《• 48 •》
"Nael?"
Ich starre wie gebannt auf den Chat, bis sich sein Status auf online ändert. Mein Herz klopft heftig gegen meine Brust, meine Finger zittern.
Da ist sie wieder, die Ungewissheit, die mich überkommt. Kurz denke ich an Essad. Hätte ich ihm sagen müssen, dass ich Nael schreibe?
Vielleicht. Aber irgendwie plagt mich das Gefühl, das mit mir selbst ausmachen zu müssen. Mit mir und mit Nael.
Ich muss diesen Schritt gehen, um wirklich mit der Vergangenheit abzuschließen.
Ich starre auf den Bildschirm, während die drei Punkte erscheinen, die anzeigen, dass er tippt. Mein Herz schlägt schneller, und ich frage mich wieder, ob ich das Richtige tue.
Was, wenn er gar nicht mir mir reden will? Wenn der Brief sein Abschluss war?
"Shamsi, ich hätte nicht damit gerechnet, dass du mir schreibst.."
"Ich habe deinen Brief bekommen. Danke für deine Worte, sie haben mich sehr berührt. Ich habe mich oft gefragt, wie es dir geht. Schön zu hören, dass es besser wird und du dir Hilfe gesucht hast. Es tut mir leid, dass ich dir damals nicht geholfen habe, sondern dich alleine gelassen habe."
Ich schreibe ungefiltert, was mir durch den Kopf geht und schicke die Nachricht ab. Die drei Punkte erscheinen wieder, und ich halte vor Nervosität den Atem an.
"Du musst dich nicht entschuldigen, Shamsi. Dich trifft keine Schuld. Mir tut das alles leid, was passiert ist. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen."
"Ich würde dir gerne verzeihen, Nael, aber ich habe noch so viele Fragen in meinem Kopf."
"Wenn du möchtest, können wir uns treffen, dann beantworte ich sie dir alle."
Seufzend starre ich an die Decke. Ich würde mich gerne mit ihm treffen. Antworten auf meine Fragen zu erhalten klingt verlockend. Aber ich habe auch Angst davor, was es in mir auslöst, Nael zu treffen. Dass er mich immer noch liebt, hat er in seinem Brief klargemacht. Ich hingegen liebe Essad, doch welche alten Gefühle hochkommen, wenn Nael vor mir steht, und wir gemeinsam unsere Vergangenheit beleuchten, kann ich nicht einschätzen.
Apropos Essad. Der wird von diesem Vorhaben auch überhaupt nicht begeistert sein - verständlicherweise.
Unsicher kaue ich auf meiner Unterlippe herum und wäge Pro und Contra gegeinander ab. Minutenlang sitze ich wie erstarrt von dem kleinen Bildschirm meines Smartphones und zermatere mir das Hirn, bis ich meine Entscheidung getroffen habe.
Ich bin mir nicht sicher, ob es die richtige ist, aber es ist die einzige, die für mich in Frage kommt.
Buchstabe für Buchstabe tippe ich in mein Handy. "Okay. Wann und wo?"
...
Am nächsten Nachmittag stehe ich nervös vor dem kleinen Café, das Nael für unser Treffen vorgeschlagen hat. Die Sonne scheint, die ersten Vögel beginnen nach der Winterruhe wieder hell und freudig zu zwitschern, die ersten Krokusse und Narzissen blühen am Straßenrand. Der Frühling kommt, das ist nicht zu übersehen.
Ich spüre, wie eine Mischung aus Adrenalin und Anspannung durch meinen Körper rauscht.
Mit unsicheren Schritten laufe ich in das Innere des Bistros mit französischer Aufmachung. Das warme Licht wirft sanfte Schatten auf die gemusterten Tapeten und die dunklen Holzmöbel. An den Wänden hängen Bilder von Pariser Straßenszenen, die dem Raum eine nostalgische Atmosphäre verleihen. Ein leichter Duft von frisch gebackenem Baguette und geröstetem Kaffee liegt in der Luft, während im Hintergrund leise Chansons spielen. Die Tische sind mit karierten Tischdecken bedeckt, und die gedämpfte Geräuschkulisse von leisen Gesprächen und klirrendem Geschirr schafft eine einladende, gemütliche Stimmung.
Ich sehe mich suchend um, während ich meinen schwarzen, leichten Mantel öffne und entdecke Nael an einem Tisch in der Ecke.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, als seine honigbraunen Augen auf meine treffen.
Er sieht gut aus. Seine Haut ist gebräunt, seine Wangen rosig, seine Augen strahlen wieder. Man sieht ihm an, dass es ihm besser geht. Er sieht irgendwie gesund aus. Fast wieder, wie mein Nael, den ich so geliebt habe, nur noch etwas dünner.
Er steht auf und kommt mir entgegen. Kurz zögert er, dann schließt er mich wortlos in die Arme. Ich lasse ihn gewähren, ohne groß darüber nachzudenken. Es fühlt sich einfach richtig an. Sein signifikantes Parfum strömt mir in die Nase, mein Kopf sinkt beinahe von selbst an seine Schulter. Ich schließe die Augen, blende alles um uns herum aus und verliere mich in der Umarmung, die mich zurück ins Jahr 2011 katapultiert. Damals, als noch alles gut war.
