23. Von Vergangenem
"Wo fange ich an? Es gibt so vieles, dass ich dir sagen will.", Beth wirkte genauso überwältigt, wie sie sich fühlte. Matthias trat vor und zog sich einen Stuhl zu ihnen. Seine Nähe machte Ava unruhig, aber um nichts in der Welt würde sie Beths Seite verlassen.
"Darf ich anfangen?", fragte er vorsichtig und wartete auf ihre Reaktion. Beth nickte und ihr Vater begann mit einem tiefen Seufzer.
"Ich habe Beth kennengelernt als sie ein Baby war. Isabellas Vater Masao Nakamura hatte sie Georgies Eltern abgekauft. Er wollte, dass wir, Williams Eltern und ich, Experimente mit ihr durchführen. Wir haben uns geweigert. Ich bin kurz darauf geflohen, habe meine Forschung zerstört und gehofft, dass Zara und Martin ein gutes Zuhause für Beth finden. Leider war dem nicht so."
"Ich wuchs in unterschiedlichsten Laboratorien von IZANAGA auf. Wurde immer weitergereicht. Masaos kleines Haustier." Nicht mal ein richtiger Mensch. Oder gar ein Kind.
"Ich habe Beth wiedergesehen als sie ein Kind von etwa fünf Jahren gewesen ist. Ein zuckersüßer Engel, jemand vollkommen unschuldiges in der Hölle die Isabella mir bereitet hatte. Da ich damals gerade dich, Ava, verloren hatte, war Beth ein Trost, eine Ablenkung, das Kind, dessen Vater ich unbedingt sein wollte."
Beth griff nach seiner Hand und drückte sie fest. "Und ich hab dich gebraucht. Die Einsamkeit hat mich langsam umgebracht. Je älter und selbstständiger ich wurde umso weniger Aufmerksamkeit wurde mir von Seitens des Managements zugestanden." Das klang vertraut. Ava hatte ähnliches in den Gruppenwohnungen und Pflegefamilien miterlebt, dennoch waren es zumindest keine sterilen Umgebungen gewesen. Auf kindgerechte Spiele war trotz allem geachtet worden.
"Ich habe nicht sofort gewusst, wer sie war, woher auch? Trotz ihrer Ähnlichkeit...euer beider Ähnlichkeit zu Georgie, habe ich es nicht sofort verstanden. Erst nach und nach begann ich die Puzzleteile zusammenzusetzen."
"Weiß Isabella von der Verwandtschaft?" Auf Avas Frage hin, schüttelte Beth den Kopf. Matthias erklärte es.
"Masao war ein wahnsinnig verschwiegener Mensch. Er hätte seiner stürmischen, eigensinnigen Tochter niemals etwas anvertraut. Solange er an der Macht war, hat sie nichts von seinem Business mitbekommen. Sie hat keine Ahnung, woher das Baby kam, die Verbindung zwischen Hieronim und Masao. Selbst Beths angeblicher Tod war etwas, dass Georgie mir in einer finsteren Nacht gestanden hat.", er senkte den Blick, überwältigt von den Gefühlen, "sie hat so furchtbar geweint. Ich kann ihre Schluchzer immer noch hören. Sie hat Milo mit einer ungeheuerlichen Inbrunst geliebt, hätte nie zugelassen, dass ihm etwas Schlimmes widerfährt und bei dir, Beth war es genauso. Sie hat mir von deiner Geburt erzählt, von dem Moment als sie dich das erste Mal in den Armen gehalten hat. Und von dem letzten Mal. Ihre Mutter Edith hatte dich in der Nacht keine fünf Tage nach deiner Geburt entwendet. Georgie hat deinen Verlust nie verwunden."
"Ich hätte sie so gerne kennengelernt.", flüsterte Beth bekümmert. Ihr Vater strich liebevoll über Beths Wange.
"Du bist ihr ähnlich, sehr sogar. Das seid ihr beide. Wenn ich in eure Gesichter sehe...es ist fast so als würde Georgie mir zulächeln."
