Refrain - Zwischen Allem und Aufgeben

Refrain - Zwischen Allem und Aufgeben

„Bist du deswegen nicht in Amerika, sondern hier? Suchst du dich selbst in Busan?", fragt Yoongi, während er erneut beim ersten Buchstaben ansetzt, diesmal, um ihn auszufüllen.

„Ich bin hier, weil ich nie irgendwo sein kann. Sie beanspruchen dich an jedem einzelnen Tag der Woche. Natürlich auch an deinem Geburtstag. Oder an Weihnachten. Oder eben auch heute – an Silvester", erklärt Jimin mit trockener Stimme.

„Und trotzdem bist du hier."

„Ich hab mir frei genommen", grinst Park Jimin vorsichtig zurück. Yoongi hebt seinen Blick wieder nicht ganz, nur bis zu den Lippen seines Gegenübers und beobachtet fasziniert wie sich der unebene Zahn in die volle Unterlippe gräbt.
Er darf nicht zu lange hinsehen. Er muss konzentriert bleiben.

„Frei genommen", wiederholt der Tätowierer die vorherigen Worte, das gleiche vorsichtige Grinsen schwingt darin mit. „So nennt man das also heutzutage."
Sie beide wissen, dass man sich in dieser Welt als K-Pop-Idol der Superklasse nicht einfach freinehmen kann. Aber Yoongi möchte die Lügengeschichte dahinter eigentlich gar nicht erfahren. Sie tut auch nichts zur Sache. Viel wichtiger ist, dass sie sich plötzlich viel näher stehen als noch vor fünfzehn Minuten.

Park Jimins Geschichte hat die Mauer zwischen ihnen zum Einsturz gebracht. Er hat den Gedankenvorschuss von Yoongi mit doppelter Intensität zurückgezahlt. So viel mehr von sich Preis gegeben, als er vermutlich selbst von sich erwartet hätte. Aber vielleicht waren die letzten Tage oder Jahre wie Luft anhalten für Jimin. Vielleicht muss man als Idol immer die eigenen Worte runterschlucken und die plastikumhüllte Alternative aussprechen. Und vielleicht... waren das eben die ersten vorsichtigen Atemzüge nach einer langen, langen Zeit gewesen.

„Ich war noch nie in Amerika", beginnt Yoongi, damit der Stille zwischen ihnen kein Platz gegeben wird.
„Ich auch nicht", reagiert Jimin unmittelbar. „Also... ich war natürlich schon oft in Amerika. Aber viel mehr in Studios und auf Bühnen und in Radio- und Fernsehsendern, als wirklich auf dem Land oder in einer Stadt. Ich... ich hab noch nichts dort erlebt, was nicht von Kameras festgehalten wurde. Noch nichts gemacht, was ich dort tun wollte."

„Was wolltest du denn in Amerika machen?"

„Mir ein Tattoo stechen lassen."

Das leise Glucksen von Park Jimin sind zähe Tropfen voll von Honig. Sie landen mit einem unsichtbaren Platschen auf Yoongis Haut und bedecken die darunterliegende Gänsehaut mit süßer Schwere.

„Mh. Der Plan ging auf jeden Fall daneben. Jetzt musst du mit mir Vorlieb nehmen."

„Ich denke, damit kann ich leben."

„Du musst. Die schwarze Farbe ist leider nicht abwaschbar. Sorry, wenn ich vorhin vergessen habe das zu erwähnen."

„Oh Gott", grinst Jimin in gespielter Überraschung. Selbst seine Augen weiten sich ein Stück und wenn er eine Hand frei hätte, dann würde er sie sich sicher zur Verstärkung des dramatischen Effekts vor den Mund schlagen. „Das wusste ich nicht. Wie soll ich das nur meinem Entertainment erklären?"

„Sag ihnen, dass dich der fiese Kerl in dem Tattoostudio voll über den Tisch gezogen hat. Er meinte, die Farbe sei nur Henna und natürlich hast du ihm geglaubt. Du warst selbst total schockiert, als du gemerkt hast, dass es nicht mehr weggeht."

