《• 42 •》
Nachdem wir uns von dem überraschenden Kuss gelöst haben, sitzen wir eine Weile friedlich schweigend nebeneinander. Die Sonne beginnt langsam, am Horizont unterzugehen, taucht den Himmel in warme Gold- und Orangetöne. Essad steht auf und streckt sich, dann bietet er mir seine Hand an.
"Lass uns noch was essen gehen, bevor wir zurück fahren," schlägt er vor. "Das Restaurant da vorne sieht gut aus."
Wir schlendern gemeinsam die Promenade entlang, der Wind weht sanft. Essad und ich haben keine Eile, wir genießen die ruhige Atmosphäre und die Nähe zueinander, bis wir das kleine Restaurant erreichen, das direkt am Strand liegt. Es ist ein gemütlicher Laden, mit Holztischen und Korbstühlen im Sand, zahlreichen Windlichtern, die in der beginnenden Dämmerung leuchten, und einem herrlichen Blick aufs türkisblaue Meer.
Die Speisekarte bietet eine gute Auswahl an frischen Fischgerichten und regionalen Spezialitäten. Essad bestellt eine gegrillte Dorade, während ich mich für einen Salat mit Garnelen entscheide.
Das Essen ist köstlich und wir unterhalten uns entspannt. Die Stimmung zwischen uns ist leicht und unbeschwert. Immer wieder mischt sich das Kreischen der Möwen und das Rauschen der Wellen unter unsere Stimmen. Es fühlt sich wirklich an wie Urlaub - wenn auch nur für einen Tag.
Ich beobachte, wie er sich lächelnd zurücklehnt, zufrieden und selig. Ich kann immer noch nicht glauben, wie gut wir uns verstehen, wie sehr ich seine Gesellschaft genieße und wie einfach alles mit ihm ist.
So beschissen das alles mit Nael gelaufen ist, umso dankbarer bin ich, dadurch Essad an meiner Seite zu haben.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen und die Sterne beginnen am Himmel zu funkeln, als wir uns auf den Weg zurück zum Auto machen. Die Nachtluft ist kühl und Essad legt seine Jacke über meine Schultern, um mich zu wärmen. Ich lehne meinen Kopf an ihn und genieße die vertraute Nähe.
Die Rückfahrt nach Berlin ist ruhig. Wir reden wenig, jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. Essad hält meine Hand fest, während ich aus dem Fenster schaue und die vorbeiziehende Landschaft betrachte.
Nach meinem überraschenden Kussüberfall am Nachmittag ist es dabei geblieben, doch als wir vor meiner Haustür parken, ist es Essad, der die Initiative ergreift und mich an sich zieht. Er sieht sich kurz prüfend um, um sicherzustellen dass wir nicht beobachtet werden, dann legt er seine Hände sanft an meine Wangen und küsst mich.
Seine Lippen fühlen sich gut auf den meinen an - weich, zärtlich, vertraut.
Ich schenke ihm ein ehrliches Lächeln. "Danke, Essad. Unser Tagesurlaub hat richtig gut getan. Sowas schönes hat noch niemand für mich getan."
Er erwidert mein Lächeln und hebt meine Hand an seine Lippen, um einen sanften Kuss darauf zu drücken. "Ich fand es auch sehr schön mit dir, Shalia."
"Ich wünschte, wir könnten solche Tage öfter haben", wispere ich leise.
"Werden wir", antwortet Essad überzeugt. "Ich verspreche es dir."
Ich zögere nicht länger, beuge mich zu ihm und küsse ihn erneut, diesmal etwas länger und intensiver. Als wir uns lösen, leuchten seine Augen, und ein breites Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. "Tisbah ala khair."
"Gute Nacht, Essad," flüstere ich, bevor ich aussteige und zur Haustür gehe. Ich sehe ihm nach, wie er langsam davonfährt, bis die Rücklichter seines Wagens in der Ferne verschwinden.
Mein Herz ist ganz voll von diesem schönen Tag, meine Gedanken sind klar und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich rundum glücklich und zufrieden.
Essad hatte Recht: es bringt nichts, etwas zu forcieren. Alles wird kommen wie es soll. Es reicht, darauf zu vertrauen, dass Allahs Plan etwas gutes für uns bereit hält.
...
In den folgenden Wochen vertiefte sich meine Verbindung zu Essad. Jede gemeinsame Stunde, jeder Blick und jedes Lächeln brachten uns näher zueinander. Wir verbrachten weiterhin viel Zeit miteinander, unsere Beziehung blieb ungezwungen und frei von den üblichen Beziehungsdefinitionen, was vor allem mir ermöglichte, Essad ohne Druck näherzukommen.
