Interlude - Die Existenz des Seins / Schöner Schein
Interlude – Die Existenz des Seins / Schöner Schein
Yoongi druckt das Motiv und bringt es zunächst als Schablone mittig auf Jimins Rippenbögen an. Er konzentriert sich sehr genau auf seine Arbeit, zum einen, weil er es natürlich richtig machen will, aber auch um den unangenehmen Moment zwischen ihnen zu überspielen, in dem sich sein Gegenüber von dem dünnen T-Shirt befreien musste. Denn auch wenn es unverschämt transparent ist, muss es trotzdem ausgezogen werden, damit Yoongi den Abdruck des späteren Tattoos ordentlich anbringen kann.
Auf Jimins Haut wirkt die schwarze Farbe wie ein Kunstwerk. Es besteht ein gravierender Kontrast zwischen der hellen Alabasterhaut, der schmalen Taille und den aggressiven Großbuchstaben. Er ist so dünn, dass jeder einzelne Rippenbogen deutlich hervorsteht. Yoongi wird mehr auf den Knochen, als auf der Haut darüber stechen müssen. Vermutlich wird es echt wehtun. Aber irgendwas an dem entschlossenen Gesichtsausdruck des Idols sagt ihm, dass der bereits existentiellere Schmerzen gewohnt ist.
„Bist du sicher, dass du's hier haben willst?", erkundigt er sich trotzdem. „Kann schmerzhaft werden."
„Das ist mir egal", erwidert Jimin augenblicklich. Er steht vor einem großen Spiegel und dreht sich prüfend nach rechts und nach links. Yoongi wüsste gerne, was er im Spiegelbild zu sehen glaubt. Vermutlich wurde ihm eingetrichtert, stets kritisch und nie zufrieden zu sein. Dabei ist er Kunst, ein wandelndes Meisterstück per excellence, an dem weder rechts noch links oder mit einer Vergrößerungslupe, mit dem Faktor einhundert. irgendetwas auszusetzen gebe. Aber Selbstwahrnehmung ist scheiße. Sie täuscht dir immer die absurdesten Gebilde vor und was du dann tatsächlich im Spiegel siehst, das kann außer dir sonst niemand mehr wahrnehmen.
„Gefällts dir denn?", fragt Yoongi weiter, nachdem auch nach eingehender Betrachtung kein endgültiges Fazit seines Kunden gefällt wurde.
Die Antwort verzögert sich um einen halben Moment. Dann sagt Jimin ausdruckslos: „Nein" und gleich darauf: „Aber das liegt nicht am Tattoo."
Dieses Geständnis ist irgendwie zu viel und gleichzeitig zu wenig, als dass man wirklich an einem Punkt ansetzen könnte, der sich im Nachhinein als hilfreich erweist. Es überfordert Yoongi und er wünscht sich schon wieder Taehyung herbei, der niemals überfordert war mit den Tattoos und der menschlichen Kryptologie dahinter, sondern beides lesen und in Einklang bringen konnte, sodass für ihn die Situation stets gläsern blieb.
Aber er selbst kann das nicht. Noch nicht. Immerhin ist nicht mehr so viel von Gloss in ihm übrig. Das erspart ihm zumindest auf eine solche Bemerkung mit einer spöttischen Spitze zu reagieren, nur um nicht zugeben zu müssen, dass er von einer empathischeren Reaktion leider keine Ahnung hat.
Also wählt Yoongi das Zwischending, die diplomatische Version einer Antwort, irgendwo zwischen Wunsch-Taehyung und dem vorlauten Gloss und dem Menschen, zu dem er in der Zwischenzeit geworden ist.
Er sagt: „Ich kann es auch ein Stück tiefer ansetzen. Oder auf der anderen Seite."
Zu beiden Vorschlägen schüttelt Jimin verneinend den Kopf, während er sich eingehend kritisch im Spiegel mustert.
„Dann vielleicht eine andere Körperstelle? Rippenbogen ist den meistens ohnehin zu krass für ihr erstes Tattoo, weil sie den Schmerz erstmal austesten wollen. Außerdem..." und hier zögert Yoongi, weil er sich mit seinen nächsten Worten vielleicht zu weit aus dem Fenster lehnt, aber andererseits wird er vielleicht nie in Jimins Kopf gucken können, wenn er sich nicht vorher zu weit zu ihm herüber gelehnt hat.
„Außerdem könnte man das Tattoo an der Stelle leicht sehen, wenn du auf der Bühne stehst und tanzt."
Yoongi hat schon ein paar Videos gesehen. Nicht nur von den Bangtan Sonyeondan, sondern auch von anderen Idolgruppen. Es ist keine Seltenheit, dass einer der Tänzer auch oberkörperfrei auf der Bühne performen muss. Oder nur ein weißes, unverschämt transparentes Oberteil trägt, unter dem die weißen Buchstaben unweigerlich hervorschimmern würden.
„Das soll es", antwortet Jimin diesmal sofort, aber es ist wieder so undurchsichtig, dass Yoongi mit seiner Reaktion nicht viel anfangen kann.
„Zu sehen sein?", muss er sich daher rückversichern.
