16. Frische Risse
Ava erwachte nach einer ruhelosen Nacht mit den wildesten Albträumen. Stöhnend drehte sie sich auf die andere Seite. Wider Erwarten fand sie keinen warmen Körper neben sich und wurde augenblicklich hellwach. William!
Alle Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten und panisch setzte sie sich auf. Mit rasendem Puls sah sie sich im Zimmer um. Er war da, er lebte, er...frühstückte. Ihr Geliebter saß seelenruhig essend am Tisch. Völlig vertieft in sein üppiges Frühstück. Ava schluckte und rutschte aus dem Bett.
"Will?", ihre heißere Stimme ließ ihn aussehen. Bei ihrem Anblick wanderte ein breites Grinsen über sein Gesicht. "Endlich." "Du bist wach? Du bist aufgestanden." Offensichtlich, aber sie konnte seine Mobilität nicht so ganz begreifen. Ihr gerade erst erwachter Verstand war noch reichlich verwirrt.
"Jap, hatte Hunger.", meinte er und aß weiter. Zögerlich trat sie näher und taxierte seine Gestalt. Er sah besser aus. Die Wangen rosig, die Augen klar, er hatte auch wieder zugenommen.
Isabellas Medikamente hatten gewirkt. Er stopfte unendlich viel Speck und Eier in sich hinein, dazu gebratene Bohnen und Toast. Sie zog die Augenbrauen hoch. Sein Hunger war nicht zu übersehen. Neben seinem Teller voller Salz und Fett, stand sogar ein zweiter mit Pancakes. "Dann geht es dir besser?"
William nickte mit vollem Mund. Der starke Geruch nach Frühstück ließ auch sie nicht kalt. Mit knurrendem Magen griff sie nach den Pancakes und bekam einen Klaps auf die Finger.
"Meins.", merkte William hastig schluckend an, "Ich hatte Lust auf salzig und süß. Du kannst dir was eigenes bestellen." "Schon klar, aber das wird dauern. Ich dachte, wir teilen so lange." Das überspitzte Lachen konnte unmöglich zu William gehören. "Glaube kaum, Kleine. Ich bin sicher du kannst warten."
Kleine? Ava zog die Augenbrauen hoch. "Nenn mich nicht so." "Dann versuch nicht mein Essen zu stehlen." Sie sah ihn böse an und lehnte sich zurück. Das war eigenartig. William hatte immer mit ihr geteilt. Immer. Selbst als er noch von General Archer gezwungen worden war, mit ihr zusammenzuleben. Damals hatten sie Porridge geteilt. Das war nie ein Problem gewesen. Zumindest der William vor den Stürmen hatte nie ein Problem damit gehabt. Vielleicht war das der erste Beweis für eine Veränderung.
Kalter Schweiß brach aus all ihren Poren. Sie setzte sich neben ihn. "William? Du weißt wer ich bin, richtig?" "Ach, was soll das? Jetzt fängst du so an? Nur weil ich dir nichts von meinem Essen geben will?" Er nahm sie nicht ernst. Nicht wirklich.
"Ich mach keine Scherze, Will. Mir ist dein Essen vollkommen egal-" "-das sah gerade nicht so aus." "William! Ich will, dass du mir sagst, dass du dich an mich erinnern kannst. Dass du weißt, wer ich bin." Er verdrehte genervt die Augen.
"Du bist Ava Park, Tochter von Georgette Park und Matthias Archer und wenn man mal vom Gesetzt her geht meine Cousine ersten Grades. Was, wenn wir ehrlich sind, ein wenig merkwürdig ist. Oh, und wir sind zusammen. Seit zweieinhalb Jahren oder so. Aber wer weiß, wenn du weiter so nervst, ist da vielleicht Schluss. Willst du noch was wissen?"
Autsch. Ava zuckte zusammen. Noch nie, wirklich noch nie hatten sie über dieses Verwandtschaftsding zwischen ihnen gesprochen. Genetisch war es sowieso egal, weil William adoptiert war. Aber seine Art darüber zu sprechen, generell irritierte sie seine Wortwahl.