Er überraschte mich immer wieder mit spontanen Ausflügen, wir gingen Tennis spielen, zum Minigolf oder shoppen. Wir aßen Sushi, riesige Eisbecher oder authentische, amerikanische Burger. Und selbst, wenn wir nur mit dem Auto umherfuhren und lautstark Musik hörten, oder in einem Park spazieren gingen, hatten wir eine gute Zeit.
Wir küssten uns zwar manchmal, aber diese innigen Momente blieben wenige. Essad hielt sich stets zurück. Er hatte mir versprochen, es langsam anzugehen und daran hielt er sich.
An diesem klaren, kalten Novembertag nimmt Essad mich direkt nach der Schule mit. Wir sind schon öfter gemeinsam in seinem Boxclub gewesen und haben gemeinsam trainiert. Es macht mir Spaß, mich auszupowern und an meine Grenzen zu gehen und Essad macht es Spaß, mich zu unterrichten. Er geht richtig in seiner Rolle als Lehrer auf und irgendwie ist das unser Ding geworden.
Heute wollen wir wieder eine Stunde zusammen trainieren, bevor Essad selbst Training hat. Er hat in zwei Wochen seinen nächsten Kampf und weil er unbedingt will, dass ich zuschaue, dachte er, ich könnte zur emotionalen Vorbereitung schon mal seinem Training zuschauen.
"Ich habe ein kleines Problem", verkündet er und grinst schief. "Ich muss kurz zuhause vorbei. Meine Mum hat mir geschrieben, dass ich meine Bandagen zuhause vergessen habe. Sie hat die gewaschen und ich habe die nicht eingepackt, aber ich brauche die gleich."
"Kein Problem", antworte ich und schnalle mich auf dem Beifahrersitz seines BMW an.
Wenige Minuten später parkt Essad vor einem hübschen Mehrfamilienhaus, das nicht in Neukölln, sondern im benachbarten Stadtteil Treptow liegt. Es ist ein hoher Altbau mit vier Etagen und tiefen Fenstern. Die Fassade ist irgendwas zwischen eierschalenbeige und hellgelb, der schmale Vorgarten gepflegt.
Essad zögert, dann legt er den Kopf schief. "Willst du vielleicht mitkommen?"
"In eure Wohnung? Ist denn niemand da?"
"Doch, meine Mutter, und Elissa bestimmt auch."
Ich mustere prüfend sein Gesicht, um zu erkennen, ob er das ernst meint, oder ob ich irgendein Anzeichen von Ironie in seinem Gesicht erkenne, doch Fehlanzeige. Seine dunkelbraunen Augen ruhen ruhig auf mir, sein Blick ist eindringlich.
Er merkt, dass ich zögere und kurz blitzt etwas wie Enttäuschung in seinem Gesicht auf, bevor er sich abschnallt. "Musst du aber nicht. Ich gehe schnell alleine. Ich beeile mich."
Ich greife nach seiner Hand und halte ihn zurück. "Weiß deine Mutter von mir?"
"Natürlich." Er zuckt mit den Schultern.
Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus.
"Ich habe ihr gesagt, dass es eine Shalia gibt, die ich sehr gerne mag, und dass wir uns seit einiger Zeit kennenlernen."
Ich ziehe einen Schmollmund. Wie süß kann man sein? Dass er, der so religiös ist, seine Traditionen für mich über den Haufen wirft, eine so unkonventionelle Beziehung mit mir führt und trotzdem seiner Mutter von mir erzählt, berührt mich.
Wortlos schnalle ich mich ab und drücke seine Hand liebevoll. "Ich würde mich freuen, sie kennenzulernen.
Mein Herz schlägt Purzelbäume, als wir die Treppen hochlaufen, ich dicht hinter ihm. Ich bin so aufgeregt wie selten zuvor. Irgendwie bedeutet mir das mehr, als ich zugeben will.
Essad hat oft von seiner Familie gesprochen, und jetzt werde ich auf einmal seine Mutter kennenlernen, die, wie er erzählt hat, eine sehr traditionelle und religiöse Frau ist.
Er öffnet die Wohnungstür mit seinem Schlüssel und lässt mir den Vortritt. Ein warmer, würziger Geruch von frisch gekochtem Essen weht uns entgegen. "Mama, ich bin’s", ruft er ins Innere der Wohnung und streift sich die weißen Turnschuhe von den Füßen, ich tue es ihm gleich. "Ich habe Shalia dabei."