„Und du denkst nicht, dass meine Ausrede in dem Moment unglaubwürdig wird, in dem ich erwähne, dass der Typ in einem Tattoostudio arbeitet?"

„Stimmt", muss Yoongi zugeben. Das vorsichtige Lächeln hat sich mittlerweile in seinen Mundwinkeln manifestiert. Es tut gut, mit Park Jimin zu scherzen. Das neue Jahr beginnt in Kürze. Vermutlich sollte man es nicht mit solch schweren Themen begrüßen, wie sie bisher miteinander geteilt haben. Die kaputten Träume können im Jahr 2020 zurückbleiben. Wir nehmen nur die neue Hoffnung mit ins neue Jahr.

„Wie bist du eigentlich auf mich aufmerksam geworden? Oder bist du nur zufällig ins Scenery gestolpert?"

„Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich hab mich mit Jungkook über meinen Plan unterhalten... Er deckt mich sozusagen. Ist mein Alibi. Und ja, er denkt auch schon lange darüber nach, sich ein Tattoo stechen zu lassen. Er möchte sich die Fingerknöchel tätowieren lassen, aber das ist ja nochmal ein bisschen schwerer als mein Vorhaben hier... Auf jeden Fall hat sich Jungkook schon vor einer ganzen Weile über Möglichkeiten und Studios informiert. Er meinte, ich solle auf jeden Fall zu Taehyung gehen. Er sei der Beste in Südkorea und nun ja. Hier bin ich und wurde bisher nicht enttäuscht."

Yoongis Herz rutscht ihm in die Hose. Es tut jedes Mal weh seinen Namen zu hören. Vor allen Dingen, wenn es so überraschend geschieht, wie jetzt gerade. Andererseits... sind nicht die meisten seiner Kunden durch Taehyung auf ihren Laden aufmerksam geworden? Warum sollte es diesmal anders sein?

„Oh", ist seine erste Reaktion. Er setzt die Nadel kurz ab, damit er durchatmen kann. Dem Schmerz Freiraum geben, ihn loslassen. Er tarnt die Pause dadurch, die überflüssige Farbe vorsichtig von Park Jimins weißer Porzellanhaut abzutupfen.
„Dann hat dich der zwielichtige Typ aus dem Tattoostudio wirklich über den Tisch gezogen", antwortet er schließlich und versucht dabei nicht ganz so melancholisch zu klingen, wie er sich gerade fühlt.

„Mh?", macht sein Gegenüber ein fragendes Geräusch.

„Ich bin nicht Taehyung.
Ich bin Yoongi."

Und eben hast du dich mit Gloss unterhalten und ein bisschen auch mit AgustD, aber eigentlich hast du schon die meiste Zeit mit mir gesprochen.
Möchte Yoongi ergänzen, so wie tausend andere Dinge auch. Aber sowas erklärt sich nicht in einer Nacht und alles, was er dazu sagen konnte, hat er eben schon versucht zu sagen.

„Oh. OH -
Ich... Ich hab nur gefragt, ob du weißt, wer ich bin... Weil ich... Ich bin davon ausgegangen, dass du Taehyung bist. Ich... Sorry. Sorry, dass ich nicht gefragt habe, wer du bist."

„Die Antwort darauf wäre auch nicht so leicht gewesen. Schon in Ordnung."

Eine peinliche Stille tritt zwischen sie. Es ist nicht so, dass Yoongi beleidigt ist, weil Jimin nicht nach seinem Namen gefragt hat. Ehrlich gesagt, ist es ihm selbst kaum aufgefallen. Aber es tut weh ausgerechnet mit ihm verwechselt zu werden, den er so schmerzlich vermisst und mit dem er nichts gemeinsam hat, außer diesem Traum und ihrer Wohnung und das Studio und die Zeit in der Vergangenheit. Yoongis Augen sind nicht nachthimmeldunkel und in ihnen spiegelt sich auch nicht der Frühling. Ihm zu begegnen bedeutet nicht Neuanfang und er schafft es auch nicht, Menschen beim Loslassen zu helfen oder in Herzen die passenden Bilder ihrer eigenen Ewigkeit zu erkennen.

