《• 38 •》
"Was machst du nach der Schule?", fragt Essad in der Pause und wirft zwei Zuckerstücke in seinen schwarzen Kaffee.
Einige Wochen sind ins Land gegangen und der lange, heiße Berliner Sommer weicht langsam dem Herbst.
Die letzten schönen Spätsommertage mit blauem Himmel und goldenem Licht bilden eine bunte Mischung mit den ersten, tristgrauen Herbsttagen. Die Bäume entlang der Straßen färben sich langsam in warmen Rot-, Gelb- und Orangetönen. Die Luft wird kühler und klarer, es regnet wieder öfter.
Antiproportional dazu verläuft mein Leben. Die Dunkelheit lässt nach, in mir scheint wieder öfter die Sonne.
Meine Trennung von Nael ist schon über zwei Monate her, und es ist Wochen her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.
Manchmal frage ich mich, was er so treibt und wie es ihm geht, aber ich schaue nicht mehr nach. Ich will mich von seinem Verfall nicht mehr runterziehen lassen.
"Nichts besonderes, vielleicht ein bisschen lernen oder so, und du?", antworte ich, während ich mich auf einer der Metallbänke auf dem Pausenhof breit mache.
Essad bleibt vor mir stehen und grinst zufrieden. "Ich habe was vor, aber mir fehlt noch die richtige Begleitung", erklärt er geheimnisvoll.
Wir verbringen mittlerweile öfter Zeit miteinander, alleine zu zweit, oder gemeinsam mit anderen Freunden wie Yara, Zayn oder seinem besten Freund Jibrail.
Wir teilen denselben Humor, mit ihm wird es nie langweilig. Obendrein war und ist er mir bei dem gesamten Trennungsprozess eine wichtige Stütze.
"Was denn?"
Er zuckt mit den Schultern. "Lass dich überraschen."
Ich ziehe eine Schnute. "Dann komme ich nicht mit."
Essad kommt einen Schritt auf mich zu, piekst mir mit dem Finger in die Rippen und legt den Kopf schief. "Seit wann bist du so eine Spaßbremse? Das letzte Mal, als ich dich mit einer Unternehmung überrascht habe, hatten wir richtig viel Spaß, oder nicht?"
Ich gebe mich geschlagen. "Brauche ich wieder Sportsachen?"
Er nickt zufrieden. Es gefällt ihm, dass er seinen Willen bekommt.
"Essad, bin ich irgendwie fett geworden, oder wieso willst du mich immer dazu bringen, mich zu bewegen?"
Er schüttelt lachend den Kopf. "Vertrau mir, du bist perfekt so wie du bist. Ich versuche einfach nur, dass du zwischendurch den Kopf frei kriegst."
Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. "Und dafür bin ich dir dankbar", antworte ich und schenke ihm ein ehrliches Lächeln.
"Solltest du auch", neckt er mich. "Ich hole dich um 15 Uhr ab."
...
Pünktlich um 15 Uhr höre ich Essads Wagen vor unserem Haus. Ich schnappe mir eine Wasserflasche und einen Schlüsselbund und laufe die Treppen runter.
Wir fahren gut gelaunt durch die sonnigen Straßen Berlins. Der Himmel ist heute strahlend blau und wolkenlos. Ein perfekter Tag für Unternehmungen an der frischen Luft. Ich hoffe, Essads geplante Aktivität findet outdoor statt.
Nach einer kurzen Fahrt parkt mein Begleiter an einem öffentlichen Sportplatz.
Essad steigt aus, holt einen knallorangen Basketball aus dem Kofferraum und wirft ihn mir zu. "Ich dachte, wir können ein bisschen Basketball spielen. Ich habe das früher oft mit Kollegen gemacht, aber in letzter Zeit schon lange nicht mehr und heute hatte ich total Bock darauf."
"Ich habe das zwar noch nie gemacht, aber irgendwann ist immer das erste Mal."
Essad grinst und wir beginnen, den Ball zwischen uns hin- und herzupassen. Er sieht in seinem schwarzen Lakers-Trikot mit goldenen Details aus wie ein Profi, so sportlich wie er ist. Ich hingegen bin etwas unbeholfen, aber Essad ist wie beim Boxen geduldig und gibt mir hilfreiche Tipps.
"Du musst dich mehr lockern", sagt er, als ich den Ball zum dritten Mal verliere.
"Ich versuche es ja", lache ich verzweifelt.
Er kommt auf mich zu, greift nach meinen Schultern und schüttelt mich durch, bis mir vor Lachen die Tränen kommen. "Wenn du jetzt nicht locker bist, weiß ich auch nicht."