"Weißt du, wer dein Vater ist?", Ava wollte Hieronim nicht zur Sprache bringen. Furia sollte in seiner Einöde am Arsch der Welt verrotten, aber Beth hatte ein Recht auf dieses Wissen. Ihre Schwerster nickte langsam. "Ich weiß, wer er ist. Und ich weiß, was er getan hat. Matthias hat mir einiges erzählt. Und wenn ich es mir aussuchen darf, würde ich lieber ihn als meinen Vater akzeptieren und Hieronim vergessen."
"Ich würde mich geehrt fühlen.", warf Matthias ein und wütend biss Ava die Zähne zusammen. Natürlich würde er Beth adoptieren. Sie war freundlich und gutmütig. Sie vergab ihm seine Fehler und duldete seine Hirngespinste. Ihre Verzweiflung hob Matthias auf den Ehrenplatz eines guten Vaters, wogegen Ava ihn mit Archer verglich, und ein völlig anderes Bild hatte.
"Du kannst ihn meinetwegen gerne haben. Ich brauche ihn nicht. Übrigens solltest du wissen, dass Isabella von deiner Anwesenheit in Bittraslutet weiß."
Matthias stand auf und begann im Raum herumzugehen. Seine Schritte wurden durch hellgrünen Teppich gedämpft. "Das habe ich befürchtet. Sie will mich sicher wieder einfangen, aber so leicht...nein, so leicht mache ich es ihr nicht. Unter keinen Umständen gehe ich zurück in diesen Käfig.", der Wahnsinn jahrzehntelanger Gefangenschaft glitzerte in seinen Augen.
"Das musst du auch nicht. Sie weiß, wo du bist. Sie weiß auch, dass sie dich nicht brechen kann. Ich habe ihr gesagt, dass du weder Masao noch William helfen würdest, und sie hat das akzeptiert. Aber wenn Masao stirbt, wird sie dich umbringen lassen. Oder es vielleicht sogar selbst tun. Nichts in der Welt wird sie daran hindern. Das kann ich dir versprechen." "Rache wird ihren Schmerz nicht lindern und meinen auch nicht."
Ava schnaubte verächtlich. "Sicherlich nicht, aber sie wird ihn weniger hart machen. Eine Ablenkung bieten und die Schuld bei jemand anderen suchen, ist immer angenehmer als bei sich selbst. Glaub mir sie wird kommen." "Und wenn es soweit ist, auf wessen Seite wirst du dann stehen?"
Die hässliche Frage hing wie ein fauliger Furz im Raum. Ava schluckte hart und suchte verzweifelt nach einer Antwort, aber die Wahrheit war ein graues Knäul aus Unsicherheit. Sie hasste ihren Vater für dessen Entscheidung Masao sterben zu lassen, aber sie wollte ihn auch nicht tot sehen. Sie wollte niemanden tot sehen. Ihr Schweigen wurde mit einem Nicken zur Kenntnis genommen. Beth drückte beruhigend ihre Schulter.
"Wir haben noch Zeit für diese Entscheidung. Masao hat noch Zeit." Wie viel war die Frage. Dieser kleine Junge hatte sich soeben in eine tickende Zeitbombe verwandelt. "William hat sie vielleicht nicht. Wir müssen ihm helfen, und zwar jetzt. Matthias, bitte setz dich, dieses Herumgelaufe macht mich nervös.", Beth gestikulierte auf den Stuhl vor ihr und lächelte sanft. Ihre Ruhe breitete sich im Zimmer aus.
"Ich verstehe nicht, warum das Anti-Serum keine Option ist. Woher wisst ihr so genau, dass es ihn umbringen würde?" Matthias begann erneut in der Vergangenheit zu kramen.
"Isabella hat Beth die erste Dosis Serum gegeben als sie sechs war. Ein Jahr nachdem ich angefangen hatte viel Zeit mit ihr zu verbringen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einem Kind tatsächlich wehtun würde. Irgendwie glaubte ich, dass sie als Frau mehr gewissen gegenüber Kindern haben würde als ihr Vater. Da hab ich mich getäuscht. Und zwar gewaltig. Nach dem sie Beth mit dem Serum gedroht und ich mich dennoch geweigert hatte, ihr die perfekte Formel zu geben, hat sie ihre Drohung wahrgemacht. Sie zwang mich dabei zuzusehen." Der gespenstische Ausdruck in seinem fahlen Gesicht sprach Bände.