"Warum bist du so?" "Wie?", er fiel nun über die Pancakes her und schenkte ihr vielleicht 40 Prozent seiner Aufmerksamkeit. Ava sah weg, unterdrückte die Tränen, die Angst, dass all ihre schlimmsten Albträume der letzten Stunden wahr geworden waren.
"Gemein. Du bist gemein." "Süße, die letzten Tage waren viel für mich." "Das verstehe ich. Ich war dabei und bin halb wahnsinnig geworden vor Angst um dich."
"Schau und jetzt kannst du das alles vergessen. Es geht mir gut, also lass diese dummen Fragen. Ich hätte nämlich eine bessere für dich. Wo warst du gestern Abend?" Ava runzelte die Stirn. Sein plötzlicher Themenwechsel begleitete ein intensiver Blick. Als wäre er sauer, dass sie weggegangen war.
"Was weißt du von gestern eigentlich noch?" "Ich kann mich an alles erinnern und versuch nicht von dir und Isabella abzulenken. Du hast gesagt, dass sie dich sprechen wollte. Was habt ihr besprochen?" Er überraschte sie ein ums andere Mal. Sein giftiger Ton ließ Schuldgefühle wachsen, obwohl sie nichts Falsches gemacht hatte.
"Sie hat mich zum Essen eingeladen. Bei sich zuhause.", berichtete sie unwillig. Wenn er so war, würde sie ihm gar nichts erzählen. Er nickte. "Ihr Sohn Masao war auch dabei.", das war keine Frage. Woher wusste er-
"du bist in meinem Kopf!", schrie sie fast und spürte seine Präsenz deutlich durch ihre Erinnerungen wandern. William lächelte. "Hast du es auch endlich bemerkt. Und du nennst dich ein Pro in Sachen Telepathie. Vielleicht sollte ich dir besser ein paar Sachen zeigen."
Wieso war ihr das nicht vorher aufgefallen? Panisch suchte sie nach einem Loch in ihrer geistigen Abwehr und fand einen schmalen, kauterisierten Eingang. Er war mit Bedacht gewählt und der Bau hatte sicher stunden verschlungen. Ava stand auf und schuf Distanz.
Während sie geschlafen hatte, war er in ihren Verstand eingedrungen. Die wilden Albträume...es war seine Schuld. "Was soll das?" "Ist doch nicht so schlimm. Ich wollte wissen worüber du und Isabella geredet habt und naja, ich hab deine Mauern bemerkt und die Herausforderung war zu gut, um sie nicht anzunehmen."
"Herausforderung...? Ich habe geschlafen. Ich habe dir vertraut und du brichst in meinen Verstand ein?" Furcht flutete wie Eiswasser jede ihrer Zellen. Genauso hatte es mit Milo auch angefangen.
"Geh raus.", flüsterte sie. Milo hatte sich ungefragt in ihren Geist geschlichen. Hatte sie benutzt und belogen und in dem furchtbarsten Moment ihres Lebens die Kontrolle übernommen. Seinetwegen hatte sie Blut an den Händen, "Geh raus!"
Mit aller Macht presste sie William aus ihrem Kopf. Dieser schnaubte nur und ließ es geschehen. "Himmel, sei nicht so sensible. Ich wäre auch von alleine rausgegangen."
"Mach das nie wieder. Ich meine es ernst, William. Du hast mir wehgetan." Besänftigend hob er die Hände und kam auf sie zu. Er lächelte nicht mehr und für einen Moment sah sie echte Reue und Verwirrung in seinem Blick, als wäre er sich seiner Handlungen nicht vollkommen sicher. Zärtlich strich er über ihre Wange und nahm ihre Hände.
"Es tut mir leid. Ehrlich, ich...ich hätte besser nachdenken müssen.", sie ließ sich küssen, sie ließ sich umarmen, er würde sowas doch nie wieder tun. Jetzt da er wüsste, was das für sie bedeutete. Sie wollte ihm glauben, aber William hatte mit seiner Handlung Zweifel gesät, nichts würde diese am Wachsen hindern.
"Hey, du kannst die Pancakes haben. Ich hab genug." Die Reue war aus seinen Augen verschwunden und das Lächeln wieder da. Ava biss die Zähne zusammen. "Ich hab keinen Hunger.", sie zog sich an und verschwand ins Bad für Haare und Make-up. Durch die Tür hörte sie William weiterreden.
