Refrain - Zwischen Allem und Aufgeben
Refrain - Zwischen Allem und Aufgeben
„Hallo?", ertönt eine vorsichtige Stimme und tropft dabei von der Eingangstür wie goldbrauner Honig, klebrig und ein bisschen zögerlich, irgendwie zähflüssig.
„Haben Sie noch geöffnet? Draußen hängt ein Schild, auf dem steht, dass Sie noch geöffnet haben...?"
Yoongi muss sich erst an den Klang gewöhnen, ist irritiert von der schweren Süße, die sich im Raum ausbreitet und ihn erwärmt. In seinen Erinnerungen ist es oft kalt. Er friert noch. Es benötigt echt Übung, die Geister der Vergangenheit abzuschütteln.
„Klar ist noch offen", erwidert er deswegen noch ein wenig schnippisch, „sonst hätte ich das Schild doch nicht aufgehangen." Dabei kämpft er sich von der Liege hoch, auf der er es sich in den letzten Stunden bequem gemacht hat. Sein Rücken knarzt dabei und als Yoongi seine Schultern kreisen lässt, geben sie ein beängstigendes Knacken von sich. Sein Körper wird ihm die fehlende Bewegung nicht ewig kompromisslos verzeihen, geht es Yoongi unwillkürlich durch den Kopf. Aber das ist ein Problem für später, für das nächste Jahr vielleicht oder das danach. Im Probleme-Vertagen ist er schließlich Weltmeister und wer kennt das nicht?
Ab morgen achte ich mehr auf meine Ernährung, ab morgen beginne ich mit regelmäßigen Sport, morgen höre ich auf zu rauchen...
Falls du dich das auch schon mal gefragt hast, dann nein. Fang nicht erst morgen an. Der richtige Zeitpunkt ist immer jetzt.
Yoongi will gerade wieder zum Sprechen ansetzen, in seiner schnippischen Art, die ab und an noch ein bisschen hochnäsig ist, so wie Gloss damals, aber meistens eher vorlaut, so wie AgustD eben, und nur ganz selten zurückhaltend und höflich, weil sich Yoongi noch immer an sich selbst gewöhnen muss, da durchschreitet er den Sichtschutz zwischen der Tattooliege und dem Eingangsbereich und was er sieht, lässt ihn vergessen, wie man weiterspricht.
Der junge Mann vor ihm ist kein goldbrauner Honig. Er ist golden oder er besteht einfach aus Gold oder warum strahlt er so? Ist das denn überhaupt ein Strahlen oder ein Leuchten oder ein Schimmern? Was ist das? Yoongi kann es nicht beschreiben. Er weiß nur, dass der Mann vor ihm funkelt oder welches Wort man auch immer dafür verwenden mag, wenn man dem schönsten Menschen der Welt gegenübersteht. Seine Mundwinkel formen ein zurückhaltendes Lächeln, das selbst reflektierende Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche blass erscheinen lässt.
Yoongi ist sprachlos.
Und natürlich erkennt er ihn. Er erkennt die hellblonden Haare, die vollen, plumpen Lippen und die rosigen Wangen. Das bildhübsche Gesicht aus der Renaissance.
Wie hätte er ihn auch nicht erkennen können? Sein Bild hängt überall in Busan, wahrscheinlich sogar überall in Südkorea oder auf der ganzen Welt.
Vor ihm steht Park Jimin. Wie unwirklich ist das?
In der Hauptstadt haben sie ein Zugabteil mit lebensgroßen Abbildern der Mitglieder der Bangtan Sonyeondan ausgestattet.
Auch wenn sich Yoongi nicht sonderlich viel aus der Idol-Welt macht, er ist an diesem Antlitz genauso wenig vorbeigekommen, wie jeder andere Südkoreaner auch. Er hat nur niemals gedacht, ihm mal persönlich gegenüberzustehen. Das ist irgendwie nicht nur überraschend, sondern vollkommen unerwartet.