„Nein. Wehtun."
Kurz darauf nickt er seinem Spiegelbild entschlossen zu. Die Entscheidung ist gefallen. NEVERMIND wird auf seinen Rippen stehen, unwiderruflich offensiv auf fragiler Alabasterhaut und damit für immer einen Kontrast setzen, den sich Yoongi vielleicht nie erklären wird können.
Er bittet seinen Kunden darum, wieder auf der Liege Platz zu nehmen, aber sich diesmal hinzulegen. Er erklärt geduldig, dass er sich nicht bewegen darf und hektische Bewegungen vermeiden sollte, auch das automatische Muskelzucken sollte er versuchen in Grenzen zu halten. Anschließend werden die Nadeln gesäubert und die Farbe aufgefüllt. Dann kann es losgehen.
Als das gleichmäßige Summen der Tätowiermaschine die Stille im Raum verdrängt, kann Yoongi wieder freier atmen. Spätestens jetzt ist es wirklich egal, wer der Kunde ist, der gerade vor ihm liegt. Jetzt kommt es nur noch darauf an die bestmögliche Arbeit abzuliefern und das wird er. Taehyung sieht ihm sicher zu, so wie er es eben immer tut, wenn er mit dem Kopf nicht gerade zu weit oben in den Wolken steckt, und diesmal wird er hoffentlich besonders stolz auf ihn sein.
Und weil es jetzt egal ist, wer vor ihm liegt, denkt Yoongi auch nicht mehr so viel über seine Worte nach. Er weiß nur, dass er ein bisschen reden muss, damit sein Gegenüber von den Schmerzen abgelenkt wird. Dieser Part beim Tätowieren ist nicht schön. Alles, was wehtut, sollte niemals schön sein. Ich weiß, dass Schmerzen in unserer Gesellschaft viel zu oft romantisiert werden, aber was ist schön daran zu leiden? Ist es wirklich so heroisch, den Schmerz einfach zu ertragen, anstatt dagegen anzukämpfen?
Manchmal sind Dinge so schön, dass sie schon beinahe wehtun. Aber in dem beinahe liegt der Unterschied. Es schmerzt nicht wirklich, es ist nur zu intensiv. Es überfordert uns. Wir können damit nicht umgehen. Und selbst dann sollte niemand dieses Gefühl allein und in absoluter Stille aushalten müssen.
„Warum bist du Sänger geworden?", fragt er und wahrscheinlich wird die Frage gerade von Gloss gestellt und nicht von Yoongi, weil der eben auch beinah berühmt geworden wäre und vielleicht endlich herausfinden kann, was ihm genau gefehlt hat, um die letzte Unebenheit auf seinem Weg ausgleichen zu können.
„Weil ich es wollte. Es war mein Traum", entgegnet Jimin. Es klingt tatsächlich authentisch und nicht wie eine Musterantwort aus dem Idolkatalog. Sie macht Gloss zumindest so mutig, dass er sich traut weiter nachzufragen, denn scheinbar besteht das Potential zur Wahrheit und nicht nur zum schönen Schein.
„War dein Traum?", seine Rückfrage ist forsch. Das weiß er. Aber um sowas hat sich Gloss noch nie Gedanken gemacht. „Ist er das nicht mehr oder warum sprichst du in der Vergangenheit?"
Obwohl Gloss spricht, schaut Yoongi Jimin dabei nicht in die Augen. Sein Blick konzentriert sich auf sein Tun. Wenn er aufblickt, dann nur ganz kurz und höchstens bis zu den perfekten Kirschblütenlippen, die von der Malträtierung seiner Zähne schon rot und angeschwollen sind.
„Es war ein Traum, den ich nicht richtig träumen konnte."
„Was meinst du damit?"
Yoongi vollendet gerade die Outline vom ersten Buchstaben. Zum Ausfüllen wird er später auf eine breitere Nadel wechseln müssen. Vermutlich wird das noch mehr wehtun, aber bisher macht Jimin seine Sache wirklich gut. Ist tapfer und zuckt kein einziges Mal. Fast so, als würde er den Schmerz willkommen heißen.
„Na ja...", erklärt sein Gegenüber vorsichtig. Er klingt ein bisschen danach, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass er die Worte hier aussprechen kann, dass er es darf. Schließlich hält er seine Aussage allgemein und unverbindlich. Geht damit den sicheren Weg. Aber wie weit können wir nur auf sicheren Wegen gehen und trotzdem vorankommen?
Jimin sagt:
„Man kann ja immer nur bedingt richtig von etwas träumen. Solange wir davon träumen, wissen wir noch nicht, wie es sich tatsächlich anfühlen wird. Wir wissen nicht, was mit dem Traum passiert, wenn er real wird. Und wir wissen nicht, ob es nach dem Wahrwerden wirklich noch unser Traum ist."
Seine Antwort klingt auswendig gelernt. Als säße er gerade in einem überbelichteten Interview.
„Also wars nicht mehr dein Traum, nachdem er wahr geworden ist?", hakt er weiter nach. Gloss lässt sich natürlich nicht von allgemeinen Phrasen abwimmeln, mögen sie auch noch so poetisch angehaucht daher kommen. Er braucht Antworten auf seine endlosen Was-wäre-wenn-Szenarien und das ist vielleicht die einzige Chance, die er je dafür bekommen wird.
