《• 4O •》
Es ist ein unauffälliger Oktobertag in der nächsten Woche, als ich meine Jeansjacke überziehe, nach meinem Portemonnaie greife und die Wohnung verlasse. Die Nachmittagssonne scheint mir ins Gesicht, als ich mich auf den Weg zum Supermarkt mache, um ein paar Sachen für meine Mutter zu besorgen.
Ich laufe gerade aus dem Haus und durch den kleinen Vorgarten, einen Schotterweg gesäumt von kleinen Buchsbäumen entlang, da taucht aus dem Nichts ein bekanntes Gesicht vor mir auf. Mein Magen zieht sich zusammen und Übelkeit steigt in mir auf.
Was in Allahs 99 Namen will er hier?
Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen und ich hatte ehrlich gesagt auch nicht vor, das zu ändern.
Er läuft zielstrebig auf mich zu, die Kapuze seines schwarzen Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Er sieht noch schlimmer aus, als bei unserer letzten Begegnung, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass das überhaupt möglich ist.
Er ist regelrecht abgemagert und blass. Er wirkt unrasiert und sogar gänzlich ungepflegt. Der einst bildhübsche junge Mann mit der schönen, karamellfarbenen Haut und den strahlend braunen Augen ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
Seine Augen sind glasig und gerötet. Sofort spüre ich, dass etwas nicht stimmt. "Shamsi", nuschelt Nael und ein unnatürliches Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus. "Ich habe dich so vermisst."
Nach all der Zeit den Kosenamen zu hören, den er mir einst aus Liebe gegeben hat, verpasst meinem Herzen einen Stich.
Bevor ich reagieren kann, packt er meinen Arm und zieht mich an sich. Seine Finger graben sich unangenehm in meine Haut, und ich rieche den stechenden Geruch von Alkohol und kaltem Qualm.
Ich stemme mich dagegen, doch habe keine Chance. Seine Berührungen sind unangenehm, sein Geruch widern mich an. Ich will das hier nicht.
"Lass mich los, Nael", sage ich fest und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er lässt nicht locker. "Was willst du überhaupt hier? Ich habe seit Ewigkeiten nichts von dir gehört."
"Ich musste dich sehen, Shalia", lallt er und seine Hand wandert über meinen Rücken. Nael hat mich oft so berührt, doch im Gegensatz zu früher ekelt mich seine Nähe mittlerweile an. "Jeder Tag ohne dich fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Mein Leben macht keinen Sinn mehr, seitdem du weg bist."
Mein Herzschlag beschleunigt sich, und Panik breitet sich in mir aus. "Nael, khallas, hör auf. Ich will das nicht. Geh weg von mir." Meine Stimme wird lauter, während ich erneut versuche, mich loszureißen.
Doch Nael scheint taub für meine Worte. "Wir sollten nochmal über alles reden", sagt er dringlich, fast flehend. "Bitte komm zurück zu mir, Shalia." Seine Stimme bricht.
Ich sehe mich verzweifelt nach Hilfe um, aber niemand ist in Sichtweite. "Nein, Nael. Es gibt nichts mehr zu reden. Wir haben tausendmal geredet. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Du bist für mich gestorben."
Er lacht bitter, verzweifelt. "Du verstehst es nicht", wiederholt er. "Wir gehören zusammen. Du kannst dich nicht einfach von mir trennen. Wir haben uns geschworen, dass wir heiraten werden und für immer zusammen bleiben."
Tränen steigen mir in die Augen. Ich fühle mich wie in einem Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Den Mann, den ich einst besser kannte als jeden anderen Menschen auf dieser Welt, erkenne ich nicht mehr wieder. Er ist so in einem Drogenrausch, er wirkt beinahe, als hätte er eine Psychose.
"Du machst mir Angst, verdammt. Lass mich endlich los!", schreie ich jetzt. Meine Nerven liegen blank.
Nael engt mich ein, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Er lässt mich nicht aus dieser Situation entkommen, dabei will ich einfach nur weg von ihm.
Es geht mir endlich wieder gut, nachdem ich so gelitten habe. Ich vermisse Nael nicht mehr, ich denke nicht mal mehr sonderlich oft an ihn, und jetzt wagt er es allen Ernstes hierhin zu kommen und mich um eine weitere Chance zu bitten?
Nael bleibt unbeeindruckt von meinem Geschrei. Seine Hände zittern und seine Augen sind undurchdringlich. "Nein, ich lasse dich nicht gehen", sagt er und drückt mich näher an sich. "Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen."
In diesem Moment höre ich das Geräusch eines Autos, das angefahren kommt. Zayns Auto.
