《• 3O •》

Als ich ins Klassenzimmer komme, sitzt Yara bereits an unserem Tisch. Ihr Blick trifft den meinen, da legt sich tiefe Sorge auf ihr hübsches Gesicht, ihre blauen Augen verdunkeln sich.

"Okay, was ist los? Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht geweint." Yaras Stimme ist besorgt, auch wenn sie sich bemüht, ruhig zu bleiben, als ich neben ihr Platz nehme.

Ich versuche zu lächeln, aber es gelingt mir nicht so recht. Meine Mundwinkel verziehen sich halbherzig nach oben, doch das Lächeln erreicht meine Augen nicht. "Hallo Maus", begrüße ich sie leise und stelle meinen Rucksack neben mich auf den Boden.

Yara zieht ihre kleine Stupsnase kraus und legt den Kopf schief. "Sag schon, was ist los? Was ist passiert?"

Ich schlucke schwer und beginne zu erzählen. "Zayn hat Nael gestern im Studio überrascht, um zu kontrollieren, dass er sein Versprechen hält und nicht mehr kifft. Anstatt mit einem Joint hat Zayn ihn dann mit seinen Kollegen beim Koksen erwischt. Es waren mehrere Lines auf dem Tisch und Nael hat gerade eine gezogen, als mein Bruder reinkam."

Yaras Augen weiten sich vor Entsetzen. "Oh mein Gott, Shalia, das ist schrecklich."

Ich nicke und kämpfe gegen die Tränen an. "Zayn ist ausgerastet und hat Nael zusammengeschlagen. Es gibt kein Zurück mehr, Yara, Zayn wird ihm das nie verzeihen und ich kann es auch nicht mehr."

Yara zieht mich in eine feste Umarmung. "Das tut mir so leid, Süße. Du hast das alles nicht verdient. Nael ist ein richtiger Idiot. Das hätte ich niemals von ihm gedacht."

Ich schlucke hart und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. "Ich auch nicht. Er hat so viele Chancen von mir bekommen, und ich habe die ganze Zeit gehofft, er würde sich ändern, aber er hat mich immer wieder aufs Neue enttäuscht. Ich glaube, ich wurde noch nie so sehr verletzt."

Meine beste Freundin streicht mir beruhigend über den Rücken. "Wir schaffen das, du bist nicht alleine."

Ich ziehe mich aus der Umarmung zurück und sehe Yara mit traurigen Augen an. "Es tut so weh, aber ich weiß, dass ich mich trennen muss. Ich muss lernen, ohne ihn weiterzumachen, auch wenn wir eine gemeinsame Zukunft geplant haben."

Sie nickt verständnisvoll. "Und ich werde immer für dich da sein, Shalia. Egal was passiert: Wir schaffen das zusammen."

Ich lächele schwach durch die Tränen. "Danke, Yara."

Ich bin so froh, dass ich sie und Zayn auf meiner Seite habe. Auch wenn es mir vor dem Gespräch mit meinen Eltern graut, bin ich froh, die beiden an meiner Seite zu wissen, denn jeder Weg ist nur halb so schwer, wenn man ihn nicht alleine gehen muss.

Ich versinke gerade wieder in meinen Gedanken, als Essad mit unserem Mitschüler Oktay lautstark in den Klassenraum poltert. Als er mich und meinen Zustand bemerkt, wendet er sich von ihm ab und kommt auf mich zu.

Ich versuche, seinen Blick zu ignorieren, während er sich auf seinen Platz neben mich setzt. Ich bin sauer auf ihn. Ohne ihn wäre das Ganze vielleicht nie so eskaliert.

Essad lässt sich das jedoch nicht gefallen. Er dreht sich zu mir und fragt leise, aber eindringlich. "Du siehst schrecklich aus, Shalia. Was ist passiert?"

Ich gebe ihm keine Antwort und schaue stattdessen stur aus dem Fenster. Ich habe keine Kraft, mich jetzt auch noch mit ihm auseinanderzusetzen.

Doch mein Sitznachbar lässt nicht locker. "Shalia, rede mit mir. Ich mache mir Sorgen um dich."

Yara schaut zwischen uns hin und her, unsicher, wie sie reagieren soll und ob überhaupt.

Ich ignoriere Essad weiterhin und beiße beleidigt auf meiner Unterlippe herum.

Plötzlich fasst der bärtige Mann an meinen Oberarm und dreht mich schroff zu sich, um endlich meine Aufmerksamkeit zu erlangen. "Er hat mich heute Nacht im Vollsuff angerufen und aufs Übelste beleidigt. Du brauchst ihn also nicht zu decken, ich weiß längst, was bei euch abgegangen ist", schießt er scharf.