Aber das Idol vor ihm ist so geschult in Rhetorik, dass es sich natürlich nicht zu unbedachten Aussagen hinreißen lässt. Nicht einmal heute. Nicht einmal in einem kleinen, unbekannten Tattoostudio kurz vor Mitternacht an Silvester. Allzeit der perfekte Profi. Nevermind.
„Manche Träumen werden durchs Wahrwerden so modifiziert, dass sie... danach nichts weiter sind als Albträume", entgegnet Jimin. Gloss hat ihn so weit aus der Reserve gelockt, dass seine Antwort zumindest danach klingt, als würde er mehr sagen wollen, als die Worte aus seinem Mund tatsächlich ausdrücken.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage", reagiert Gloss wild entschlossen, sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen. Der andere ist vielleicht ein Profi in Rhetorik. Aber er ist ein Meister.
„Es ist Antwort genug." Jimins Tonlage macht deutlich, dass das Gespräch für ihn an dieser Stelle beendet ist. Auf diese Art wird Gloss hier nicht weiterkommen.
Aber wenn du an einer Stelle auf eine Mauer triffst, dann heißt das niemals, dass du jetzt aufgeben darfst. Es heißt immer nur, dass du halt einen anderen Weg ausprobieren musst. Und er wäre nicht Gloss, wenn er nicht eben genau das ungehemmt tun würde, während Yoongi einen weiteren Buchstaben schwarz umrahmt.
„Erzähl mir vom Idol-Leben", fordert er ebenso offensiv wie das Tattoo. Aber seine forsche Art hat ihn eben schon nicht weitergebracht. Deswegen muss Agust jetzt aushelfen. Und er ergänzt ein leises „Bitte".
„Warum interessiert dich das?"
Zwar eine Frage für Gloss, die aber in diplomatischer Manier besser von Agust beantwortet werden sollte. Oder besser noch von Yoongi selbst, aber der traut sich noch nicht. Auch wenn er am besten darin ist, seinen Gesprächspartner nicht nur ungehemmt gegen den Kopf treten.
„Interessiert das nicht jeden?", antwortet Agust deswegen.
„Dann könntest du dir auch ein Interview von uns ansehen. Ich glaub, die Frage wurde oft genug gestellt." Jimins Haltung ist immer noch abweisend. Gloss ist eben zu brachial vorangestürmt und jetzt wurden die Schutzmauern verstärkt, anstatt fallengelassen zu werden. Du kannst nicht von jemandem erwarten, dass er dir dein Inneres offenbart, wenn du selbst nicht mit offenen Karten spielst.
Yoongi wischt die Antwort von Agust mit einem harschen Schnauben zur Seite. Hat denn keiner von ihnen mal gelernt ehrlich zu sein? Scheinbar ist das wohl sein Part.
„Die Rollenkartenantwort ist nicht das, was ich haben will. Ich brauch... was Ehrliches. Mehr Sein, weniger Schein, verstehst du? Ich war selbst mal an den Punkt... Aber... den letzten Schritt bin ich nie gegangen."
„Hast du dich nicht getraut?", fragt Jimin neugierig.
Und genau das ist es. Das ist die entscheidende Stelle. Manchmal müssen wir erst etwas über uns selbst Preis geben, bevor wir von unserem Gegenüber erwarten können, dass er etwas von sich selbst erzählt. Ein Gedankenvorschuss sozusagen. Vielleicht ist der noch mehr wert als ein Vertrauensvorschuss.
Ich erzähl dir was mich quält und dann erzählst du mir von deinen Monstern.
Denn meistens leiden wir doch beide. Nur niemand ist so mutig, dass auch noch zuzugeben.
„Ein Teil von mir war dafür – ein anderer dagegen", erklärt Yoongi zögerlich. Jetzt spricht er selbst und auch wenn es einen Moment gedauert hat, kommt es im Endeffekt nur darauf an, dass er immer wieder zu sich selbst zurückfindet.
„Der Teil dagegen war letztendlich stärker. Weil ich meine Träume... selbst leben wollte. Und mir kam es immer so vor, als müsste ich meinen Traum bei den großen Entertainmentindustrien verkaufen. Als wäre das der Preis dafür, dass ich ihn leben darf. Und... das war mir zu viel."
„Mhm", überlegt Jimin laut, ob der Gedankenvorschuss groß genug war, um nun sein eigenes Inneres nach außen zu kehren.
„Du verkaufst nicht deinen Traum", deklariert er schließlich mit einem endlos traurigen Lächeln auf rissigen Lippen, die schließlich unter der andauernden Bearbeitung seiner Zähne zu bluten begonnen haben.
„Du verkaufst dich selbst. Das ist der Preis, den du bereit sein musst zu bezahlen."
Never steht bis jetzt auf Jimins Haut geschrieben.
Und irgendwie weiß Yoongi plötzlich ganz sicher, warum er sich damals gegen Gloss durchgesetzt hat.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top