Ich wende meinen Kopf und sehe ihn panisch und voller Hilflosigkeit an. Als sein Blick den meinen trifft, geht er voll in die Eisen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzt Essad und reißt simultan zu meinem Bruder ebenfalls alarmiert die Autotür auf.
Die beiden stürmen auf uns zu. Zayn erreicht uns zuerst und reißt Nael mit voller Wucht von mir.
"Bist du jetzt völlig durchgedreht?", schreit er mit hasserfüllter Stimme. Dann holt er aus und schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. Nael taumelt zurück, sein Hoodie rutscht von seinem Kopf, und für einen Moment scheint er benommen. Bevor er reagieren kann, trifft Zayns Faust ihn erneut.
"Lass. Meine. Schwester. In. Ruhe!", brüllt Zayn und schlägt mit jedem Wort erneut zu. Nael geht zu Boden, Blut läuft über sein Gesicht.
Panisch schreie ich auf und will dazwischen gehen, doch Essad hält mich zurück und zieht mich beschützend in seine Arme. Ich lehne mich haltsuchend an seine Schulter, meine Tränen fließen unaufhaltsam und mein ganzer Körper zittert vor Angst.
Essad hält mich fest, seine Stimme ist sanft und tröstend. "Du brauchst keine Angst mehr zu haben, ich bin bei dir", murmelt er beruhigend, während ich unkontrolliert weine. Mir ist das alles zu viel.
Ich klammere mich an ihn, unfähig, meine Tränen zurückzuhalten. "Essad, ich hatte so eine Panik", schluchze ich. "Ich dachte wirklich, er tut mir was an."
"Kann ich mir vorstellen", antwortet er und streicht mir sanft über den Rücken. "Aber jetzt ist es vorbei. Nael kann dir nichts mehr antun, Zayn kümmert sich um ihn."
Nael liegt am Boden und versucht, sich aufzurichten, aber Zayn stößt ihn wieder hinunter. "Wenn du dich meiner Schwester jemals wieder näherst, werde ich dich nicht mehr schlagen, dann bringe ich dich um, verstanden?", knurrt Zayn bedrohlich.
Nael schaut zu mir, seine Augen voller Verzweiflung und Schmerz. "Shalia, bitte..", beginnt er, doch Zayn unterbricht ihn sofort.
"Nein, nichts mehr "Shalia, bitte". Du hast genug gesagt", faucht er. "Verpiss dich aus unserem Leben und traue dich nie wieder, dich ihr zu nähern. Wallah, Nael, wahayat Allah, ich bringe dich mit meinen eigenen Händen um, und wenn ich dafür lebenslänglich in den Knast wandere."
Zayn tritt von Nael zurück. "Und jetzt mach dass du wegkommst", fordert er. Schwerfällig erhebt sich Nael und sucht ein letztes Mal meinen Blick. Seine hellbraunen Augen sind voller Schmerz und er tut mir fast schon wieder leid. Dann senkt er den Kopf, wendet sich von uns allen ab und geht.
Mein älterer Bruder tritt neben uns und schließt mich erleichtert in die Arme. Sein weißes T-Shirt ist voller kleiner Blutsprenkel und sein Herz rast. "Hat er dir was getan, Shalia?", fragt er zornig.
Ich schüttele den Kopf und wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke übers Gesicht. "Nein, er hat mich nur bedrängt und nicht mehr losgelassen, aber ich hatte echt Angst, dass er mich in seinem Wahn absticht oder so."
"Ich hätte ihm auch gerne noch auf die Schnauze gehauen", brummt Essad, seine Augen zu Schlitzen verengt.
"Glaub mir, der hat genug abgekriegt", entgegnet Zayn kalt.
Dann löst er sich vor mir und blickt auf seinen Wagen, den er auf der Straße vor unserem Haus einfach stehen gelassen hat.
Zayn lässt uns kurz alleine, um sein Auto umzuparken, da bricht der ganze Stress und die Panik über mich herein. Ich fange wieder an zu weinen, mein Herz schlägt immer schneller in meiner Brust.
"Shalia", spricht Essad mich an.
Das Atmen fällt mir schwerer und meine Beine geben plötzlich nach. Ich knicke ein, da fängt Essad mich im letzten Moment auf, greift mir unter die Schultern und zieht mich hilflos an sich.
Ein verzweifeltes Wimmern entweicht meinen Lippen und die Tränen strömen wieder unaufhaltsam.
"Ich kann einfach nicht mehr", sage ich zwischen meinen Schluchzern, meine Stimme voller Seelenschmerz. "Wallah, ich kann nicht mehr Essad."