Niemals hätte ich gedacht, dass wir so enden.
"Schön, dich zu sehen", flüstert er und gibt mich wieder frei. Ich folge ihm zu dem kleinen, runden Tisch und setze mich ihm gegenüber. "Du siehst gut aus." Er schenkt mir ein ehrliches Lächeln.
Ich ewidere es. "Du auch. Endlich wieder."
Er nickt traurig. "Ich sah ganz schön scheiße aus, wie der Tod auf Latschen, aber so habe ich mich auch gefühlt. Jetzt geht es mir zum Glück besser und das sieht man auch."
"Alhamdulillah", flüstere ich leise. "Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht. Zwischendurch dachte ich, du bist tot."
"War auch 'ne knappe Nummer", gibt er zu. "Ich bin dem Todesengel gerade nochmal entkommen, nachdem er mich schon begrüßt hat."
Ich schlucke schwer. "Was ist denn genau passiert?"
Er senkt den Blick und seufzt. In seinen Augen liegt ein Cocktail aus Schuld, Scham und Schmerz. "Ich hatte eine Überdosis. Ich habe gar nicht so viel gebommen, aber ich habe irgendein gepanschtes Zeug erwischt, und mein Körper hat das nicht verkraftet. Nach all der Scheiße, die ich ihm zugemutet habe, war das eine Nummer zu viel. Ich hatte einen Herzstillstand, sie haben mich noch im Krankenwagen reanimiert. Das war der Wendepunkt für mich. Ich wusste, dass ich so nicht weiterleben konnte. Dass ich wahrscheinlich bald gar nicht mehr leben würde, wenn ich so weitermache. Ich habe mir immer gesagt, dass ich nichts mehr zu verlieren habe, nachdem ich dich verloren habe, aber diese Nahtoderfahrung hat mich eines besseren gelehrt. Ich hatte plötzlich Angst. Ich lag da in diesem Krankenhausbett, überall an meinem Körper Schläuche, und ich habe realisiert, dass es so viel gibt, was ich noch erleben möchte. Ich möchte reisen, was von der Welt sehen. Australien, Dubai, Bali. Ich will tauchen lernen und einem weißen Hai begegnen, das war schon immer mein Traum. Und vor allem will ich nicht, dass meine Mutter mich zu Grabe tragen muss. Kein Elternteil sollte das tun."
Seine Stimme bricht immer wieder, seine Augen glänzen feucht.
Mich überkommt der Impuls nach seiner Hand zu greifen, doch ich gebe ihm nicht nach. Stattdessen streiche ich aufmunternd über seinen Oberarm.
"Und dann hast du dich entschieden, dich deinem Problem zu stellen?"
Er nickt zufrieden. "Ich habe mich gleich im Krankenhaus an einen Sozialarbeiter gewandt. Er hat dafür gesorgt, dass von der Intensivstation direkt in eine Klinik konnte, um einen Entzug zu machen. Seit der durch ist, bin ich in stationärer Therapie, seit zwei Monaten ungefähr. Die Therapeuten haben mir geholfen, vieles zu erkennen und aufzuarbeiten. Es war ein harter Weg, ich habe noch nie in meinem Leben so viel geheult, aber ich bin froh, dass ich ihn gegangen bin, auch wenn ich noch lnahe nicht am Ziel bin.
Wenn ich entlassen werde, will ich Deutschland erstmal verlassen. Ich nehme die restliche Kohle, die Næzir mir gebracht hat und gehe reisen. Ich will sie auf den Kopf hauen und alles hinter mir lassen, was mit ihm zu tun hat. Ich gehe wortwörtlich auf die große Reise zu mir selbst und versuche, mich zu finden, nachdem ich mich selbst so verloren habe."
In dem Moment tritt eine Kellnerin an unseren Tisch und unterbricht uns, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Als sie wieder geht, sucht Nael meinen Blick.
"Was ist mit dir, Shamsi? Wie geht es dir?" Diesen Kosenamen nach all der Zeit aus seinem Mund zu hören fühlt sich merkwürdig an. Vertraut und fremd zur gleichen Zeit.
Ich straffe die Schultern. "Mir geht es gut. Unsere Trennung und dein Absturz haben mir sehr zugesetzt. Ich habe monatelang gelitten, geweint, getrauert. Um dich und um uns. Es fiel mir schwer dich aufzugeben, nachdem ich nie an uns gezweifelt habe."
"Und jetzt bist du mit Essad zusammen", stellt er fest und lacht ein heiseres Lachen, so schmerzvoll, dass es mir wehtut.
Ich nicke. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll, ohne Nael unnötig zu verletzen.
"Bist du glücklich mit ihm?"
Seine hellbraunen Augen fixieren mich. Ich halte seinem Blick nicht stand und wende mich ab. Unruhig betrachte ich die rote Blockkerze in der Mitte des Tisches, während ich ihm antworte. "Ich bin sehr glücklich, ehrlich gesagt. Ich habe bei Essad die Beziehung gefunden, die ich mir gewünscht habe. Ich habe dich sehr geliebt Nael, du wirst auch für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, aber mit Essad ist es einfach was anderes."