"Ich hatte dieselben Schmerzen wie William und eine ähnliche Reaktion. Meine geringen Fähigkeiten steigerten sich um ein Vielfaches. Es fiel mir sehr schwer damit umzugehen. Zum Glück war Matthias da und hat mir einige Tricks, die er bei Mutter und Milo gesehen hat, beigebracht."
"Das erklärt deinen Stil. Milo war immer ein eher grobschlächtiger Telepath. Rein, übernehmen, zerstören und kontrollieren." Matthias zuckte entschuldigen mit den Achseln. "Ich habe getan, was ich konnte. Beths Kräfte waren aber weniger das Problem."
Ava bemerkte eine gewisse Unruhe in Beth. "Isabella war zwar mit meinen Fähigkeiten zufrieden, sie hatte sich bereits einen Nutzen für sie ausgedacht, aber die Formel war immer noch fehlerhaft. Viele ihrer Experimente starben nach wie vor und ihre anderen Wissenschaftler konnte das Problem nicht lösen. Also...hat sie Matthias mit noch einer Dosis Serum für mich gedroht."
Damit hätte sie genauso viel intus gehabt wie William. Interessiert beugte Ava sich vor. Ihr Vater raufte sich die Haare, "ich konnte das nicht zulassen. Die Dosis, mit der sie gedroht hat,...sie hätte Beth sicher umgebracht. Sicher. Also hab ich ihr etwas sehr wertvolles gegeben."
"Was?"
"Das Anti-Serum. Ich habe es während meiner Flucht entwickelt. Zuerst war es nur ein Gedankenspiel. Etwas, um die Zeit totzuschlagen und meinen Kopf hin und wieder zu benutzen. Nach meiner ersten Begegnung mit Georgie habe viel intensiver daran gearbeitet. Ich dachte, ich könnte sie von ihren Kräften befreien, vielleicht die Psychosen abschwächen und ihr ein normales Leben ermöglichen. Das Anti-Serum ist ein hoch potentes Zeug und in seiner Produktion aufwendiger als das Serum. Ich habe Isabella damals die halbe Formel gegeben. Genutzt hat es nicht viel." Er berührte Beths gefühllose Beine und seufzte schwer. Nun kam wohl der Punkt an dem Beth ihren Körper verlor.
"Ohne zu warten oder andere Tests durchzuführen, gab sie mir die erste synthetisierte Dosis des Anti-Serums. Diesmal haben sie nicht mal auf Matthias gewartet. Ich bin sofort ins Koma gefallen. Das Anti-Serum hat sich durch meinen Körper gefressen...-"
"Ich habe sie einige Tage später gesehen. Keine Medikamente haben geholfen. Sie hat so sehr gelitten, aber nichts half. Und da habe ich es verstanden. Wirklich verstanden. Mein Anti-Serum brennt Rückstände des Serums aus Blut und Gewebe. Bei euch beiden und bei William sind diese Rückstände jedoch vererbt, sie lagern in euren Zellen, in eurer DNA. Sie sind kein Zusatz oder Add-on. Im Gegenteil. Eure Körper sind auf diese Rückstände, auf diese Rezeptoren angewiesen. Ohne sie...sterbt ihr."
Ava atmete langsam aus. Ihr war immer klar gewesen, dass Georgettes Gene sie anders machten. Immerhin waren ihre Kräfte auch nichts Normales, aber diesem Level an Andersartigkeit schwang ein einsamer Nachgeschmack bei.
"Aber Beth hat überlebt." "Ich habe ihr noch eine weitere Dosis Serum verabreicht. Das Anti-Serum hat sich mit dem neuen Serum aufgehoben und seine Wirkung verloren. Isabella hat dir von der mehrmaligen Gabe erzählt? Genau durch dieses Schlupfloch habe ich Beth retten können."
"Isabellas kleines Experiment hat mich die Beine gekostet. Das Anti-Serum hat zu viel Schaden angerichtet." Mit diesem Wissen wirkte das Anti-Serum plötzlich gar nicht mehr nach Wunderheilmittel, dennoch..."Vielleicht greift das Anti-Serum auch nur das neue Serum in Williams Blut an und lässt seine vererbten Rückstände in Ruhe." Der herablassende Blick ihrer Verwandtschaft ließ sie zurückschrecken.