Er drückt mich enger an sich, verschränkt seine Arme hinter meinem Rücken. Ich kralle meine Hände in seinen hellgrauen Pullover und sehe ihm in die Augen. "Ich will nur noch aus diesem Alptraum erwachen."
"Shalia", sagt Essad wieder. Seine Stimme ist unruhig. "Es ging dir doch gut. Lass dich von Nael nicht wieder runterziehen."
Ich schaue ihn flehend an, meine Augen voller Verzweiflung. "Ich kann das nicht mehr ertragen, Essad. Endlich bin ich wieder glücklich, da kommt der nächste Rückschlag."
"Du darfst das nicht an dich ranlassen. Nael ist krank. Blockier ihn überall, zieh dir gar nicht rein, wie er sein Leben vor die Wand fährt. Hör ihm nicht mehr zu, wenn er dich wieder belabern will. Streiche ihn aus deinem Leben, so als hätte er nie existiert."
Meine Atmung ist unregelmäßig, und ich versuche, mich an seinen Worten festzuhalten. "Ich versuche es doch schon die ganze Zeit."
Zayn kommt zurück, sein Gesicht liegt voller Sorge, als er mich so weinen sieht.
Er schüttelt nachdenklich den Kopf. "Ich werde ihm niemals verzeihen, was er dir angetan hat. Soll Allah ihm das verzeihen, ich kann es nicht."
Essad nickt beipflichtend. "Wenn er so weiter macht, wird er den früher treffen, als ihm lieb ist, ganz gleich ob er das mit seinen Drogen selbst schafft oder ich persönlich dafür sorgen muss."
Zayn wirft einen Blick auf seine Apple Watch, als die vibriert und eine Erinnerung aufblinkt. "Fuck, ich habe jetzt gleich einen Call mit meinem Spielerberater, das habe ich total vergessen. Wird nix mit Gym heute. Ich muss hoch."
Er wirft mir einen fragenden Blick zu. "Shalia, kannst du Essad eben nachhause fahren?"
"Klar", stimme ich zu und nehme den Autoschlüssel meines Bruders an mich, bevor er davon eilt. Mit den Ärmeln meiner Jeansjacke tupfe ich mein Gesicht trocken und atme tief durch, doch Essad reicht das nicht. "Was hältst du davon, wenn wir eine Runde spazieren gehen und du dich erstmal beruhigst? Ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn du in dem Zustand Auto fährst."
Ich bin einverstanden und wir spazieren Seite an Seite durch unser Viertel. Am Späti kaufen wir uns zwei Cola und setzen uns mit den eiskalten Dosen in ein kleines Parkstück.
Langsam merke ich, wie die Anspannung von mir abfällt. "Ich würde so gerne in den Urlaub fahren", seufze ich und lasse meinen Blick über die vielen bunten Blätter schweifen, die im Wind tanzen.
"Oh ja, das wäre schön. Irgendwo, wo es richtig warm ist und man den ganzen Tag am Strand rumliegen kann", fantasiert Essad mit mir zusammen. "Fünfmal am Tag am Buffet vollfressen und ab und zu zur Abkühlung ins Meer springen."
"Klingt wirklich himmlisch", pflichte ich ihm bei.
Wir bleiben viel länger als geplant im Park und quatschen. Die Sonne verschwindet bereits glutrot hinterm Horizont, als ich Essad nachhause bringe.
"Jetzt kann ich dich auch ohne schlechtes Gewissen alleine lassen", grinst er, als ich vor seinem Wohnhaus halte. Plötzlich wird er ernst. "Hast du morgen was vor?"
Ich überlege kurz und schüttele den Kopf.
"Kann ich dich um 9 Uhr abholen und den Tag mit dir verbringen?"
Er stellt die Frage so süß, dass ich gar nicht anders kann, als einzuwilligen.
"Lass mich raten - ich brauche Sportklamotten?"
Er lacht. "Keine Sorge, Couchpotatoe. Ich kann auch anders. Morgen lernst du eine ganz neue Seite von mir kennen."
"Klingt wie eine Drohung", feixe ich.
Essad zieht die linke Augenbraue hoch. "Habe ich dich jemals enttäuscht?"
Ich schüttele den Kopf. "Bisher nicht, also solltest du dich morgen lieber anstrengen." Ein schelmisches Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.
Essad zieht mich an sich und küsst mir auf die Wange, bevor er aussteigt. "Keine Sorge, eure Hoheit, auch morgen habe ich wieder ein fulminantes Unterhaltungsprogramm für Sie geplant."
Er muss selbst über seine eigenen Worte lachen. "9 Uhr morgen", sind seine letzten Worte, bevor er die Autotür zuschlägt.
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