Jimin räuspert sich. Der Laut hallt dunkel in Yoongis Knochen wider. Die Gänsehaut auf seinem Körper verschwindet einfach nicht. Nicht einmal jetzt.

„Ist er das?", sein Kopf deutet ein Nicken auf die gegenüberliegende Wand an. Dort befindet sich ein großes Selbstportrait von Taehyung, dass er damals selbst entworfen hat. Auf der einen Seite befindet sich sein Gesicht – auf der anderen Seite das tierische Abbild eines schwarzen Panthers. Sein Seelentier. Natürlich hat Taehyung an solche Dinge geglaubt.

Yoongi nickt.
Jimin räuspert sich noch einmal und betrachtet fasziniert das Gemälde.

„Es ist wunderschön", sagt er, aber sie beide wissen, dass er wieder etwas anderes meint, nämlich, dass er wunderschön ist. Und ehrlich – das war er.

„Er ist tot", unterbindet der Tätowierer das aufkeimende Gespräch. Er möchte nicht über Taehyung sprechen. Nicht jetzt.

Irgendwo in seinem Innerem erklingt Taehyungs raues Lachen. Wenn Yoongi seinen Blick hebt, kann er sogar in einer schattigen Ecke des Studios seine nachthimmeldunklen Augen amüsiert aufblitzen sehen.
Merkst du eigentlich, dass du gerade voll die Stimmung gekillt hast?, fragt er ihn schalkhaft und die tiefe Lavendelstimme vibriert durch Yoongis gesamten Körper. Er vermisst ihn so sehr, manchmal sogar so sehr, dass er sich einbildet, seine Stimme hören zu können. Ist das lachhaft? Oder ist das einfach nur Sehnsucht?

Was für eine Stimmung? Du siehst Gespenster, antwortet er der vertrauten Vergangenheitsstimme gedanklich. In manchen Momenten macht er das so. Führt interne Selbstgespräche und kann dabei gar nicht unterscheiden, welche der Stimmen zu ihm und welche der Vergangenheit angehören. Will es vielleicht auch gar nicht unterscheiden. Manchmal lieben wir Dinge so sehr, dass sie unwiderruflich zu einem Teil von uns werden und uns nie wieder loslassen. Ist das erschreckend? Yoongi findet die Vorstellung romantisch und er betrachtet verträumt das Gedankengebilde, welches ihm sein Luftschlosstraum von Taehyung malt.

Wer von uns beiden sieht hier bitte Gespenster? Du unterhältst dich gerade mit einem Toten, du solltest deswegen gar nicht über mich urteilen.

Yoongi lacht verdrießlich. Taehyung hat sich immer mit der ganzen Welt unterhalten. Mit dem kleinen Kaktus auf der Fensterbank. Der Wespe, die neugierig zum Fenster hereingeflogen ist und mit den Wellen im Wasser und den Sonnenstrahlen in der Luft und den Sternen am Himmel.
Natürlich darf ich über dich urteilen. Wer, wenn nicht ich?
Yoongi kennt ihn am besten. Und nach Taehyung hat ihn niemand mehr so gut gekannt.

Pffff, Du tätowierst gerade den schönsten Jungen der Welt, der zufällig auch noch ein problemüberladenes Idol ist und hilfesuchend seine Hand nach dir ausstreckt. Es ist gleich Mitternacht. Heute ist Silvester. Ich raste aus, wenn du dir die Tour von nem toten Ex-Freund ruinieren lässt.

Du sagst es. Er ist ein Idol – fucking unerreichbar. Er hätte niemals Interesse an mir. Er ist Park Jimin, man.

Taehyung lacht ihn aus. Aus der dunklen Ecke schwappen tiefe, lavendelschwere Lachwellen zu ihm herüber. Es ist einer dieser Momente, in denen er kaum glauben kann, dass er weg ist. Sein Lachen klingt so real. Er kann es riechen.
Es dauert einen Moment, bis sich die tote Ex-Freund-Stimme in seinem Inneren von seinem imaginären Lachanfall beruhigt hat.