"Meine Erfindungen sind gut, aber nicht so gut. Das sind keine Nanobots, die du programmieren kannst. Das Anti-Serum wird sich in ihm austoben. Ob es nur das neue Serum angreift oder nicht, ist Glückspiel. Es hat bei Beth damals funktioniert, aber das ist keine Garantie. Gut möglich, dass es bei William anders ausgeht." Verdammt! Ava stand auf und trat ans Fenster.
Der Blick ging hinaus auf den Marktplatz von Bittraslutet. Die sich dort tummelnden Menschen gingen ihren abendlichen Erledigungen nach. Langweilig, normal. Keine Entscheidungen auf Leben und Tod. Diese gottverdammte Stadt, in der offensichtlich ihr gesamtes Leben vor die Hunde gehen sollte. Sie konnte und wollte nicht über Williams Leben entscheiden. Isabellas Nötigung für eine Entscheidung vor ein paar Stunden erst, lastete schwer auf ihr. "Was schlagt ihr vor? Was soll ich tun?", fragte sie tonlos und wartete. Beth rollte auf sie zu.
"Wir helfen dir William wegzubringen. Wir verschwinden einfach und lassen das alles hinter uns." Wenn es nur so einfach wäre. Williams Gewalt würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.
"Dir ist klar, was er getan hat? Die Morde-" "-das kam doch vom Serum.", unterbrach Beth hastig, "sobald wir ihn an einen ruhigen Ort bringen, an dem er sich entspannen kann, wird er sicher wieder zu sich finden. Bittraslutet, der Stress und Isabella triggern Ängste." Das mochte sein, dennoch änderte es nichts an seiner gewalttätigen Tendenz. Beth sah, was sie sehen wollte, die Hoffnung in ihren Augen war blendend. Warum nur, fühlte sie selbst diese verzweifelte Hoffnung nicht?
Sie wünschte sich so sehr, William retten zu können, doch mit jeder verstreichenden Minute wurden ihre Möglichkeiten geringer. Sie bekam keine Luft mehr, wie eine ertrinkende sah sie ihre Zukunft auf den Grund eines einsamen Meeres treiben. Matthias blieb still, seine Miene unergründlich.
"Er ist gefährlich." "Das sind wir auch. Mit allem, was wir können.", konterte Beth siegessicher. Ava verschränkte die Arme und sah ihren Vater an. "Was ist deine Meinung? Oder stimmst du mit Beth überein?"
"Ich kann dir nur von meinen Erfahrung erzählen, den Dingen, die ich in meiner Zeit mit Georgie und Isabella gemacht habe."
"Sag was du zu sagen hast."
"Georgie war mächtig, ob genauso mächtig wie William ist, eine andere Frage, aber sicher ist, sie sind beide durch das Serum korrumpiert worden. Macht, besonders die Art Macht, die ihr alle besitzt, ist verführerisch. Es ist zu einfach seinen Willen durchzusetzen. Georgie hat die Ruhe und Sicherheit in einer vertrauten Umgebung und meine Liebe geholfen. Es hat gedauert und war nicht einfach. Ein schwieriger Weg, den ich bereit war zu gehen, weil ich sie mit all ihren mörderischen Tendenzen geliebt habe.", er trat näher, sah ihr direkt in die Augen, "William ist ein anderer Fall. Wenn du nicht denkst, ihm mit Liebe begegnen zu können, selbst wenn er grauenvolle Dinge tut, dann sollten wir ihn lassen, wo er ist."
"Das kann nicht dein Ernst sein.", rief Beth dazwischen. Ava ignorierte sie und hielt dem eisernen Blick ihres Vaters stand.
"Kannst du einen Mörder lieben? Kannst du ihm seine Taten verzeihen? Ihm, Trost spenden, wenn der Wahnsinn ihm den Schlaf raubt?" Sekunden vergingen, sie wagte nicht zu atmen. Matthias fragen bohrten sich in ihr Herz, zerrissen es.
