《• 47 •》

- 2014 -

"Shalia, hier, der ist für dich", ruft meine Mutter, als sie gerade die Post sortiert. Überrascht drehe ich ihr den Kopf zu. "Vielleicht noch eine Antwort auf deine Bewerbungen."

Der Schulabschluss rückt immer weiter in greifbare Nähe und ich verschicke bereits seit Wochen immer wieder Bewerbungen und Lebensläufe für einen Ausbildungsplatz ab diesem Sommer, bis jetzt jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Es ist erst März, trotzdem macht mich das Thema zunehmend verrückt. Zwei Bewerbungsgespräche hatte ich bereits, bei einer örtlichen Bank und einer Versicherung. Da ich immer noch nicht weiß, was ich machen will, habe ich mich recht wahllos überall beworben, und auch ein Studium habe ich für mich noch nicht kategorisch ausgeschlossen.

Essad ist deutlich weiter als ich. Er hat bereits seit Monaten einen Ausbildungsvertrag zum Sport- und Fitnesskaufmann in einem Berliner Fitnessstudio unterschrieben. Für ihn der nächste logische Schritt, um seine Leidenschaft, das Boxen, zum Beruf zu machen, ob als Coach, Personaltrainer oder irgendwann mit seinem eigenen Studio.

Der Gedanke an ihn lässt mich lächeln. Er ist der tollste Mann den ich kenne: liebevoll, einfühlsam, bemüht, lustig, lebensfroh, entspannt. Die Zeit mit ihm ist wunderschön, das hat sich in den letzten Monaten nicht verändert - im Gegenteil: es wird gefühlt immer noch schöner mit ihm.

Mittlerweile haben sich auch meine Eltern damit abgefunden. Ich weiß, dass Ihnen der traditionelle, gebundene Weg mit Nael damals besser gefallen hat, aber mich macht Essad glücklich und zwar genauso, wie es ist und das lernen sie Schritt für Schritt zu akzeptieren.

Als ich den Brief in die Hand nehme, erstarre ich. Mein Herz setzt aus, meine Kehle schnürt sich zu und meine Finger verkrampfen.

Der Brief hat keinen Absender, doch ich erkenne die Schrift. Ich würde sie unter tausenden erkennen.

Es ist das erste Lebenszeichen von ihm seit Monaten, seit Oktober, um genau zu sein. Zwischenzeitlich dachte ich des öfteren, er sei tot. Einzug und allein die Tatsache, dass mich wohl jemand über seinen Tod informiert hätte, sprach dagegen, alles andere dafür. Er war komplett untergetaucht.

Mit wackeligen Beinen gehe ich in mein Zimmer. Zitternd greife ich nach meinem Handy und wähle wie ferngesteuert Essads Nummer. Es wählt nur kurz, dann geht er ran.

"Er hat mir einen Brief geschrieben", falle ich mit der Tür ins Haus.

"Wer denn, Schatz?", hakt er nach.

"Nael."

Kurz herrscht Stille.

"Okay, und was schreibt er?"

"Ich habe keine Ahnung, ich habe ihn noch nicht geöffnet."

"Willst du ihn denn öffnen oder nicht?", seine Stimme ist ruhig und melodisch.

"Ich weiß es nicht", ich beiße mir verzweifelt auf die Unterlippe. "Es interessiert mich schon, was er mir nach so langer Zeit zu sagen hat. Andererseits will ich auch keine alten Wunden aufreißen."

"Mh", seufzt Essad. "Klingt nach einer schwierigen Entscheidung."

"Was würdest du an meiner Stelle tun?"

Ich lasse mich bäuchlings auf mein weiches Bett fallen.

"Ich würde ihn natürlich lesen", gibt er lapidar zurück, so als sei das kein Big Deal.

Doch für mich ist das nicht so einfach. Auch wenn ich gut über Nael hinweg gekommen bin, liegt das maßgeblich auch daran, dass er völlig von der Bildfläche verschwunden ist. Ich habe ihn nie wieder gesehen oder von ihm gehört.

Ich habe Angst davor, dass er in dem Brief meine wunden Punkte trifft. Ich kann nicht verleugnen, dass er mich gut kennt. Ich hingegen kann Nael an diesem Punkt gar nicht mehr einschätzen. Es liegt mehr als ein halbes Jahr zwischen unserem letzten, richtigen Gespräch, bei dem er nicht völlig auf Drogen war. Keine Ahnung, was all die Betäubungsmittel und die Trennung seither aus ihm gemacht haben. Vielleicht hat er auch einen totalen Hass auf mich und will mich mit seinen Worten einfach nur verletzen?