Du weißt doch selbst am besten, dass man niemals nur eine Person ist. Und deswegen ist Park Jimin auch nicht nur das Idol. Und er hat Interesse an Männern, hast du nicht zugehört? Er hat dir doch von Jungkook mit dem Pol-Schmelz-Potential erzählt. Warum hätte er das wohl tun sollen, wenn er dir damit nicht nen Wink geben wollte, dass er auf Männer steht, mh? Jetzt mach dich ran da!

Yoongi kann nichts mehr zu ihm sagen.
Bemerkt erst jetzt, dass sein Selbstgespräch-Dialog die Realität um ihn herum hat in Stille ertrinken lassen.
Jimin hat sich aus Verlegenheit über seine barsche Aussage zu keiner weiteren Bemerkung hinreißen lassen. Stattdessen beißt er sich wieder auf seine hinreißenden Lippen und schaut gedankenverloren im Raum umher. Ob er Taehyung auch in der Ecke sehen kann?

„Es ist fertig", sagt Yoongi schließlich einige Minuten später. Er greift nach wenigen Papiertüchern, mit denen er abschließend die überflüssige Farbe und ein wenig Blut abtropft, das aus den frisch gestochenen Wunden austritt. Eigentlich stichst du die Farbe schon zu tief unter die Haut, wenn sie beginnt zu bluten. Yoongi ärgert sich ein bisschen, dass er es nicht besser hinbekommen hat. Das ästhetische Gesamtbild ist super, aber an seinen Handfertigkeiten muss er noch arbeiten. Perfektionismus ist kein Konzept, das ihm gänzlich fremd ist. Aber er weiß auch, dass man an vielen Tagen vor allem Nachsicht mit sich selbst haben muss. Wie traurig wäre es denn auch bitte, wenn wir jetzt schon die allerbeste Version von uns Selbst wären? Und wie schön ist es zu wissen, dass die besten Dinge noch vor uns liegen.

Jimin steht vorsichtig auf, um sich vor dem Spiegel selbst zu betrachten. Er traut sich nicht, das frischgestochene Tattoo anzufassen, aber seine Finger sind überall darum herum.

„Die rote Schwellung sollte in ein paar Tagen abgeklungen sein. Am besten lässt du so viel Luft wie möglich dran, damit es schnell verheilt. Du kannst es mit Kokosöl eincremen, wenn es dich juckt... Und gerade am Anfang mehrmals täglich. Wenn es nicht anders geht... dann kannst du es auch mit Folie abdecken. Und versuch in den nächsten zwei Tagen nicht zu viel Sport zu machen", belehrt ihn Yoongi, während Jimin in seiner selbstkritischen Betrachtung versunken ist.

„Bist du zufrieden?", murmelt er weiter, nachdem er keine Antwort erhalten hat.

„Mhm...", reagiert Jimin schließlich sehr verzögert.
„Es ist super. Nur ich... ich bin... das Problem."

„Du bist kein Problem", platzt Yoongi hervor, ohne dass er so recht weiß, wie er seinen Satz beenden soll. Deswegen bedeutet er dem Idol vor sich erst einmal mit einer Handbewegung sich noch einmal auf die Liege zu setzen, damit er die frische Wunde dick eincremen kann. Anschließend klebt er selbst ein wenig Folie über die offensiven Buchstaben, damit sie nicht als erste Amtshandlung Jimins teure Designerkleidung ruinieren können.
Aber selbst die zusätzliche Zeit, legt ihn nicht die richtigen Worte auf die Lippen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", gibt Yoongi schließlich zu. Auch das erfordert Mut. Gloss hätte sich sicherlich hinter einer spöttischen Aussage versteckt, AgustD vielleicht aus Verlegenheit das Thema gewechselt oder einen unangemessenen Kommentar gebracht. Nichts davon wäre böse gemeint gewesen, aber wir wissen nun mal nicht immer, was wir zu einer beinah fremden Person sagen können, um es besser zu machen. Uns fehlen so oft die Worte. Aber manchmal reicht doch der Versuch, oder nicht? Manchmal bedeutet es alles, dass man es überhaupt besser machen will.
„Ich weiß nur, dass du nicht das Problem bist. Vielleicht ist es diese ganze abgefuckte Idol-Industrie, vielleicht liegt's auch insgesamt am Berühmt-Sein. Vielleicht hast du dich überdehnt und dabei selbst vergessen, aber... du bist nicht das Problem. Wenn... dann bist du eher die Lösung", versucht er es schließlich, aber seine Worte reihen sich nur in einem losen Gestammel aneinander.