Die Situation wird auch dadurch nicht besser, dass Park Jimin dabei ganz hinreißend aussieht, also wirklich und nicht nur ein wenig, sondern richtig atemberaubend, und er beißt sich vor Verlegenheit auf die Unterlippe und Yoongi kann nicht anders, als mehrmals tief ein- und auszuatmen. Schon mal überlegt, wie man in dieser Situation die Ruhe bewahren kann? Nein? Yoongi auch nicht.
Park Jimin ist auf Bildern schon fesselnd. In der Realität ist er unglaublich. Seine Präsenz erfüllt mühelos den ganzen Raum, macht ihn heller und irgendwie wärmer und Yoongi ist tatsächlich eingeschüchtert von dem süßen Schimmern, welches um das Pop-Idol herum pulsiert.
Aber er ist nicht der Einzige, der durchatmen muss. Er beobachtet ganz genau wie Park Jimin tief Luft holt, bevor er dem Tätowierer in die Augen sieht und weiterreden kann. Scheinbar hat er bei Yoongis Anblick nicht vergessen, wie das geht.
„Sorry, ich weiß, ich bin spät dran und alles... und du hast wahrscheinlich um kurz vor Mitternacht etwas Besseres zu tun, aber... ich hätte wirklich gerne ein Tattoo." Er kann nicht sprechen, ohne zu stocken und verbeißt sich dabei in seiner Unterlippe. Ganz so, als sei er unsicher darüber, ob er weitersprechen oder doch besser umdrehen und den Laden möglichst schnell wieder verlassen soll.
Seine Unsicherheit beruhigt Yoongi. Er weiß nicht, ob das vielleicht abstrus oder paradox ist, aber dadurch kommt ihm sein Gegenüber irgendwie menschlicher vor, realer. Ganz so, als hätte er vielleicht auch Fehler und sei mehr als nur dieses perfekte Ideal der K-Pop-Welt. Denn das ist Park Jimin. Optisch vielleicht sogar mehr als alle anderen.
„Zufällig habe ich gerade nichts Besseres zu tun", erwidert Yoongi und klingt dabei wesentlich cooler, als er sich im Inneren fühlt. Er weiß noch nicht so richtig, was er mit seinem Gegenüber anstellen soll. Er ist nie zuvor einem K-Pop Idol begegnet. Wie verhält man sich denn gegenüber einem Superstar? Klar, man sagt immer, dass das auch nur Menschen sind und sie genauso behandelt werden wollen, aber... weißt du eigentlich wie schön Jimin ist? Yoongi zweifelt daran, dass er wahrhaftig menschlich ist... Irgendwie.
Trotzdem versucht er professionell zu bleiben. Immerhin begegnen sie sich in seinem Studio. Hier fühlt er sich wohl, hat Heimvorteil und muss sich nur auf das eigentliche Thema konzentrieren.
„Weißt du schon, was du möchtest oder willst du dir erst ein paar Entwürfe angucken?", erkundigt er sich deswegen.
Bei dieser Frage sieht sein Gegenüber entschlossener aus. Er sagt: „Ich weiß, was ich will" und vielleicht ist das genau die Voraussetzung dafür, dass man gerade an dem Punkt sein kann, an dem er sich befindet. Metaphorisch gesprochen. Natürlich meint Yoongi nicht das kleine Tattoostudio in Busan, sondern eher so die Musikcharts weltweit. Zumindest zweifelt er bei diesem Ausdruck in seinen Augen keine Sekunde daran, dass Park Jimin wohl schon immer ganz genau wusste, was er will.
Aber dann blinzelt Jimin und der Augenblick verfliegt. Seine Aura beginnt nur kurz zu flackern, dann pulsiert sie wieder in ruhiger Gleichmäßigkeit und Yoongi fragt sich immer noch, ob er leuchtet oder funkelt oder schimmert, weil alles an ihm so unglaublich sanft und anziehend wirkt. Ist das ein Marketing-Trick? Warum fühlt es sich dann so real an?