Meine Hände werden feucht. Essads Worte sind mir wahnsinnig unangenehm. Sollte er die Wahrheit sagen - und davon gehe ich aus - wird dieser ganze Alptraum immer schlimmer.

"Er hat mir vorgeworfen, dass ich mich an seine Verlobte ranmache und eure Beziehung auf dem Gewissen habe, so als hättet ihr euch gar nichts vorzuwerfen und alles sei meine Schuld."

Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich drehe mich zu ihm um, meine Augen voller Schmerz und Wut. "Essad, das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du weißt doch, dass das nicht stimmt."

Er wird sichtbar wütend. "Ach ja? Nael hat mir Dinge gesagt, die ich einfach nicht ignorieren kann. Der hat mich beleidigt, meine ganze Familie, sogar dich."

Meine Stimme zittert, als ich antworte. "Das ist eine Sache zwischen Nael und mir. Ich brauche jetzt nicht noch mehr Drama. Bitte, lass mich in Ruhe."

"Wenn das eine Sache zwischen Nael und dir ist, wieso mischt er mich ein? Wieso reißt er mich nachts aus dem Schlaf, schreit mich an und beschimpft mich von A bis Z?"

Bevor die Situation weiter eskalieren kann, kommt unsere Lehrerin herein. Sie bemerkt sofort die angespannte Stimmung und sieht mich besorgt an. "Frau El-Mansouri, alles okay?"

Ich kann meine Tränen nicht zurückhalten, sie laufen ungehemmt über meine Wangen.

Essad steht auf und tritt ans Pult. "Frau Hartmann, es wäre vielleicht besser, wenn ich kurz mit Shalia vor die Tür gehe. Es ist etwas Privates und wir sollten das klären." Der großgewachsene Boxer vergräbt seine Hände in den Hosentaschen seines schwarzen Tracksuits.

Einige unserer Mitschüler beobachten uns sensationslustig oder beginnen angeregt zu tuscheln.

Die blonde Mittvierzigerin in weißer Bluse und Jeansrock nickt zögernd. "In Ordnung, Herr Salah, aber bitte klären Sie das zügig und kommen Sie danach zurück in den Unterricht."

Essad nickt. Dann läuft er auf mich zu und sieht mich auffordernd an. Ich wische mir trotzig eine Träne von der Wange, erhebe mich widerwillig und folge ihm aus dem Klassenzimmer.

Wir stehen nun im leeren Flur und ich funkele ihn zornig aus meinen dunklen Augen an. "Verdammt, du machst alles nur noch schlimmer! Hast du nicht gesehen, wie sie sich alle das Maul zerrissen haben? Reicht es nicht, dass mein Leben den Bach runter geht? Muss auch noch jeder daran teilhaben?", schimpfe ich drauf los.

Mein Gegenüber sieht mich kalt an. "Ist das wirklich dein Problem? Was die anderen denken? Es geht hier um dich und um mich, um uns, Shalia!"

"Um uns? Es gibt kein 'uns', Essad. Das hat es nie gegeben."

Er lacht bitter. "Du weißt doch ganz genau, was ich damit meine." Essad tritt einen Schritt näher, seine Augen funkeln vor Entschlossenheit. "Und außerdem hast du meine Aufmerksamkeit genossen, Shalia, das hast du mir selbst gesagt."

Ich spüre, wie meine Wut aufsteigt. "Wenn du das falsch verstanden hast, tut es mir leid, aber das war nie meine Absicht."

Er lacht erneut, diesmal noch bitterer. "Du wusstest genau, was du tust und jetzt tust du wie Nael so, als wäre ich Iblis."

Essad kommt näher, seine Stimme wird sanfter. Seine warmen, braunen Augen sehen mich durchdringend an. "Ich verstehe, dass du verletzt bist. Aber vielleicht ist die Trennung von Nael eine Chance für dich. Eine Chance, neu anzufangen mit jemandem, der dich wirklich zu schätzen weiß. Der dir die Aufmerksamkeit und Liebe gibt, die du verdienst."

Ich starre ihn fassungslos an. "Glaubst du ernsthaft, ich würde jetzt nahtlos zu dir überlaufen, nach allem, was passiert ist? Es ist keine zehn Stunden her, dass ich meine Verlobung gelöst habe, ich trage ja sogar noch diesen beschissenen Ring an meinem Finger!" Ich hebe demonstrativ meine Hand und halte sie dem muskulösen Palästinenser etwas zu nah ins Gesicht. "Meine Eltern wissen noch nicht mal Bescheid und du redest von einer neuen Chance? Geht's dir noch gut?" Ich schreie ihn so sehr an, dass ich selbst überrascht davon bin, wie laut meine Stimme werden kann und wie aggressiv meine Wortwahl ihm gegenüber plötzlich ist.