Jemand tritt aus der Küche hervor, eine zierliche Frau mit einem freundlichen Gesicht und den gleichen warmen, braunen Augen wie Essad. Sie trägt ein schlichtes, braunes Kopftuch, das ihr Gesicht umrahmt und eine lange, braune Abaya. Ihre Augen leuchten vor Freude, als sie uns sieht. "Salam", ruft sie und umarmt ihren Sohn liebevoll. Dann wendet sie sich mir zu und lächelt herzlich.
"Salam Shalia", sagt sie und schließt auch mich herzlich in ihre Arme. "Schön, dich endlich kennenzulernen."
Ich lächele zurück, ein wenig schüchtern. "Freut mich auch, Sie kennenzulernen, Frau Salah", antworte ich höflich.
"Bitte, nenn mich Maryam", erwidert sie und mustert mich mit freundlichen Augen. "Essad hat viel von dir erzählt."
Während ich noch überlege, wie ich darauf reagieren soll, stürmt eine junge, energiegeladene Teenagerin aus einem der Zimmer. Sie trägt ein buntes Shirt und eine dunkelblaue Jeans. Ihre schwarzen Haare liegen glatt über ihren Schultern, sie hat im Gegensatz zu ihrem Bruder und ihrer Mutter aber grüne Augen, die vor Neugier strahlen.
"Oh mein Gott, du bist also Shalia!", platzt sie heraus und tritt direkt vor mich. Sie mustert mich aufmerksam und legt den Kopf schief. "Ich bin Elissa, Essads Schwester. Wie alt bist du? Woher kennt ihr euch? Du musst mir alles erzählen, Essad macht immer so ein Geheimnis aus allem." Sie verdreht die Augen und zieht die Nase kraus.
Ein Schmunzeln schleicht sich auf mein Gesicht. Überwältigt von der Flut an Fragen, antworte ich einfach. "Hallo, Elissa. Ich bin 18 und Essad und ich kennen uns schon lange, weil wir auf eine Schule gehen und er ein Freund meines großen Bruders Zayn ist."
"Elissa, lass sie doch mal Luft holen! Wir sind nur kurz hier, um meine Bandagen zu holen", weist Essad sie zurecht und klaut sich eine Nudel aus dem Kochtopf, die er sich in den Mund steckt. Auf dem Herd stehen Makkaroni mit Tomaten-Hackfleischsauce, daneben steht eine Schüssel mit Knoblauchjoghurt.
Maryam lächelt und legt ihrer Tochter schützend eine Hand auf die Schulter. "Khallas, Essad. Elissa meint das doch nicht böse, sie ist einfach neugierig. Kommt, setzt euch, ich gebe euch Essen."
Er winkt ab. "Wir haben keine Zeit, Mama, ich muss doch zum Training." Er nickt mir kurz zu, dann verschwindet er in den Flur.
"Min ayna anta?", fragt Maryam mich höflich. "Meine Eltern kommen aus dem Libanon", antworte ich.
Elissa stellt schließlich die Frage, die ich schon fast erwartet habe, aber nicht zu beantworten weiß: "Bist du jetzt Essads Freundin?"
Gott sei Dank tritt Essad in dem Moment wieder in die Küche und hebt schnell eine Hand. "Elissa, es reicht", sagt er bestimmt und wirft ihr einen strengen Blick zu. Er wendet sich zu mir. "Komm Shalia, wir müssen los." In seiner Hand aufgerollt die roten Bandagen, wegen der wir hier sind.
Elissa schaut beschämt drein und murmelt eine Entschuldigung, während Maryam uns verabschiedet. "Hat mich gefreut, Shalia", sagt sie herzlich und umarmt mich nochmal. "Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder."
Ich lächele und nicke. "Danke, Maryam. Ich hoffe es auch."
Als wir die Treppen hinuntergehen, fühle ich mich erleichtert und irgendwie erfüllt. Essad bemerkt meinen Ausdruck und fragt: "War doch gar nicht so schlimm, oder?"
Ich schüttele den Kopf. "Nein, überhaupt nicht. Deine Familie ist sehr nett."
Er greift nach meiner Hand, als wir auf den Bürgersteig treten. "Sie mochten dich - genau wie ich."
Ich schlinge meine Arme um seinen Bauch und schmiege mein Gesicht an seine Wange. Er küsst auf meinen Scheitel und verschränkt seine Arme hinter meinem Rücken. "Danke, dass du mitgekommen bist. Das bedeutet mir viel."
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