Ich drücke meinen Kopf in mein Kissen.

"Mach dich doch nicht so verrückt, Babe. Wenn du den Brief nicht liest, wirst du dich immer fragen, was drin gestanden hat. So viel Macht sollte Nael nicht über dich haben. Aber wenn du magst, kann ich den Brief auch zuerst für dich lesen und dir dann sagen, was du zu erwarten hast", bietet er fürsorglich an.

Ich atme tief durch. "Danke, aber ich denke, ich muss da alleine durch. Du hast Recht, ich sollte ihn einfach lesen. Nael hat die letzten Monate absolut keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt. Ich werde mir jetzt durchlesen, was er mir zu sagen hat und dieses Kapitel meines Lebens danach wieder schließen."

Essad schnalzt am anderen Ende der Leitung mit der Zunge. "Das klingt doch nach einem guten Plan. Wenn du danach reden willst, ruf mich an. Ana bahebak."

Einmal mehr weiß ich, wieso ich diesen Mann so sehr liebe. Er entscheidet für mich, und nicht für sein Ego. Die meisten anderen Männer wären wohl durchgedreht vor Eifersucht, wenn die Freundin einen mysteriösen Brief von ihrer ersten Liebe, ihrem Ex-Verlobten bekommt, doch Essad ist so gefestigt in seiner Persönlichkeit und mittlerweile auch in unserer Beziehung, dass ihn das nicht aus der Bahn wirft.

Ich verabschiede mich und lege mein Handy beiseite. Noch einmal atme ich tief durch, dann öffne ich das Kuvert langsam mit meinen Fingern und ziehe ein beidseitig beschriebenes Blatt heraus.

Seine Handschrift ist krakelig wie eh und je, doch ich kann sie problemlos entziffern.

《...》

Hallo Shamsi,

Du bist wahrscheinlich ziemlich verwundert, dass ich dir plötzlich schreibe. Vor einigen Wochen hätte ich selbst nicht daran geglaubt, und um ehrlich zu sein war dieser Brief auch nicht meine Idee.

Ich bin seit Anfang des Jahres in einer Suchtklinik. Nachdem ich mich mit irgendeinem gepanschten Zeug fast umgebracht habe, habe ich es zum Glück noch rechtzeitig geschafft, die Reißleine zu ziehen. Rechtzeitig für mein Leben, aber viel zu spät für unsere Beziehung. Du hast schon früh erkannt, dass ich ein ernsthaftes Problem habe, aber ich habe es nicht gedehen. Vielleicht wollte ich es auch nicht sehen. Bis ich irgendwann nach einer Reanimation im Krankenhaus aufgewacht bin. Anfang des Jahres habe ich in der Klinik einen Entzug gemacht und bin nun in stationärer Therapie.

Eine Aufgabe, die wir hier in der Therapie haben, ist, uns mit der Schuld auseinanderzusetzen, die wir uns durch die Drogen aufgeladen haben. Was wir den Menschen, die wir lieben, durch unsere Sucht zugemutet haben. Ich weiß, dass ich niemanden so verletzt habe, wie meine Mutter und dich.

Ich will dich nicht belästigen, jetzt, wo du es wahrscheinlich endlich geschafft hast, ohne mich weiterzumachen. Ich weiß ja auch, dass du jetzt mit Essad zusammen bist. Trotzdem muss ich dir diesen Brief schreiben, damit ich mit dir abschließen kann.

Es tut mir leid, dass ich dich so krank gemacht habe mit der ganzen Scheiße. Ich wollte dich nie verletzen, das schwöre ich. Ich habe dich immer geliebt, das tue ich bis heute. Ich habe nicht in einer Sekunde aufgehört dich zu lieben und ich werde es vielleicht auch niemals tun. Trotzdem muss ich dich gehen lassen.

Shalia, du bist das Beste, was mir je passiert ist. Es tut mir leid, dass ich dich so oft nicht zu schätzen wusste. Es tut mir leid für jede Sekunde, die ich dich alleine gelassen habe. Ich weiß, dass ich dich viel zu oft für selbstverständlich genommen habe, während mein Fokus nur bei mir selbst lag. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich es anders machen.

Ich weiß, dass ich dein Herz gebrochen habe, und das bereue ich am meisten. Du hast ein Herz aus Gold und hast das nicht verdient. Nichts von dem, was passiert ist, war deine Schuld. Ich hoffe, du kannst mir das alles irgendwann verzeihen.