In dem Moment wird die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen und Frau Hartmann steht im Türrahmen, ihre Augen blitzen vor Ärger. "Was ist hier los? Ihr beide solltet das zügig und ruhig klären, nicht den gesamten Flur beschallen. Seid bitte leiser und kommt bald wieder rein. Der Unterricht geht weiter."

Ich werfe Essad einen wütenden Blick zu, der wiederum nickt unserer Lehrerin zu. "Entschuldigung, Frau Hartmann. Es war nicht unsere Absicht, zu stören. Wir kommen gleich zurück."

Frau Hartmann sieht uns beide mit einem letzten strengen Blick an, bevor sie die Tür wieder schließt.

Essads kantiges Gesicht ist düster, seine markanten Kiefer fest aufeinander gepresst. Er greift nach meiner schlanken Hand und umschließt sie fest mit seiner. Ich protestiere, versuche mich zu befreien, doch er ignoriert das und zieht mich mit sich durch das Treppenhaus und raus auf den Hof.

"Was machst du, verdammt?", schimpfe ich lautstark. "'Ana la 'uhibu hdha!", rufe ich. Ich mag das nicht. Doch auch das lässt ihn kalt.

Wir entfernen uns ein wenig von der Schule und laufen in den gegenüberliegenden Park, wobei Essad mich mehr zieht als dass ich wirklich laufe.

Ich verstehe nicht, was er hier gerade tut und was seine Intention dahinter ist, doch ich werde mit jedem Meter wütender. Mein Herz ist gebrochen und ich habe keine Lust, mich jetzt mit Essad auseinander zu setzen. Ich will erstmal den ersten Scherbenhaufen beseitigen, bevor ich mich kopfüber in das nächste Problem stürze.

An einer dunkelbraunen Parkbank kommt er zum Stehen und lässt meine Hand endlich los. Auffordernd sieht er mich an. "Na los, jetzt kannst du mich anschreien wie du willst. Raste aus, beleidige mich, tob dich aus. Lass all deine Wut an mir raus." Seine Stimme ist ruhig und kontrolliert, auch wenn ich die Wut in seinen Augen noch immer sehen kann und sein Körper nach wie vor angespannt ist.

"Du bist unglaublich", murmele ich fassungslos und schüttele den Kopf. "Lass all deine Wut an mir raus", wiederhole ich seine Worte. "Du tust ja immer noch so, als hättest du gar nichts falsch gemacht."

"Also willst du mir weiterhin weiß machen, dass ihr euch getrennt habt, weil ich mit dir geflirtet habe? Ihr habt euch nicht getrennt, weil Nael sich nur noch um Rap oder seine neuen Freunde gekümmert hat, oder weil er sich auf Partys rumtreibt, säuft, kifft und Gott weiß was noch alles tut, ja? Ihr habt euch nur getrennt, weil ich dir geschrieben habe, dass ich noch mal mit dir reden will?", provoziert er mich.

"Nein, Essad! Natürlich haben wir uns nicht nur wegen dir getrennt. Wieso redest du jetzt überhaupt darüber? Du hast doch keine Ahnung! Du weißt nicht, wie es ist, jemanden zu lieben, der dir immer wieder verspricht, sich zu ändern und einen dann jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Nael war meine Zukunft, verstehst du das? Wir hatten Pläne, Träume, und jetzt ist alles zerbrochen, und ich stehe vor einem Scherbenhaufen!", platzt es aus mir heraus und ich baue mich vor ihm auf.

Essad bleibt still, seine Augen folgen meinen Bewegungen.

"Er hat mir versprochen, dass er aufhört und dass alles gut wird. Jedes Mal hat er es mir versprochen und jedes Mal hat er mich angelogen. Ich habe ihm vertraut, ich habe ihm geglaubt und jetzt stehe ich hier, habe meine große Liebe verloren, meine Verlobung gelöst und meine ganze Familie weiß noch nicht mal von alledem! Keiner weiß, was gerade abgeht! Keiner weiß, wie kaputt ich bin, wie oft ich innerlich gestorben bin, in den letzten Wochen! Ihr habt alle keine Ahnung, wie oft er mir das Herz rausgerissen und darauf rumgetrampelt hat. Und ich habe ihm immer wieder verziehen und ihn mit jedem zerbrochenen Teil meines Herzens weiter geliebt, verstehst du das? Und dann kommst du daher, und erzählst mir was von neuer Chance. Ich will keine neue Chance! Ich will mein verdammtes Leben zurück, indem ich mich in meinen besten Freund verliebt habe, der alles für mich getan hat. Ich war so verdammt glücklich! Und ich weiß, ich werde es nie wieder sein! Denn gestern Nacht ist Nael für mich gestorben. Der Mensch, den ich so sehr geliebt habe, dass er bei meinem Vater um meine Hand angehalten hat, den gibt es nicht mehr. Der ist an Fame und Drogen verreckt", brülle ich.