"Masao also. Muss seltsam gewesen sein, deinen Halbbruder so kennenzulernen. Besonders wenn man bedenkt, wer seine Mutter ist." Ava antwortete nicht, zu sehr erinnerte jedes seiner Worte an den Verrat an ihr, "Ich habe Matthias nicht für Isabellas Typ gehalten, aber ich schätze mitten in der Nacht kommt einem jeder gutaussehend vor.", William klopfte an die Badezimmertür.
"Was will Isabella von dir?" "Weißt du das nicht längst?", sie riss die Tür auf. Ihre Gefühle waren hinter einer eisernen Maske, die Gleichgültigkeit stand ihr gut. William registrierte ihre Abwehr und verschränkte die Arme. "Ich weiß es, aber ich verstehe es nicht richtig."
"Was gibt es da nicht zu verstehen. Sie will, dass ich große Schwester spiele." "Aber das würdest du niemals tun. Wir verschwinden von hier bei der ersten Gelegenheit."
"Da bin ich mir nicht mehr so sicher.", merkte sie trocken an und trat an ihm vorbei. William griff nach ihrem Arm. "Was? Mir geht es besser und ich hab eine stabile Mauer. Natürlich verschwinden wir." Ava sah auf seinen festen Griff um ihren Oberarm und hob die Augenbrauen.
"Das ist es nicht.", sie riss sich los, "Beth und ich haben etwas in deinem Kopf ausgelöst. Stürme oder Mutationen. Egal was es ist, es hat dich verändert." "Jaha, zum Besseren. Hast du meine starke Mauer gesehen? Und ich hab es sogar unbemerkt in deinen Kopf geschafft. Ich glaube, ich überlebe die Außenwelt.", selbstbewusst grinste er und sah dabei einem alten Feind zum Verwechseln ähnlich.
Sie schüttelte langsam den Kopf. "Du verstehst es nicht." "So ein Schwachsinn.", bellte er und warf die Hände in die Luft, "du magst es nur nicht, wenn jemand stärker ist als du. Nicht mehr die unbesiegbare Ava Park."
"William, hörst du dir überhaupt zu? Es ist nicht nur die Telepathie und der Ethikkurs, den du offensichtlich brauchst. Du hast dein gesamtes Zimmer geschmolzen! Bevor wir nicht genau wissen, was da bei dir los ist, sollten wir hierbleiben." Er verengte die Augen und trat näher. Sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt, spürte sie die Wut in Wellen von ihm abstrahlen.
"Isabella hat dir das eingeredet. Oder ist es die Aussicht einen neuen Bruder zu haben, nachdem ich den letzten getötet habe?" Ava stockte der Atem. Das hatte er nicht gesagt...nein, nicht ihr William. Er würde doch niemals...unfähig zu sprechen verließ sie das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und verbarg Williams zorniges Geschrei.
Er kam ihr nicht nach. Ava lehnte sich an die Brüstung und schloss die Augen. Wie konnte er nur? Sie musste hier weg. Schnell. Bevor William es sich anders überlegte und ihr nachkam. Sie konnte ihn jetzt nicht sehen, würde seinen Anblick nicht ertragen können.
Den Blick zu Boden gerichtet, auf ruhige Atmung bedacht, fand sie ihren Weg aus dem Krankenhaus in den Garten. Da das Krankenhaus auf Notaufnahme umgestellt hatte, gab es nun weitaus weniger Patienten und der Garten glich einer ruhigen Oase. Genau das was sie brauchte. Ruhe. Frieden. Ihr kamen die Tränen.
Was sie brauchte war William. Ihr William. Schluchzend ließ sie sich auf eine Bank fallen. Den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt, lauschte sie dem sanften Plätschern des Teiches vor ihr. Es half nichts. Alles was sie sah war William, der ihr Gemeinheiten an den Kopf warf, in ihre Privatsphäre eindrang und diesen Satz sagte. Dieser Satz über Milo.
Sie hatte ihm vergeben, hatte die monströse Seite ihres Bruders sterben lassen und behielt sich die schönen Momente. William hatte damals keine leichtfertige Entscheidung getroffen und seine Reue war ehrlich gewesen. Immer. Wieso hatte er dann...dieser Satz...Ihre Gedanken, kreisten immer weiter in tiefere, finstere Gefilde, bis sie glaubte in einem schwarzen Loch zu sitzen. Allein im Dunkeln.