„Die Lösung?"

„Naja... weil nur du es besser machen kannst. Also besser für dich. Du bist dafür verantwortlich, dass es dir besser geht. Andere können dir helfen, klar. Aber... du musst schon mitwirken. Mh... Das ist doch tröstlich, oder? Selbst wenn wir das Problem sind... dann können wir uns immerhin selbst lösen."
Yoongi weiß nicht, ob seine Worte noch Sinn machen. Jetzt, wo er sich nicht mehr auf die Nadel in seiner Hand konzentrieren kann, fühlt er sich Jimins Schönheit hilflos ausgeliefert. Sie macht ihn so schwach, stiehlt seine Selbstsicherheit und die kühlen Worte von den Lippen. Jetzt ist da nur noch Gestammel. Macht er sich gerade lächerlich?

Die große Uhr auf der Wand neben Taehyungs Portrait zeigt fünf Minuten vor zwölf. Es ist fast eine Punktlandung.

„Wollen wir zusammen das Feuerwerk gucken?", fragt Yoongi. Er will die Antwort auf seine bruchstückhaften Gedankenkonstrukte nicht hören. Eine Abfuhr erscheint ihm da wie die bessere Option. Vermutlich hat er sich lächerlich gemacht.
Aber dann würde Jimin doch nicht mit einem zaghaften Lächeln zu ihm blicken und nicken, oder?

* * *

„Meinst du, wir werden jemals wieder glücklich sein?", fragt Jimin, während explodierende Raketen sein Gesicht erhellen und bunte Farben auf sein Antlitz malen. Es ist ziemlich lächerlich, dass er dadurch nur umso schöner aussieht.

„Ich weiß nicht", antwortet Yoongi vorsichtig. Dafür weiß er, dass die ihm überreichte Frage so fragil wie eine hauchdünne Eisschicht auf einem See ist, der heute Nacht das erste Mal für dieses Jahr zugefroren ist. Wenn du sie zu sehr belastest, zerbricht sie, bevor sie jemals ganz zusammenwachsen konnte. Glück ist wohl das fragilste Konzept von allem. Weil niemand so richtig weiß, was das Wort überhaupt bedeutet. Natürlich ist es ein Gefühl, aber jeder beschreibt es anders, weil jeder es anders erlebt.
„Ich wusste nicht, dass ich überhaupt glücklich sein kann, bevor ich Taehyung kennengelernt habe. Mit ihm war es... einfach glücklich zu sein. Nicht nur, weil wir so verliebt ineinander waren. Auch das macht einen ja nicht immer glücklich. Aber Taehyung war irgendwie selbst das Gefühl. Oder zumindest hat er es überall gefunden und mir gezeigt, bis ich gar nicht mehr anders konnte, als es selbst zu sehen. Also...
Ich weiß nicht", endet Yoongi schließlich genauso wie er angefangen hat.

Natürlich weiß er es nicht. Aber er weiß ein bisschen was und vielleicht reicht es aus, wenn er auch nur dieses Bisschen mit Jimin teilen kann.

Er setzt wieder zum Sprechen an.
„Ich weiß nicht, ob wir wieder glücklich sein werden. Aber ich weiß... Immerhin weiß ich, dass wir es könnten. So rein theoretisch eben. Weil sich das Glück überall befindet und... wir es nur sehen müssen."

Über der Gwangan-Brücke zerplatzen immer noch Raketen und bilden funkelnde Lichter. Für einen Moment stellt sich Yoongi vor, dass sie alle einen Traum darstellen, der dieses Jahr verloren gegangen ist und er wünscht sich, dass es wirklich so wäre. Das, wenn ein Traum in letzter Konsequenz gescheitert ist, er in tausend bunte Funken zerspringt und jeder einzelne davon eine neue Chance ist, die du ergreifen kannst. Sie verglühen zwar am Nachthimmel, sodass du nicht die Zeit hast jede einzelne davon zu betrachten, aber immerhin siehst du das Gesamtbild. Und das sagt dir eben nicht, dass gerade etwas zu Ende gegangen ist. Dass sagt dir nur, wie viele neue Anfänge es jetzt für dich gibt.