Meine Stimme bricht und ich spüre, wie die Tränen zurückkehren. "Er hat nicht nur mich enttäuscht, er hat auch Zayn enttäuscht und meine Eltern, denen er versprochen hat, dass er sich um mich kümmert. Er hat mich einfach allein gelassen, obwohl er geschworen hat, für immer an meiner Seite zu bleiben."

Meine Stimme wird immer leiser, bis sie nur noch ein Flüstern ist. "Ich bin so müde, so unglaublich müde davon, stark zu sein, keinem zu zeigen, wie schlecht es mir geht, und immer wieder blauäugig darauf zu hoffen, dass alles gut wird. Ich will einfach nur noch aus diesem Alptraum erwachen."

Essad tritt wortlos einen Schritt näher, seine Hände greifen nach meinen Schultern. Er zieht mich zu sich heran, drückt meinen Kopf sanft an seine starke Brust und streicht mir behutsam über den Kopf. Ich lasse es geschehen, lasse mich fallen und von ihm auffangen. Sein süßliches Parfum steigt mir in die Nase, hüllt mich ein wie eine Decke.

Ich weine hemmungslos in seinen Armen, mein ganzer Körper zittert vor Erschöpfung und Schmerz. Doch Essad hält mich fest, seine Arme umschließen mich schützend und er lässt mich nicht los. Langsam beginne ich, mich in seiner Umarmung etwas sicherer zu fühlen. Seine Wärme und seine Stärke geben mir Halt.

Keine Ahnung, wie lange wir so dastehen, vielleicht eine halbe Ewigkeit, zumindest fühlt es sich so an, bis ich mich irgendwann von ihm löse. Reumütig suche ich seinen Blick. "Ich weiß, dass du nicht an unserer Trennung Schuld bist. Nael und ich hatten ganz andere Probleme. Er hat dich einfach zu seinem Feindbild auserkoren, weil es einfacher ist, als sich mit seinen eigenen Fehlern auseinanderzusetzen. Er ist Schuld an dieser Trennung, nicht ich und schon gar nicht du. Es tut mir leid, dass ich vorhin etwas anderes gesagt habe und dich auch zu meinem Sündenbock gemacht habe."

Essad nickt mir zu. "Weiß ich doch."

Einen Moment stehen wir schweigend da. Er zündet sich eine Zigarette an und als ich irgendwann danach greifen will, schlägt er meine Hand weg. "Hör auf mit so 'ner Scheiße", ermahnt er mich mit strengem Blick. "Willst du jetzt genauso anfangen wie er?"

Ich ziehe meine Hand zurück und schüttele resigniert den Kopf.

"Besser", beschließt er und tritt seine Kippe auf dem Schotter aus. "Auch wenn es sich nicht so anfühlt - der Schmerz wird vergehen. Du hast dir deine Zukunft vielleicht anders vorgestellt, aber das liegt nicht in deiner Hand. Allah hat einen Plan für dich, er gibt und er nimmt. Wenn er Menschen aus deinem Leben entfernt, dann nur, weil sie nicht gut für dich sind. Sei dir sicher, dass er etwas Besseres für dich bereithält. 'Denn wahrlich, mit der Erschwernis kommt die Erleichterung'", zitiert er einen berühmten Koranvers.

"Danke", antworte ich aufrichtig. Essad ist in den letzten Wochen zu einem echten Freund geworden, auch wenn er sein Interesse an mir nicht verheimlicht. Ich weiß es zu schätzen, dass er mir in dieser schweren Zeit beisteht, selbst obwohl ich ihm Unrecht getan habe.

Wir entschließen uns, wieder zurück in den Klassenraum zu gehen, auch wenn es mir schwer fällt. Ich ignoriere die neugierigen Blicke unserer Klassenkameraden und nehme wortlos an meinem Tisch Platz. Den Rest des Schultages verbringe ich größtenteils stumm und darauf konzentriert, mich zusammen zu reißen und nicht immer wieder in Tränen auszubrechen.

Auch, weil ich weiß, dass mir zuhause noch etwas viel Schlimmeres bevorsteht: ich muss meine Eltern einweihen.

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