Als ich mich wieder beruhigt habe, zeigt er mir, wie ich den Ball richtig dribbeln soll, und nach ein paar Versuchen bekomme ich den Dreh raus. Wir spielen eine Weile hin und her, werfen Körbe und albern miteinander herum.
"Du machst das echt gut", lobt er mich, als ich den Ball geschickt an ihm vorbei dribble und einen Korb werfe. Mir ist klar, dass er mich gewähren lässt, obwohl es ihm ein leichtes wäre, mich aufzuhalten, aber er scheint mir dieses Erfolgserlebnis zu gönnen.
"Danke", sage ich voller Stolz. "Das macht echt Spaß."
"Habe ich doch gesagt", erwidert er und dribbelt mit dem Ball zum Korb. Er kontert meinen Deckungsversuch, indem er mich mit einem sanften Schubser aus dem Gleichgewicht bringen will, doch ich nutze eine unaufmerksame Sekunde um ihm den Ball wegzunehmen.
"Hey, das ist unfair", ruft er lachend, als ich ihm den Ball aus der Hand schlage.
"Du hast angefangen", antworte ich schulterzuckend und versuche, einen weiteren Korb zu werfen.
Doch Essad lässt sich nicht so leicht abspeisen. Er schlingt seinen Arm um meine Taille und zieht mich ruckartig an sich. Mein schlanker Körper wird an ihn gepresst, und obwohl er verschwitzt ist, riecht er himmlisch nach seinem schweren Parfum.
Uns trennen nur noch zwei dünne Schichten Kleidung voneinander und ich spüre sein Herz aufgeregt an meiner Schulter schlagen.
"Wer spielt jetzt unfair?", kichere ich, und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er presst mich noch enger an sich.
In sein Gesicht schleicht sich eine kindliche Freude, als er merkt, dass ich es nicht schaffe, mich von ihm zu lösen. Seine Augen funkeln vor Freude, und ich spüre, wie mein Herz ebenso ein wenig schneller schlägt.
So nah waren wir uns noch nie.
Meine Augen verharren auf seinen. Der Blick, den wir uns schenken, ist tief und intensiv. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Wange, mein ganzer Körper fühlt sich an wie elektrisiert.
In dem Moment drückt mir Essad blitzschnell einen Kuss auf die Schläfe. Er löst sich von mir, klaut sich den Ball zurück und wirft ihn treffsicher in den Korb.
Jubelnd reißt er die Arme in die Luft.
Wir spielen eine ganze Weile, die Zeit vergeht wie im Flug. Irgendwann stehen wir beide außer Atem nebeneinander, die Sonne scheint warm auf uns herab. Ich nehme einen großen Schluck Wasser aus meiner Flasche.
"Gib's zu - war eine gute Idee von mir, oder?", sagt Essad und lächelt mich siegessicher an.
"Ja, ehrlich. Macht richtig Spaß."
"Das freut mich. Es hilft, mal auf andere Gedanken zu kommen."
Ich nicke und wir lassen uns auf einer Bank am Spielfeldrand nieder. Wir sitzen dicht nebeneinander, unsere Beine berühren sich leicht. Essad ist mir mittlerweile so vertraut, wie ich es niemals erwartet hätte.
Immer wieder überraschend, was Allah für uns bereithält. Noch vor wenigen Monaten hatte ich ganz andere Pläne für mein Leben.
Ich war mir sicher, dass ich für immer mit Nael zusammen bleibe und dass er meine große Liebe ist. Mittlerweile frage ich mich, ob ich mich darin nicht getäuscht habe.
Zeit ist vergangen, meine Wunden heilen.
Unsere Trennung war voller Schmerz und Tragik, doch ich lerne, damit klarzukommen und es gelingt mir mittlerweile sogar ganz gut.
Nicht zuletzt dank Essad.
"Essad", sage ich leise, "danke, dass du dich um mich kümmerst."
Er legt lächelnd seinen Arm um meine Schultern und zieht mich sanft an sich. "Gerne, Shalia."
Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und schließe die Augen. Für einen Moment vergesse ich all meine Sorgen und genieße einfach die Nähe zu ihm und die warme Sonne auf meiner Haut.
Wenn ich bei ihm bin, rückt der ganze Schmerz, den Nael in mir verursacht hat, in den Hintergrund. Essad bringt mich zum Lachen, lenkt mich ab und schenkt mir die Aufmerksamkeit, die ich brauche. Er bemüht sich um mich, immer und immer wieder, unnachgiebig.
Noch immer habe ich Angst, dass ich ihm falsche Hoffnungen mache oder er etwas von mir erwartet, was ich ihm aktuell nicht geben kann. Etwas, was ich ihm vielleicht niemals geben kann.
Doch wie Essad gesagt hat: ich habe immer mit offenen Karten gespielt. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, die Zeit mit ihm einfach zu genießen. Er ist mir wahrlich ein guter Freund geworden in den letzten Wochen und ich will ihn nicht mehr missen.