William war die letzte Familie, die sie hatte. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte, niemanden der sie verstand. Eine Berührung an ihrer Schulter ließ sie aufschrecken. Mit klopfendem Herzen blinzelte sie die junge Frau vor sich an. Beth lächelte.
"Hey Ava." "Hi.", sie schluckte die Tränen hinunter und atmete tief durch, "ich hab dich gar nicht gesehen." Beth rollte näher und reichte ihr ein Taschentuch. "Das kann ich mir vorstellen. Ich wollte dich auch nicht stören, es ist nur...deine Gabe...du biegst die Realität."
In diesem Moment bemerkte sie den fauligen Geruch, das morsche Holz der Bank und die toten Blumen in ihrer Umgebung. Die Enten hatten sich noch in Sicherheit bringen können, doch die Insekten und ein großer Frosch hatten keine Chance gehabt. Die anderen Patienten und Krankenhausmitarbeiter sahen sie mit Panik in den Augen an und murmelten leise.
"Ich wollte nicht-" "ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Kannst du es zurückbiegen?" Ava sah sich das Maß der Zerstörung an. Fäulnis. Es war das erste Mal, dass sie die Realität auf diese Weise gebogen hatte. Zumeist waren es Farbveränderungen gewesen, aber Georgette hatte ähnliche Ansätze gehabt. Sie hatte sogar Menschen auf die schlimmste Art und Weise mutieren lassen können.
"Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Sowas habe ich noch nie gemacht." Ein panisches Zittern schlich sich in ihre Stimme. Der arme Frosch und die schönen Blumen. Sie hatte getötet wie ihre Mutter. Sie war wie ihre Mutter.
"Ava. Hey. Alles gut. Wir kriegen das hin. Komm mit." Beth zwang sie aufzustehen und sich auf eine andere Bank zu setzen. Suchend sah sie sich im Garten um. "Flynn! Kannst du uns ein paar Sandwiches und was zu trinken bringen?"
Ava folgte ihren Blick und sah einen jungen Mann mit wuscheligen braunen Haaren nicken. "Wer ist das?", fragte sie schwach. Ihr Gegenüber bekam rote Wangen und ein sehr dümmliches Grinsen. "Ähm, er verkauft Kaffee und Kleinigkeiten im Garten."
"Aha und ihr seid..." In diesem Moment trat Flynn mit drei Sandwiches, Kaffee, Cola und Brownies auf sie zu. Es sah fast so aus als hätte er seinen Kaffeestand für sie leergeräumt. "Ich hoffe das passt so.", hoffnungsvoll strahlte er Beth an.
"Wow, das ist viel..." "ist es zu viel?" "Nein, nein, danke. Das ist wirklich nett von dir." Beth schenkte ihm ein Lächeln. "Falls ihr noch was braucht, einfach rufen, Beth. Ich komm dann sofort." Für einige peinliche Sekunden wartete er auf eine Erwiderung, doch Beth trank einen großen Schluck von ihrem Kaffee. Flynn nickte und verschwand wieder zu seinem Verkaufsstand, um die anderen Patienten zu bedienen.
Erst als er weg war, schluckte Beth runter und sah ihm sehnsüchtig nach. Der Anblick...Ein Kichern kämpfte sich aus Avas Kehle, bis die Tränen in ihren Augen belustigte waren.
"Ach halt die Klappe und iss deine Sandwiches.", grummelte Beth und reichte ihr das erste. Hungrig verschlang sie die Nahrung. Erst als sie beim letzten angekommen war, holte sie tief Atem und lehnte sich zurück. Beth reichte ihr schon einen Brownie, doch sie winkte ab. "Ich krieg keinen Bissen mehr runter."
"Gut, wir warten zehn Minuten und dann isst du das auch noch. Du bist viel zu dünn. Nach unserem Experiment gestern habe ich sogar eine Infusion gebraucht, aber du hast nichts dergleichen bekommen. Du brauchst die Energie."