„Hast du einen Entwurf dabei?", fragt Yoongi und zieht dabei eine Augenbraue in die Höhe. Seine Arme hat er vor dem Körper verschränkt, weil er eben noch gefroren hat und jetzt vollkommen unvorbereitet auf Jimins warme Stimme trifft.
Er hofft, dass er dabei nicht genauso abweisend aussieht, wie es sich für ihn anfühlt. Er will den anderen nicht abweisen. Er muss sich nur selbst festhalten, um dem Anblick des Pop-Idols standzuhalten.
Vielleicht ist da auch Gloss in seinen Gesichtszügen, in den skeptisch verzogenen Augenbrauen zum Beispiel. Wenn er sich so unsicher fühlt wie jetzt gerade, dann kämpft sich Gloss manchmal noch an die Oberfläche und hilft ihm mit einem unterkühlten Gesichtsausdruck aus. Eigentlich ist Yoongi oft dankbar dafür. Gloss weiß ja immer was zu tun ist, denn er hat keine Schwächen, aber jetzt gerade ist Yoongi nicht dankbar. Er möchte nicht überheblich wirken, sondern nur irgendwie... normal? Das wäre ein Anfang. Im besten Fall sogar sympathisch, aber so wird das wohl nichts.
„Es ist nur ein Wort", entgegnet Jimin und vermeidet dabei, ihm in die Augen zu blicken. Seine selbstbewusste Ader ist wieder verschwunden. Er ist wie der Mensch auf der Bühne, der ein Millionenpublikum mit einem Augenzwinkern begeistern kann, aber irgendwie ist er es auch nicht.
Yoongi kann ihn nicht deuten.
In einem Moment wirkt er so stark, irgendwie unerschütterlich in all seiner Sanftheit und seiner Zielstrebigkeit, aber dann weicht er dem Augenkontakt aus und beißt sich auf die Unterlippe und seine Aura flackert, statt zu pulsieren und Yoongi weiß nicht, warum er sich innerhalb eines Wimpernschlags so verändern kann.
„Also kein Entwurf", schlussfolgert er trotzdem richtig, „dann komm mit nach hinten, ich zeige dir ein paar Schriftarten."
Er dreht sich bereits beim Reden um, damit er nicht noch mehr sagt. Er ist neugierig und hat tausend Fragen auf der Zunge. Zum Beispiel möchte er vorrangig wissen, was Park Jimin ausgerechnet heute Abend in seinen Laden geführt hat. Sollte er nicht eigentlich gerade in Amerika sein?
Sein Kunde folgt ihm nicht sofort. Er bleibt zögerlich vor der kleinen Theke stehen und wirkt schon wieder so verunsichert, dass ihn Yoongi am liebsten an die Hand genommen hätte.
„Ich hab...", setzt er an und blickt suchend im Raum umher. Sein Blick sucht nach Etwas, an dem er sich festhalten kann. Schließlich findet er es in Yoongis Augen und es ist das erste Mal, dass sich ihre Blicke direkt begegnen. „Ich hab dein Schild umgedreht. Es ist jetzt geschlossen. Ist das okay? Ich will nicht, dass jemand reinkommt, während ich hier drin bin..."
Natürlich ist das in Ordnung. Yoongi quittiert die Äußerung mit einem müden Schulterzucken. Er hat auch wenig Lust auf den medieninduzierten Skandal, den ein fahnenflüchtiges, tätowiertes Idol am Silvesterabend sicherlich mit sich bringen würde. Außerdem braucht er auch keine Ansammlung fanatischer Fans in seinem Laden. Auch wenn die Publicity sicher gut wäre, aber es gibt so viel wichtigere Dinge im Leben. Anstand zum Beispiel. Und Loyalität.
Aber er erklärt sich nicht mit Worten und Jimin scheint sein desinteressiertes Schulterzucken zu reichen. Vermutlich ist er gerade an einem Punkt angelegt, von dem aus es wohl nur geradeaus geht. Als er den Laden betreten hat, hat er eine Entscheidung gefällt. Zu der gehört es auch, darauf zu vertrauen, dass Yoongi ihn nicht verraten und der Presse ausliefern wird. Jemanden vertrauen, den er gar nicht kennt. Das ist wie der Sprung ins kalte Wasser. Ziemlich beängstigend, nicht?