Dass du gegangen bist, war die richtige Entscheidung, auch wenn ich daran beinahe zerbrochen bin. Ich musste erst ganz unten ankommen, um zu realisieren, dass ich ein Problem habe. Du hast mir wahrscheinlich sogar das Leben damit gerettet. Du musstest das tun, sonst wären wir beide kaputt gegangen. Ich habe dich immer weiter mit mir in den Abgrund gezogen und ich schäme mich dafür zu Tode.

Wie gesagt, ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.

Und ich hoffe, du bist nur noch glücklich in deinem Leben.

Wann immer du mit mir reden willst, werde ich da sein.

Für immer.

Nael

《...》

Tränen laufen über meine Wangen, und ich lese den Brief dreimal, bis ich das Gefühl habe, jedes Wort verstanden zu haben. Die Zeilen von Nael berühren mich tief, und obwohl ich versuche, ruhig zu bleiben, spüre ich, wie der alte Schmerz wieder hochkommt. Die Erinnerungen lösen so viele Gefühle in mir aus und ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen der Vergangenheit und meiner Gegenwart.

Der Brief in meinen Händen scheint schwerer zu werden, während ich ihn wieder und wieder lese.

Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Traurigkeit breitet sich in mir aus. Erleichterung, dass Nael endlich erkannt hat, was er falsch gemacht hat, und dass er den Mut gefunden hat, sich seinen Dämonen zu stellen. Traurigkeit, weil unsere Beziehung, die einst so vielversprechend begann, so tragisch endete.

Ich lege den Brief auf meinen Nachttisch und wische mir die Tränen ab. Ich muss mich darauf konzentrieren, was wirklich zählt - meine Gegenwart und meine Zukunft. Mit Essad. Ohne Nael.

Wieder nehme ich mein Handy und wähle Essads Nummer. Er nimmt sofort ab.

"Nael hat sich wirklich bei mir entschuldigt", sage ich, meine Stimme immer noch leicht zitternd. "Er hat einen Entzug gemacht und ist in Therapie. Er hat geschrieben wie sehr er das alles bereut und dass er hofft, dass ich ihm irgendwann vergeben kann."

"Das ist doch gut, Shalia. Vielleicht könnt ihr jetzt beide endgültig damit abschließen."


"Ja, das denke ich auch. Es war schmerzhaft, den Brief zu lesen, aber es hat mir auch geholfen. Ich bin froh, dass er den Mut gefunden hat, mir zu schreiben."

"Das freut mich zu hören", sagt Essad sanft.

"Danke, Essad. Ich liebe dich."

Es ist für mich nicht selbstverständlich, dass er das Ganze so gelassen nimmt. Mittlerweile kenne ich seine Meinung über Nael und weiß, was er Essad angetan hat. Dass er trotzdem bis heute keine schlechtes Wort über Nael verliert und unsere gemeinsame Geschichte als Teil meines Lebens anerkennt, rechne ich ihm hoch an und zeugt von seinem guten Charakter.

"Ich liebe dich auch, Shalia."

Das tut er wirklich, daran hat er mich nie zweifeln lassen.

Nachdem ich aufgelegt habe, fühle ich mich seltsam. Der Brief hat mich aufgewühlt, aber er hat mir auch die Chance gegeben, endlich abzuschließen. Es ist Zeit, nach vorne zu schauen, nicht zurück.

Trotzdem habe ich in den nächsten Tagen doch mehr daran zu knabbern, als ich möchte.

Immer wieder lese ich die handschriftlichen Zeilen, analysiere sie, hinterfrage jedes einzelne Wort.

Je mehr ich mich damit befasse, desto mehr Fragen tun sich auf.

Wieso musste Nael reanimiert werden? Was genau ist passiert? Wie geht es ihm heute? Hat er Schäden davon getragen?

Weiß er heute, dass ich ihn nie mit Essad betrogen habe? Oder fühlt er sich durch meine Beziehung zu ihm in seinem Verdacht bestätigt? Und was hält er überhaupt davon? Hasst er mich dafür?

Drei Tage lang zerbreche ich mir den Kopf in jeder freien Minute, bis ich einen Entschluss fasse.

Ich habe nie ein richtiges, abschließendes Gespräch mit Nael geführt. Wir konnten uns nie verabschieden. Aber ich brauche das, das ist mir in den letzten Tagen durch seinen Brief bewusst geworden. Auch, wenn ich jeden Gedanken an ihn in der letzten Zeit konsequent verdrängen konnte, zeigt mir meine Reaktion auf den Brief, dass es noch einiges aufzuarbeiten gibt.

Meine Finger klicken wie ferngesteuert auf seinen Chat. Ich habe ihn blockiert und archiviert, aber nie gelöscht.

Meine Finger zittern, als ich den Kontakt wieder freigebe.

"Nael?"

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