Tränen laufen über meine Wangen, während ich sehen kann, dass meine Worte ihm das Herz brechen.
"Ich habe dich aber nie mit Essad betrogen. Es ist mir wichtig, dass du das weißt, auch wenn du mir damals nicht geglaubt hast."
"Ich weiß es jetzt", sagt er leise. "Es war mein eigener Wahnsinn, der mich das glauben ließ. Ich habe mich so auf Essad eingeschossen, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass ich das Problem bin. Es tut mir leid, dass ich dich damit verletzt habe. Mir tut das alles leid, was ich dir angetan habe. Ich weiß, dass ich dir viel Unrecht getan habe und dir viel Schmerz zugefügt habe. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, ich kann dich nur um Vergebung bitten. Dich verloren zu haben ist ohnehin die größte Strafe, die ich hätte bekommen können. Aber ich freue mich, dass du glücklich bist. Das hast du verdient."
Wir schweigen eine Weile, ich tupfe meine tränennassen Wangen mit einer der roten Papierservietten trocken und spüre, wie sich eine seltsame Ruhe über mich legt, als ob die Worte, die wir austauschen, mir endlich den Abschluss bringen, den ich brauchte.
Unsere Getränke kommen und ich nippe an dem köstlichen Cappuccino, den ich bestellt habe.
Dann sehe ich Nael wieder an. Ich fühle, wie die Anspannung langsam von meinen Schultern abfällt. Wir haben so viel gemeinsam durchgemacht, und obwohl die Vergangenheit mindestens genauso schmerzlich wie schön war, spüre ich, dass dieses Gespräch etwas heilen kann.
"Nael, ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass du krank warst und dass deine Handlungen oft von der Sucht getrieben wurden. Es war wahrscheinlich nie deine Absicht, mich zu verletzen. Aber seit ich das verstanden habe, habe ich dir verziehen. Ich habe gelernt weiterzumachen, und das wirst du auch."
Er nickt langsam und kämpft sichtbar mit seinen Gefühlen. "Shukran, Shalia. Deine Vergebung bedeutet mir mehr, als du dir vorstellen kannst."
Wieder schweigen wir gemeinsam, hängen beide unseren Gedanken nach.
"Wie lange wirst du in der Klinik bleiben?" frage ich schließlich.
"Ich weiß es noch nicht genau", antwortet er. "Es hängt davon ab, wie gut ich vorankomme. Aber ich habe keine Eile. Ich will sicherstellen, dass ich wirklich bereit bin, bevor ich entlassen werde."
Ich nicke zustimmend. "Das ist die richtige Einstellung. Und deine Pläne danach klingen großartig. Reisen, neue Erfahrungen, dich selbst finden – das alles wird dir gut tun."
Nael lächelt schwach. "Ja, ich hoffe es. Ich will diese zweite Chance nutzen. Für mich und für die Menschen, die ich liebe. Auch wenn du und ich nicht mehr zusammen sind, wirst du immer ein Teil von mir bleiben."
Ich erwidere sein Lächeln, fühle mich gleichzeitig traurig und erleichtert. "Das werde ich auch, Nael. Unsere gemeinsame Zeit kann uns keiner nehmen, auch wenn sie nicht unendlich war."
Wir sitzen noch eine Weile da, plaudern über dies und das, bis unsere Getränke leer sind und der Zeitpunkt gekommen ist, Abschied zu nehmen.
Wir verlassen gemeinsam das Café und bleiben kurz unschlüssig voreinander stehen. Diesmal bin ich es, die die Initiative ergreift. Ich schlinge meine Arme um seinen Bauch und umarme ihn fest.
Diese Umarmung ist anders als die erste. Sie ist voller Bedeutung, voller Abschied und gleichzeitig voller Vergebung. Ich spüre seine Wärme, seinen Herzschlag, und ich weiß, dass dies der letzte Moment ist, den wir so teilen werden.
Ein letztes Mal inhaliere ich seinen vertrauten Duft, spüre seinen schlanken Körper an meinem.
Ich bin bereit, ihn gehen zu lassen.
Für immer.
Er löst sich ein wenig von mir und küsst mich sanft auf die Wange. "Ich wünsche dir alles Gute, Shalia. Du verdienst nur das Beste im Leben."
"Ich wünsche dir auch nur das Beste, Nael," flüstere ich und ich meine es so. "Irgendwann, wenn du die Welt entdeckt hast, sehen wir uns wieder und dann werden wir beide glücklich sein. Versprochen."
Er lächelt ein ehrliches, hoffnungsvolles Lächeln. "Ja, das hoffe ich auch. Pass auf dich auf, Shamsi."
Ich nicke, die Tränen stehen mir schon wieder in den Augen, während mein Mund ein Lächeln formt. Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. "Du auch, Nael."
Mit diesen Worten lassen wir uns los und gehen. Er geht in die eine Richtung, ich in die andere. Was für ein Sinnbild für diesen Abschied.
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