"Ich liebe ihn.", die Worte waren ein flüstern gegen tosenden Sturm, denn eine Antwort waren sie nicht. Der Gedanke ihn zu verlassen, ihn gehen zu sehen, jagte einen Schauer über ihren Rücken. Seit fast drei Jahren war William an ihrer Seite, ohne ihn...wer war sie ohne ihn? Nur die Mördertochter. Georgette Parks nichtsnutziges Balg. Sie senkte den Blick, schluckte die Tränen hinunter und zwang sich ruhig zu bleiben.
"Genau deshalb holen wir ihn aus dem Labor und zusammen kriegen wir das wieder hin. Ich verspreche es dir, kleine Schwester. William wird mit Ruhe und Liebe wieder der Alte werden." Ein unmögliches Versprechen, das Beth ihr niemals geben dürfte. Es gab keine Garantien.
"Zwei Optionen also. Ersteres wäre das Glückspiel mit dem Anti-Serum und einer lebenslangen Abhängigkeit von Isabella. Das zweite wäre Williams Befreiung und seine potentielle mörderische Achterbahn."
Und weitere Jahre des Krieges für Europa. Wenn William wirklich so mächtig wie Georgette war, würde er sich nicht unter Kontrolle haben. Selbst wenn Ava ihn auf Schritt und Tritt begleitete und aufpasste. Beide Optionen waren scheiße.
"Es tut mir leid, Ava, wirklich. Ich wünschte, ich könnte dir mehr bieten.", hauchte ihr Vater und erntete einen finsteren Blick von Beth.
"Ach hör auf ihr einen Unsinn einzureden. Sie kann das. Sie ist stark genug um mit William fertig zu werden und sie ist nicht allein. Wir schaffen das. Vertrau mir, wir holen ihn raus und dann wird das schon wieder." Matthias zuckte mit den Achseln und zog sich zurück. Am Tisch sitzend spielte er mit dem Zimmerschlüssel während Avas Welt langsam zerbröckelte.
"Ich werde gehen. Es gibt viel über das ich nachdenken muss." "Aber-" "-lass sie gehen, Beth. Das ist keine leichte Entscheidung.", dankbar nickte sie ihrem Vater zu und verließ das Hotelzimmer. Flüchtete. Vor ihrer Familie, ihrer Verantwortung, der Entscheidung über die Zukunft ihres Geliebten. Sie rannte, stieß sich mit Telekinese vom Boden ab und flog über die Dächer der kleinen Stadt.
Es gab nichts außer sie und den schwarzen Nachthimmel. Die schwärze sollte sie verschlucken, sie verdauen und zur ewigen Ruhe betten. Nein, William wartete. Er brauchte sie. Aber sie brauchte ihn. Tränen liefen über ihre Wangen, die Welt verschwamm in nassem Nebel. Zitternd fand sie sich an der Rezeption des Krankenhauses wieder. Die Angestellte gab ihr ohne Widerworte Williams Aufenthaltsort.
Tief bekümmert folgte sie den Anweisungen und verschwand in einem langen Korridor des Erdgeschosses. Mehrere Stahltüren mit elektronischer Sicherung versperren ihr den Weg, doch machten keine Probleme. Tiefer und tiefer verschwand sie in den verwinkelten Gängen. Ava war nicht klar gewesen, dass das Krankenhaus so weitläufig war.
Endlich kam sie zu einer weiteren Stahltür. Diese war an Sicherungen kaum zu übertrumpfen. Schlösser und Riegel verbannten das Innere in einem gut eingeschlossenen Sarg. Auch durch diese Tür kam sie mühelos, obwohl sie mehrere Sekunden brauchte, um alle Schlösser zu entriegeln.
Drinnen erwartete sie ein leerer Raum in dessen Mitte ein Glaskasten stand. Durchbrochen wurde das Glas mit dicken Eisenstangen, Maschendraht und einem Stromnetz. Beim Anblick dieser Monstrosität hob Ava die Augenbrauen.
"Man kann es auch übertreiben, Isabella.", flüsterte sie zu sich selbst und schloss die Tür hinter sich. Die Schlösser seufzten beim Versperren leise. Ihr Freund lag in seinem Krankenbett in der Mitte des Glaskastens.