Jimin folgt ihm vorsichtig nach hinten und bleibt unschlüssig hinter dem Sichtschutz stehen.
„Bitte warte kurz", erklärt Yoongi und versucht dabei ruhig und professionell zu wirken. Ihm wird jetzt erst so richtig bewusst, was für ein Risiko Jimin mit dem Betreten seines Ladens eingegangen ist. Er möchte ihn durch sein Verhalten, in seiner mutigen Entscheidung bestärken. Das Vertrauen ist nicht verschenkt. Heute Abend hat er es in den richtigen investiert.
„Ich muss das nur eben desinfizieren...", spricht er weiter und ist dabei schon vollkommen in sein Handeln vertieft. Er sprüht die Liege gründlich ein und verreibt das Desinfektionsmittel mit einem weichen Tuch, damit er das Leder dabei nicht beschädigt. Das hat er schon hunderte Male zuvor getan und es hilft ihm dabei, sich zu fokussieren. Auch wenn Jimin die erste Person ist, die er tätowieren wird und die bereits internationale Berühmtheit erlangt hat, will er ihn trotzdem nicht anders als seine andere Kundschaft behandeln.
Schließlich legt er einen waschbaren, weißen Überzug über das Leder.
„Du kannst dich jetzt setzen."
Yoongi selbst hat sich auf einem kleinen, ledernden Hocker niedergelassen, der mit Rollen ausgestattet ist, sodass er mobil und wendig jederzeit alle notwendigen Utensilien erreichen kann. Das ist so viel angenehmer als ständig aufstehen zu müssen (und natürlich ist er auch ein bisschen faul). Sie haben den Hocker von ihren ersten Einnahmen gekauft und Jin gleich ein Foto davon geschickt. Yoongi ist mit Taehyung auf dem Schoß durch den gesamten Laden gerollt. Sein Lavendellachen hat ganz Busan zum Blühen gebracht.
Aber das ist Vergangenheit. Er sitzt jetzt alleine hier und Park Jimin ihm gegenüber und deswegen greift er nach seinem Tablet, um einen Schriftzug vorzuzeichnen. Erst wenn der Kunde die Vorlage akzeptiert, kann Yoongi mit der eigentlichen Arbeit beginnen.
Jimin ist erstaunlich still und schaut sich weiterhin unruhig in dem kleinen Laden um. Seine dicke Winterjacke hält er mittlerweile unsicher umklammert. Er trägt darunter nur ein dünnes, weißes Shirt, welches für die Wetterverhältnisse vollkommen unangemessen erscheint. Den Stoff könnte man als durchscheinend und beinah transparent bezeichnen, aber eigentlich ist er unverschämt, weil er so viel mehr offenbart, als er verdeckt und wie soll man dabei denn konzentriert arbeiten?
Jimins Augen wandern scheinbar ziellos durch den Raum und inspizieren jeden Winkel detailliert. Sucht er nach etwas? Nach Überwachungskameras vielleicht? Hat er Angst davor, dass Yoongi den Vorgang filmen und im Nachgang veröffentlichen wird? Vermutlich schon. Vermutlich wird man ziemlich paranoid, wenn man auf Schritt und Tritt von Fans und Paparazzi verfolgt wird. Wenn jedes Bild von dir in einer prekären Situation nicht nur eine Stange Geld, sondern auch deine Karriere kosten könnte.
Yoongi weiß nicht, welche Horrorszenarien sich Jimin ausmalt. Er möchte nur, dass er sich wieder entspannt. Yoongi wird ihn weder erpressen noch Fotos oder ein Video von seinem Besuch veröffentlichen. Dafür ist er doch gar nicht der Typ. Aber das kann Jimin ja nicht wissen.
„Hier gibt's keine Kameras", bemerkt Yoongi beiläufig, während er das entsprechende Programm auf seinem Tablet öffnet. Seine Art ist so unbeholfen.