Die Stille zwischen ihnen ist nicht unangenehm. Yoongi wechselt sich damit ab, die bunten Funken über der Brücke zu betrachten und ihr Spiegelbild in Jimins Augen zu bewundern. Er ist so wunderschön. Yoongi erinnert sich an das transparente Shirt und wie sich seine Zähne in die Unterlippe gegraben haben, als er mit der Tattoonadel über seine Rippenbögen gewandert ist. Wie dünn er eigentlich ist und wie zerbrechlich. Und dass man das alles unter seinen dicken Designerjacke doch überhaupt nicht sehen kann. Er ist so ein riesiges Idol.
Nevermind.
Neben ihm sitzt nicht der Park Jimin von BTS. Der steht vermutlich gerade mit dem Rest der Band auf der Bühne und fasziniert Amerika mit ihrem geschauspielerten Perfektionismus.
Der Junge neben ihm ist auch Park Jimin. Aber er ist nicht so perfekt, wie sein Bühnen-Alter-Ego. An manchen Tagen kann er unter der ganzen Last nicht mal atmen.

Yoongi kennt das. Mit den verschiedenen Persönlichkeiten und den Masken und der Möglichkeit, sich dahinter zu verstecken. Nur, dass es manchmal nicht nur eine Möglichkeit ist, sondern überlebensnotwendig. Er musste Gloss sein und auch AgustD. Nur so konnte er mutig genug werden, um endlich Yoongi zu sein.

Bei Jimin ist es andersrum. Wenn er es nicht bald schafft, wieder er selbst zu sein, dann wird er an seiner Maske ersticken.
Nevermind.
Warum ist er nur so wunderschön?

„Der Laden hier", beginnt Jimin zögerlich. Er beißt sich schon wieder auf seine Unterlippe. Ist er etwa schon wieder unsicher?
Yoongi will ihm sagen, dass er das in seiner Gegenwart nicht sein muss. Aber... andererseits ist er froh darüber, dass Jimin sich traut, es ihm zu zeigen. Seine Unsicherheit. Sie ist nicht perfekt, auf der Bühne hätte sie nichts zu suchen. Aber hier ist sie in Ordnung. Er darf unsicher sein. Yoongi will ihn gar nicht perfekt.

„Das Scenery, mein ich", macht er weiter, „es fühlt sich ein bisschen so an, als... als hätte ich hier Glück gefunden."

Yoongi nickt bestätigend.
„So gings mir auch, als ich den Laden das erste Mal betreten hab. Ich glaub, das liegt an Taehyung. Ich glaub, er hat so hell gestrahlt, dass man hier immer noch sein Glühen spüren kann."

Jimin hat seinen Blick nun zu ihm gedreht und blickt ihn mit schimmernden Augen entgegen.
„Dieser Taehyung muss ziemlich besonders gewesen sein."

„Das war er."
Für einen kurzen Moment tut es wieder weh in Yoongis Brust. Dann erinnert er sich an das dunkelschwere Lachen, dass ihm eben schon gesagt hat, dass er sich die Tour doch nicht von seinem toten Exfreund verderben lassen darf.

„Ich hätte ihn gerne kennengelernt", murmelt Jimin kleinlaut. Er ist sich unsicher, ob er mit Yoongi überhaupt über dieses Thema reden darf. Heute ist schließlich Silvester. Es ist kurz nach Mitternacht. Eigentlich ist gerade die Zeit, über einen neuen Anfang nachzudenken. Die Vergangenheit soll doch im alten Jahr bleiben, oder nicht?