Mehrere Monitore mit denen er durch lange Schläuche verbunden war, biepten leise. Er schlief friedlich. Ava trat näher und blieb schließlich vor ihm stehen. Der Blick auf ihre Hände, die schmutzigen Nägel und die trockene Haut ihres Handrückens. Wieder kamen ihr die Tränen. Schon wieder sah sie sich gezwungen ihre Ängste hinunterzuschlucken und stark zu sein.
"Hier sind wir nun, Will. Unsere Endstation. Hättest du sie dir so vorgestellt? Nein?...ich mir auch nicht. Ich dachte immer wir kaufen uns ein kleines Häuschen, vielleicht eine Katze. Vielleicht hätten wir sogar geheiratet und ein Kind bekommen. Das hier...das hier war nichts, dass ich mir ausgemalt habe. Aber jetzt ist es zu spät über meine Wünsche nachzudenken. Oder? Jetzt kann ich nur noch versuchen zwischen zwei furchtbaren Optionen zu entscheiden und beten, dass ich nicht die falsche Wahl treffe. Und selbst wenn ich die richtige Treffe...", sie schluckte hart und strich sich die dunklen Haare aus dem nassen Gesicht, "nichts wird wieder so wie früher." Ihre Worte verhallten in dem leeren Raum, kamen zu ihr zurück und schienen über ihre Qualen zu lachen.
"Wir haben in der Vergangenheit gegraben und jetzt zahlen wir den Preis. Ich verstehe nur nicht...warum wir ihn zahlen. Es waren unsere Eltern, die diese Fehler gemacht haben. Ich habe nie...du hast nie etwas getan, um dieses Schicksal zu verdienen. Will....ich kann das nicht. Bitte, rede mit mir. Sag mir, was ich tun soll. Sag mir, was du willst."
Er blieb ruhig. Keine Regung verriet sein Zuhören. Schniefend biss sie die Zähne zusammen. "Na gut. Wenn du nicht zu mir kommst, dann komme ich zu dir. Du wirst selbst über deine Zukunft entscheiden. Das schwöre ich dir."
Sie setzte sich vor seine Zelle, schlang die Arme um ihre Beine und legte den Kopf darauf. Der Boden war eiskalt und hart. Sie begrüßte diese Unbequemlichkeit. Es wurde Zeit für einen letzten Versuch William zu erreichen. Ava ließ los, ließ ihren Körper hinter sich und begann eine Brücke zu William zu bauen.
Stein um Stein, Schmerz um Angst, Qual um Liebe, rief sie ihren Liebsten auf diese Verbindung zwischen ihnen. Das Kopfkino entstand quälend langsam, wie flüssiges Quecksilber formte sich vor ihre eine japanische Brücke über einem kleinen Fluss. Rosen flossen auf dem silbrigen Nass und spiegelten die hoch am Himmel stehende Sonne.
Ava trat auf die Brücke, bedächtig, vorsichtig. Der Saum des schwarzen Kleides strich sanft über die frischen Kirschblüten auf dem Boden. Das ruhige Plätschern des Wassers durchbrach die ansonsten dröhnende Stille. Es gab nichts außer dieser Bücke, dem Wasser und der Sonne. Die restliche Umgebung war weiß, wie bei einem starken Schneesturm.
Sie stellte sich an das Geländer der hellroten Holzbrücke und sah zum anderen Ende. Dort wo Williams Verstand hauste. Seine Mauer versperrte einen direkten Zugang, doch die Einladung war ausgesprochen. Wilde Blitze und Stürme tobten hinter der grauen Mauer, ließen Unruhe und Schmerz erkennen.
William kam nicht. Selbst nach Minuten des Wartens gab es von ihm kein Zeichen auf ein aktives Bewusstsein. Vielleicht hatte die zusätzliche Dosis Serum sein Bewusstsein zerstört oder tief vergraben. Einerlei, Ava würde warten. Sie würde bis zum Sonnenaufgang auf ihren Geliebten warten.
Anmerkung der Autorin: Welche Wahl würdet ihr treffen? Welchen Rat würdet ihr Ava geben?
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