Jimin blickt ihn ertappt an und beißt sich schon wieder auf die Unterlippe. Ob ihm sein Management diese Eigenart in der Öffentlichkeit verbietet? Möglich ist es. Es strahlt viel zu viel Unsicherheit aus und zu wenig Perfektionismus. Die K-Pop-Industrie kann sich keine Unsicherheiten leisten. Gloss versteht das. Yoongi nicht.
„Ich hab nicht nach Kameras gesucht", versucht Jimin halbherzig zu erklären, aber ihm fällt wohl selbst mitten im Satz bereits auf, dass es viel zu offensichtlich nach einer Lüge klingt. Jedenfalls bricht am Ende seine Stimme und klingt viel zu leise aus. Yoongi lässt den Satz unkommentiert.
Es ist die richtige Entscheidung, denn kurz darauf atmet Jimin wieder durch, es ist das gleiche Durchatmen wie zu Beginn, als er das Geschäft betreten und das erste Mal sein Anliegen geäußert hat. Er strafft seine Schultern und ein vorsichtiges Lächeln umspielt seine Lippen. Es ist fake, um die Unsicherheit zu überspielen. Aus der Nähe fällt es Yoongi leicht das zu erkennen. Durch die Linse einer Kamera wird man es wahrscheinlich nicht von einem echten Lächeln unterscheiden können. Ist es das, was ihm sein Entertainment beigebracht hat? Ein falsches Lächeln in jeder Situation?
„Du musst nicht lächeln, wenn es dir unangenehm ist", unterbricht Yoongi das Schauspiel rabiat. Ist er unhöflich? Oh Gott, er will nicht unhöflich sein...
„Ich versteh schon, dass die Situation irgendwie komisch für dich sein muss. Du kennst mich nicht und vermutlich wurdest du schon ziemlich oft verarscht, aber...", Yoongi überlegt einen kurzen Moment, ob es noch eine andere Möglichkeit gibt, diesen Satz zu formulieren. Eine, die nicht ganz so abgedroschen klingt. Ihm fällt so schnell keine ein, deswegen sagt er es dann trotzdem. „Du kannst mir vertrauen."
Manchmal ist es so einfach, dass es keine andere Möglichkeit gibt.
So ein verflixter Satz. Vermutlich haben wir alle ihn schon mindestens einmal in unserem Leben gehört, aber eher noch öfter. Vermutlich wurden wir mit diesen Worten auch schon mal angelogen. Aber nicht alle Menschen lügen, wenn sie von sich behaupten, dass man ihnen vertrauen kann. Manchmal können wir ihnen wirklich vertrauen. Und es ist wichtig, sich ab und an daran zu erinnern.
„Du weißt wahrscheinlich, wer ich bin, oder?", fragt Jimin vorsichtig. Sein Lächeln ist in sich zusammengefallen, seine Frage klingt wenig hoffnungsvoll. Vielleicht kann er sich schon gar nicht mehr an das Gefühl erinnern, wie das ist, wenn man einen Raum betritt und nicht jeder sofort weiß, wer man ist. Yoongi kann sich nicht vorstellen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Gefühl sein muss.
„Spielt das eine Rolle?", entgegnet er ausweichend und bejaht damit indirekt Jimins Frage. Denn er selbst redet sich ein, dass die Identität seines Kunden keine Rolle spielt. Vielleicht ist es eine Lüge, aber zumindest ist es ein Versuch.
„Wahrscheinlich nicht", erwidert Jimin vorsichtig. Wahrscheinlich ist er seit Ewigkeiten keiner Person mehr begegnet, für die es keine Rolle spielt, dass er Park Jimin ist.
„Also – welches Wort soll es denn werden?", kehrt Yoongi umgehend zurück zum eigentlichen Thema. Das verleiht ihm zumindest eine gewisse Art von Selbstsicherheit.
„Nevermind", flüstert Jimin.
Yoongi gefriert mitten in der Bewegung. Gloss horcht auf.