"Ich weiß.", gestand sie zögerlich ein und biss in den Brownie." Der weiche saftige Kern schmolz auf ihrer Zunge und stöhnend warf sie den Kopf in den Nacken. "Gut?", fragte Beth und kostete ebenfalls. Ihre Reaktion war dieselbe und lachend sahen sie einander an.
"Danke. Für das hier." "Kein Problem. Dafür sind...Freunde ja da." Richtig Freunde. Ava wollte misstrauisch sein, wollte sich abgrenzen und eine dicke, fette Linie ziehen, aber alles in ihr griff nach der Rettungsleine, die Beth ihr zuwarf. "Freunde.", gestand sie ihr zu. Beth lächelte sanft. Die dunklen Augen strahlten Wärme und gleichzeitig Kummer aus.
"Es ist William, oder? Es geht ihm nicht gut?" "Das ist es nicht.", Ava verzog das Gesicht, biss sich in die Wange, um die neuerlichen Tränen zurückzuhalten, "es scheint ihm wunderbar zu gehen. Gut genug, um ein Loch in meine geistige Mauer zu bohren und in meinen Erinnerungen zu wühlen." Beth blieb die Luft weg. "Wie? Warum würde er sowas tun?"
"Er wollte wissen worüber Isabella und ich letzte Nacht geredet haben und anscheinend wollte er nicht warten, bis ich wach war." "Er hat das getan, während du geschlafen hast?" Ihr Entsetzten war die Reaktion, die sie auch von William erwartet hätte. Es war als würde jemand in dein Haus einbrechen und deine Fotoalben durchsehen. Ein Eingriff in den Körper, ein Missbrauch.
"William, mein William, hätte sowas niemals getan. Niemals. Er hat mir immer Raum gegeben, mich das Tempo bestimmen lassen. Aber jetzt? Er scheint nicht mal zu verstehen was er sagt und tut. Er hat sogar Milo in den Dreck gezogen." "Milo? Deinen Bruder? Was hat er gesagt?", Beth griff nach ihrer Hand. Ihre Haut war warm und weich. Die typischen Schwielen vom Rollstuhl hatten etwas Beruhigendes. Ava schniefte.
"Isabella hat mir gestern ihren Sohn vorgestellt. Meinen Halbbruder Masao, falls du das noch nicht wusstest.", sie legte den Kopf schief, "er hat sogar dieselben Augen wie ich. Und als ich gesagt habe, dass ich noch bleiben will, um herauszufinden, was mit William los ist, hat er mir vorgeworfen, ich würde es für Masao tun. Das ich Milo gegen ihn austauschen wollte."
"So ein Blödsinn. Selbst wenn William nicht diesen Mist gemacht hätte, hätte ich euch geraten noch ein paar Test zu machen, bevor ihr abhaut. Diese Stürme waren nicht normal und wenn ihr nun mal in einem Krankenhaus seid, würde ich das schon ausnutzen. Ich kann danach ja die Daten korrumpieren, damit Isabella sie nicht nutzen kann." Ava lachte betrübt, seinen wütenden Blick vor Augen.
"Ich glaube kaum, dass er da mitmacht." "Wir reden noch mal mit ihm und vielleicht tun ihm die Sachen, die er gesagt hat leid und alles klärt sich auf." "Du bist zu optimistisch." "Das wäre ich normalerweise nicht, aber William war es die letzten Wochen für mich und jetzt möchte ich es für dich sein. Für euch beide."
Ein positives Mindset würde ihnen nicht aus dieser Scheiße helfen. Realistisch betrachtet konnten die Mutationen alles in William verändert haben, oder auch nur einige Persönlichkeitszüge. Vielleicht war es auch seine neu gefundene Macht, die schlechte Seiten in ihm zum Vorschein brachte.
Ihre Mutter hatte ein Lied davon singen können. Egal was es war, William hatte an diesem Morgen eine Grenze überschritten und sie hatte sich geschworen ihre Grenzen zu bewachen. Wenn er es auf die sanfte Tour nicht verstand, würde sie es ihm auf die harte Tour erklären.
Ava ließ den Blick wandern und blieb an Flynn hängen. Wie ein verliebter Teenager beobachtete er Beth und als er sah, dass Ava ihn ertappt hatte, wandte er sich ganz schnell um.