„Ich hätte ihn gerne für immer gekannt", antwortet Yoongi und irgendwie ist er plötzlich doch so mutig, um nach Jimins Hand zu greifen. Es ist nicht immer schlimm über Taehyung zu reden. Das letzte Jahr hat es definitiv leichter gemacht. Natürlich gehört er zur Vergangenheit, aber er wird auch für immer Yoongis Zukunft sein. Nicht die Trauer, die ihn nach seinem Tod begleitet hat, aber all die positiven Dinge, die er nur wegen ihm in sein Herz lassen konnte. Das Tattoostudio. Die Gwangan-Brücke im Sonnenuntergang. Lavendellachen und Sternenhimmelaugen. Erinnerungen für die eigene Ewigkeit in Bildern festgehalten.
Er hat ihn so sehr geliebt.
Aber...
Er ist jetzt auch bereit einen neuen Menschen zu lieben.

Jimins Augen schimmern immer noch ergriffen. Er ist den Tränen nah, weil er weiß, was Yoongi ihm mit seiner Erwiderung eigentlich sagen wollte. Die Unterhaltung zwischen ihnen steht dabei eigentlich gar nicht im Fokus. Sie sprechen auch durch ihre Hände miteinander, die sich ganz von alleine miteinander verflochten haben und ihren aufgeregten Kolibri-Herzschlag aufeinander übertragen.

„Gibst du mir deine Nummer?", fragt Yoongi, als die letzten brennendbunten Lichter am Nachthimmel verglüht sind. Der Himmel ist jetzt wieder so dunkel, wie Taehyungs Augen es immer waren, wenn er ihn voller Hoffnung und Liebe angesehen hat. Und auch diesmal sagen seine Nachthimmelaugen Yoongi, dass er es wagen soll. Dass da wieder ein bisschen Glück direkt vor ihm liegt, direkt vor seiner Nase, eigentlich hat er es schon in der Hand, und er darf es nicht einfach so wieder gehen lassen. Du weißt nie, wie viel Zeit dir mit diesem Glück bleibt. Also solltest du zumindest versuchen, es so gut es geht zu nutzen.

Der Themenwechsel ist so abrupt, dass Jimin anfängt zu lachen. Die Übersprungshandlung ist vermutlich aus Verlegenheit geboren. Seine honigschwere Stimme fließt süß durch die Nacht und nistet sich in Yoongis Gehörgängen ein. Direkt neben Taehyungs tiefer Lavendelstimme. Sie sind sich nicht gegenseitig im Weg. Sie umspielen einander, wie ein Orchester. Zusammen sind sie sogar noch schöner.
Yoongi wünscht sich auch ein bisschen, dass Jimin Taehyung gekannt hätte. Vielleicht würde es ihm dann leichter fallen zu atmen. Vielleicht könnte er ihm auch dabei helfen, seine Maske abzulegen. So, wie er es bei Yoongi getan hat.

„Ich wechsle meine Handynummer alle zwei Wochen", grinst Jimin immer noch.
Taehyung ist nicht mehr hier. Er kann Jimin nicht helfen.
Aber Yoongi kann es. Vielleicht. Er kann es zumindest probieren.

„Dann gebe ich dir besser meine Nummer", geht er deswegen auf alles. Seine Mundwinkel verziehen sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Die änder' ich nämlich nie und... dann kannst du mich immer erreichen. Falls du... falls du mal wieder nach Glück suchst. Oder einfach 'ne Runde quatschen willst."

Yoongi will auch vorschlagen, dass sie sich mal wieder treffen können. Aber er will keine falschen Versprechungen hören und kann sich nur ansatzweise ausmalen, wie vollgepackt Jimins Kalender sein muss, wenn er nicht einmal an Silvester frei haben darf.

Jimin holt sein Handy aus der Tasche und wirft Yoongi einen auffordernden Blick zu. Seine Finger bewegen sich flink über das Display, während er die diktierten Zahlen in dem digitalen Speichersystem hinterlegt.

„Ich hab das Gefühl, es wird jetzt einfacher", sagt er dann.

„Was?", fragt Yoongi und hat wirklich keine Ahnung, was Jimin gerade meint.

„Glücklich sein", sagt der. „Ich hab jetzt schließlich ein bisschen was davon gespeichert."

ENDE

* * * 

Kommt gut ins neue Jahr, ihr Herzen. <3 
Und nehmt nur die Hoffnung mit, die Wünsche und Träume. 
Glück finden wir überall, wenn wir nur die Augen dafür offen halten. 

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