Auch wenn heute zwischen uns vielleicht noch ein bisschen mehr als Freundschaft war.
Die Zeit vergeht und der Abendhimmel färbt sich langsam rosa und orange. Wir sitzen noch immer dicht nebeneinander und reden über Gott und die Welt. Essad spielt gedankenverloren mit einer Haarsträhne, die aus meinem Zopf gefallen ist.
"Spielen wir noch 'ne Runde?", fragt er schließlich fast zögernd, als wolle er den harmonischen Moment zwischen uns nicht beenden.
Ich erhebe mich schwerfällig von der Bank. "Klar, wenn du heute unbedingt noch einen Misserfolg willst."
Essad schmeißt mir hart den Ball zu. "Du bist ganz schön groß im Reden, Fräulein, aber am Ende zählen nur die Punkte."
Ich fange den Ball und grinse. "Du wirst schon sehen."
Wir beginnen wieder zu spielen. Ich werde sicherer im Umgang mit dem Ball, kann aber natürlich lange noch nicht mit meinem Gegner mithalten. Doch Essad ist gnädig und nimmt mich nicht so hart ran. Stattdessen lobt er mich kontinuierlich und hilft mir.
Irgendwann schnappt Essad sich den Ball und hält ihn über seinen Kopf, unerreichbar für mich, wo er doch über 1,90 Meter groß ist. "Und, was willst du jetzt machen? Wie willst du den Ball zurückbekommen?"
Ich versuche mein Glück nach dem Ball zu greifen, aber er ist einfach zu groß und zu stark. Ich mache mich groß und springe, doch habe keine Chance.
Essad amüsiert sich köstlich. Er grinst und dreht denn Ball selbstsicher auf seinem Finger, während ich noch immer probiere, ihn zu erreichen. So leicht gönne ich ihm seinen Triumph nicht.
Gönnerhaft beugt er sich zu mir herunter. "Vielleicht kannst du mich ja überzeugen, dir den Ball zu geben."
Ich sehe ihm tief in die Augen. Für einen Moment verblasst alles um uns herum und die Zeit scheint still zu stehen. Es gibt nur Essad und mich, mitten auf diesem Basketballplatz. Seine braunen Augen auf meinen.
Ich beiße mir auf die Zunge. Ich muss die Situation beenden, bevor das hier in eine falsche Richtung geht.
Ich lege meine Hände an seine Wangen, seine Vollbart kitzelt meine Handinnenfläche. Dann recke ich mich vor und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.
Ein seliges Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. "Du spielst mit unfairen Mitteln, aber du hast gewonnen."
Ich grinse siegreich, als er mir den Basketball zurückgibt und werfe ihn. Er fliegt direkt in den Korb. Ungläubig schaue ich zwischen Basketball und Essad hin und her, dann reiße ich die Arme hoch und jubele, als hätte ich die NBA Playoffs gewonnen.
Die Sonne steht jetzt tief am Horizont und der Himmel ist in wunderschöne Farben getaucht. Wir spielen noch ein wenig weiter, bis die Dämmerung hereinbricht und wir schließlich unser Spiel beenden und unsere Sachen zusammenpacken.
Erschöpft trinke ich einen großen Schluck, bevor wir uns auf den Rückweg machen.
Als wir zum Auto laufen, spüre ich eine angenehme Leichtigkeit in mir.
"Ich hätte nicht gedacht, dass Basketball so viel Spaß macht", sage ich, als ich mich von Essad verabschiede. Er ist mit mir ausgestiegen und schenkt mir ein ehrliches Lächeln. "Ich habe doch gesagt, du sollst mir einfach vertrauen."
Essad schaut mir tief in die Augen, sein Lächeln wird weicher. "Es ist schön, dich wieder glücklich zu sehen."
Für einen Moment stehen wir einfach nur da, sehen uns an und ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Die Nähe zwischen uns ist greifbar, und es scheint, als würde die Welt um uns herum stillstehen.
Essad beugt sich leicht vor, unsere Gesichter kommen sich immer näher. Mein Herz rast und ich frage mich, ob er mich jetzt küssen wird. Doch im letzten Moment zögert er, und ich spüre dieselbe Unsicherheit in mir aufsteigen.
Stattdessen legt er sanft seine Hand an meine Wange und drückt mir einen liebevollen Kuss auf die andere. "Schlaf gut, Shalia," flüstert er leise.
"Du auch, Essad," antworte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Schnell, fast schon panisch, löse ich mich von ihm. Ein verschwindend kleiner Teil von mir wünscht sich, dass er mutiger gewesen wäre, doch ich weiß, dass es so besser ist.
So soll es sein, so soll es bleiben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top