiefer mahlte unsichtbares Mehl, schließlich schnaubte er bitter. "Jetzt weiß ich was du von mir hast. Meinen Starrsinn."

"Heißt das du hilfst?" "Wir wissen noch nicht mal wo Bittraslutet liegt." Ava zuckte mit den Achseln. "Das lässt sich rausfinden, wir müssen nur-" Jemand klopfte an ihre Tür. Heilfroh ergriff Matthias die Flucht vor ihren Plänen und öffnete die Tür.

Ava erkannte die Besitzerin der kleinen Pension. Der Gesichtsausdruck der kleinen Frau wirkte alles andere als glücklich. Das Gespräch war hektisch und aufgeladen. Etwas stimmte nicht. Selbst ohne die polnischen Worte zu verstehen, begann Avas Herz zu rasen.

Angespannt rückte sie zur Bettkante und wartete darauf ihren Vater nach einer Erklärung zu fragen. Die Angst in Matthias Gesicht sprach Bände. Er nickte und schloss die Tür wieder. "An der Rezeption stehen merkwürdige Leute, die nach verdächtigen Personen suchen."

"Isabellas Leute?" "Sehr wahrscheinlich. Wir müssen verschwinden." Eilig packten sie ihre wenigen Habseligkeiten ein. Ava zog eine Strickweste über ihrem blauen Kleid an und setzte eine Kappe auf. Das weite Kleid versteckte ihren Verband, doch zum Gehen, würde sie trotzdem noch Matthias Hilfe brauchen. Auf ihn gestützt traten sie aus dem Zimmer und wurden von der freundlichen Besitzerin eine Hintertreppe hinaus auf die Straße gelotst.

"Warum hilft sie uns?", fragte Ava keuchend. Das Gehen viel ihr in dem dicken Verband schwer. Sie musste sich dringend einen anderen besorgen. Matthias half ihr auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Steuer. "Sie mag uns."

"Und deshalb hilft sie uns zu fliehen?" Matthias zuckte die Achseln und startete den Motor. Quietschend fuhren sie los. "Ich bin halt charmant." Zweifelnd hob sie die Augenbrauen, erwiderte jedoch nichts. Sollte ihr Vater doch glauben, was ihn glücklich machte. Ava sah aufmerksam in den Rückspiegel. Wenn ihnen jemand folgte, wollte sie das wissen. Nach einigen Minuten atmete sie hörbar aus. Keine wilde Verfolgungsjagd.

Zumindest eine gute Sache, aber das Isabella sie so schnell gefunden hatte, war kein gutes Zeichen. "Da hatten wir wohl noch mal Glück gehabt." Matthias beobachtete die Fahrzeuge hinter ihnen im Spiegel. "Scheint so." "Sie hat uns schnell gefunden."

Ihr Vater nickte langsam und umfasste das Lenkrad fester. Seine Fingerknöchel wurden unter dem Druck weiß. "Sie ist gut. Ich hab dir gesagt, dass sie gut ist. Wir haben keine Chance gegen sie. Bittraslutet ist ein Selbstmordkommando." Ava biss die Zähne zusammen und zog an dem unangenehmen Verband. Matthias Worte rieben über ohnehin strapazierte Nerven. Er sollte ihr einfach nur helfen und aus.

"Ich werde meine Meinung nicht ändern.", flüsterte sie und hielt Ausschau nach einer Shoppingmall. Alles was sie brauchte war Internet und eine Schere. Google würde ihr schon sagen wo Bittraslutet sich befand und mit einer Schere konnte sie diesen furchtbaren Verband endlich loswerden. Ärgerlich kramte sie in den unordentlich eingeräumten Taschen nach der Schere.

Als sie begann den Verband zu lockern, zischte Matthias missbilligend. "Vielleicht solltest du damit noch warten. Du hattest ja nicht mal Zeit dich richtig zu erholen." Seine Sorge ließ die Falten auf seiner Stirn tiefer wirken. "Ich hatte mehr als genug Zeit. Es wird schon gehen. Mit dem Verband bin ich nicht so schnell und wer weiß wann wir das nächste Mal laufen müssen."

Vorsichtig begann sie ihr rechtes Bein zu heben und zu strecken. Es tat weh, höllisch weh, aber es blutete nicht und der Knochen schien auch nichts abbekommen zu haben. Eine Fleischwunde. Eine hässliche, unangenehme Fleischwunde, aber nichts, dass sie in nächster Zeit umbringen würde.

"Wenn es nach mir geht, gar nicht.", wisperte er passiv aggressiv und Ava hatte genug. "Halt den Wagen an!" "Was? Nein! Wir sind noch viel zu nah an Isabellas Leuten." "Halt da vorne bei dem Supermarkt. Los jetzt." Widerwillig folgte er dem spröden Befehl. Der Motor stoppte und sie wandte sich ihm zu.

"Isabella hat uns gefunden und sie wird uns immer wieder finden. Auf der ganzen Welt gibt es kein Versteck, in das wir kriechen könnten. Ich war zu lange eingesperrt. Milo und William haben viel zu viel für meine Freiheit geopfert, als das ich sie jetzt einfach wieder hergebe. Wir gehen nach Bittraslutet. Wir stellen uns Isabella und egal wie es ausgeht, es wird ein Ende haben."

"Und wenn dir das Ende nicht gefällt?" Die blauen Augen ihres Vaters strahlten dunkel. Abgründe schienen in ihnen verborgen, darauf bedacht ihr Angst zu machen. Welche Traumata musste Matthias erlebt...überlebt haben, um einen solchen Blick aufbringen zu können. Ein kalter Schauer rieselte über ihren Rücken.

"Ich werde nicht kampflos untergehen.", erwiderte sie stur und trat dem Schrecken in den Augen ihres Vaters mutig entgegen. Matthias sah sie einige Sekunden lang unergründlich an und nickte schließlich. "Das hat Georgie auch immer gesagt. Du hast also auch den Kampfgeist von ihr."

"Ich kann dir ein bisschen was davon borgen.", sie wollte nicht streiten und sie wollte nicht allein nach Bittraslutet. Das ängstliche, einsame Kind in ihr wollte Matthias an ihrer Seite haben. Das kleine Lächeln ihres Vaters löste die Spannung ein wenig.

"Danke, ich kann es weiß Gott, gebrauchen. Bist du dir sicher, Ava? Bist du dir wirklich sicher? Bittraslutet...es wird dir nicht gefallen, was du dort findest." "Was meinst du? Weißt du mehr über diesen Ort?", misstrauisch runzelte sie die Stirn. Egal wie viel Matthias preisgab, er schien dennoch tausend Geheimnisse zu hüten. Darin unterschied er sich in keinster Weise von seinem älteren Bruder.

Archer hatte ihr so vieles vorenthalten und langsam begann Ava diese Geheimniskrämerei zu hassen. Sie wollte die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Matthias Seufzen hätte eine Sauerstoffflasche auffüllen können. "Er liegt nördlich von Stockholm. Ein kleines Dorf in das Isabella ihren gesamten Einfluss gesteckt hat. Soweit ich weiß, hat sie dort ein riesiges Labor gebaut. Eine Zeit lang hat sie überlegt, ob sie mich dort zu den anderen Wissenschaftlern bringen soll, aber die Gefahr das ich rede, schien ihr zu hoch."

Nördlich von Stockholm. In Avas Kopf erschien eine Landkarte. Sie befanden sich an der Nordküste Polens. Mit dem Schiff sollten sie Stockholm erreichen können. Sie blickte Matthias wieder an. "Ich bin mir sicher. Ich will nach Bittraslutet." "Dann hab ich keine Wahl, oder?"

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