Das Wort macht ihn skeptisch, schließlich hat er schon einmal einen Song geschrieben, der genau diesen Titel erhalten hat. Er ist auf seinem zweiten Mixtape gelandet, welches er noch unter dem Namen Gloss veröffentlich hat. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass Jimin seine Musik kennt und er kann sich erst recht nicht vorstellen, dass er seine Musik als Anlass für ein Tattoo nehmen würde. Es muss ein Zufall sein, ein seltsamer Wink des Schicksals?
Er versucht sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen, sondern beginnt stattdessen mit den ersten Versuchen einer Verschriftlichung. Er malt die Buchstaben in schönen, verschnörkelten Schriftarten, die trotz allem noch gut lesbar sind. Sie passen so gut zu Jimins sanftem Äußeren. Schön, verspielt, gleichzeitig elegant und vielleicht auch einen Hauch verführerisch. Aber Jimin schüttelt bei jedem einzelnen Vorschlag nur mit dem Kopf.
Dann überlegt er eine Weile und blickt in die Luft, vermeidet immer noch den Augenkontakt. Das kann er scheinbar gut, hat es vielleicht bei seinen Auftritten gelernt, weil es leichter ist, vor einem Millionenpublikum zu stehen, wenn er dabei niemandem direkt in die Augen blicken muss. Als er schließlich beginnt zu sprechen, ist seine Stimme zwar leise, aber fest: „Ich hatte es mir eher ein wenig... offensiver vorgestellt."
Yoongi fragt sich einen Moment lang, wie denn ein offensives Wort aussieht und in diesem Moment wünscht er sich sehnlichst – noch sehnlicher als gewöhnlich – Taehyung herbei, der keine Sekunde gezögert und wahrscheinlich bereits zu Beginn erkannt hätte, dass Jimin eben doch nicht der verschnörkelte Typ ist, der ein verschnörkeltes Tattoo will. Aber Taehyung ist nicht hier, Yoongi aber schon und natürlich kann er auch offensive Worte zeichnen. Natürlich kann er das, er hat jahrelang nichts anderes verwendet als offensive Wörter.
Er malt es diesmal in Blockbuchstaben. Drückt fest auf, obwohl es bei seinem Tablet gar nicht nötig wäre. Er denkt ein bisschen an das Jahr 2019 und dass es sich angefühlt hat wie ein Monster und dann denkt er nochmal an Taehyung und dass manche Verluste irgendwie immer wehtun, auch wenn man es manchmal gar nicht bemerkt. Er zieht jeden Strich doppelt nach. Am Ende erscheint es beinah ein wenig unsauber, ganz so in Großbuchstaben und irgendwie wütend. Ein erster Impuls sagt ihm, dass er es wieder löschen sollte und Jimin gar nicht zeigen, denn irgendwie ist der Entwurf zu persönlich und doch bestimmt gar nicht das, was sich sein Kunde unter offensiv vorgestellt hat.
Aber er muss es Jimin gar nicht zeigen, denn der hat sich schon nach vorne gebeugt und blickt neugierig auf den Bildschirm des Tablets. Er lächelt breit und offenbart dabei das erste Mal seine Zähne. Sein vorderer Schneidezahn steht etwas schief. Diesmal wirkt das Lächeln echt.
„Das ist es", sagt er befreit, „so habe ich es mir vorgestellt. Das ist perfekt."
Ein perfektes Tattoo für einen perfekten Menschen in einer perfekten Welt.
Yoongi kann sich der Ironie nicht entbehren. Der Schriftzug konnte in der Art nur entstehen, weil in seiner eigenen Welt nichts perfekt ist. Sie sind aus Schmerz entstanden. Aber er sagt nichts dazu. Das ist ein weites Feld – oder wie war das?
Zwischen Yoongis Rippen tut es immer ein wenig weh, so auch jetzt. Er nickt Jimins Aussage ab und reibt sich gedankenverloren über die Stelle auf seiner linken Brust. Die Bewegung ist so automatisiert, er bemerkt sie nicht einmal.
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