"Dieser Flynn hat dich echt gern." Beth vermied es den Verkaufsstand anzusehen. "Lustig, William hat dasselbe gesagt, als er Flynn begegnet ist." "Und William hat bei sowas normalerweise recht. Aber ihr seid nicht zusammen?" Der traurige Blick in Beths Augen sprach Bände. Alles an ihr strahlte bekümmerte Resignation aus.
"Nein und wenn ich es verhindern kann, wird Flynn nie mehr sein als ein Bekannter. Ich will nicht, dass er so endet wie wir oder William oder Masao." "Masao?" Beth nickte. "Ein Versuchskaninchen wie wir auch und noch dazu ein Druckmittel der Sonderklasse."
"Das habe ich mir gestern auch gedacht. Aber Matthias hat nicht klein beigegeben." So unverständlich, dass auch für sie war. Beth verzog das Gesicht. "Es hat ihn beinahe umgebracht."
"Woher weißt du das?" "Ich kenne Matthias, seit ich fünf bin. Er war ein Gefangener und genauso war ich einer. Mit der Zeit wurde er wie ein Vater für mich und als Isabella versuchte, dass zu ihrem Vorteil zu nutzen, scheiterte sie. Er blieb stur. Auch als sie uns für Wochen trennte, mir Freiheiten nahm und auch als sie anfing mir wehzutun." Beth strich über die Lehne ihres Rollstuhles und unterstrich damit eine düstere Wahrheit. Es war seine Schuld.
"Während mich alle anderen ignoriert haben, hat er mit mir gespielt, mit mir geredet. Meistens über irgendwelche diffusen chemischen Prozesse, die ich niemals verstehen werde, aber als ich anfing Klavier zu lernen, hat er mir zugehört. Stundenlang wenn Isabella es zugelassen hat. Es gab nur ihn und mich und die Musik.", lächelnd hob sie den Blick, "er hat mich geliebt." "Und trotzdem hat er es nicht verhindert." Schweigend biss ihr Gegenüber die Zähne zusammen. Diese schreckliche Tatsache wollte sie wohl lieber verdrängen. Ava kannte diese Strategie gut.
"Und als es bei dir nicht geklappt hat, hat sie sich Masao zugelegt. Ein leibliches Kind, keine Ziehtochter." "Egal wie ähnlich ich dir bin, kaum fünf Jahre älter. Wir haben sogar dieselben dunklen Haare. In Isabellas Augen war ich nie genug. Ich war dabei als sie ihm von Masao erzählt hat." In Beths Zügen stand Ekel, ob für das Kind oder dessen berechnende Mutter war unmöglich zu wissen. Ava kannte den Rest der Geschichte. "Es war ihm egal. Auch das Masao krank ist."
"Sag das nicht so.", zischte Beth stirnrunzelnd, "es hat ihn fertig gemacht. Er wurde so instabil, dass Isabella ihn von hier wegbringen hat lassen. Masao war der letzte Schlag. An ihm ist Matthias zerbrochen." Deshalb hatten sie ihn in Starybol gefunden. In einem Labor, tief unter der Erde, versteck in einem toten Dorf. Beths Berührung riss sie aus der Erinnerung. Vorsichtig hatte sie ihre Hand genommen. "Du hast ihn befreit, nicht wahr? Alle reden davon."
"Ja, er ist da draußen." Und tat was immer er tun wollte, ohne sie. So viel zum Thema >guter Vater<. Beth lächelte sanft. "Und du bist hier drinnen?" "Er wollte mir nicht mit William helfen. Ich schätze, da hatte seine Vaterliebe dann die Grenze." Beths Armband begann zu klingeln und resigniert löste sie die Bremsen an ihrem geliehenen Rollstuhl. "Ich weiß, das ist kaum ein Trost, aber er hatte immer seine Gründe für alles was er tat."
"Auch als er dich in den Rollstuhl gebracht hat?" Harsche Worte, die sie sich verkneifen hätte sollen. Beth zuckte zusammen und fuhr davon. Seufzend sah Ava ihr nach. Matthias war ein wunder Punkt und nur zu gerne hätte sie ihre Gefühle ihm gegenüber mit ihr geteilt. Aber so war es nun mal nicht. Beth hatte vergeben. Ava konnte es nicht.
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