《• 35 •》
Essad holt mich mit dem Auto von zuhause ab. Wir fahren eine Weile und quatschen locker miteinander, bis er schließlich vor einem Gebäude parkt, das mir unbekannt ist. Es sieht irgendwie abgewrackt und verlassen aus und nicht besonders vertrauenswürdig.
"Was ist das hier? Was hast du mit mir vor?" frage ich neugierig, als wir aussteigen und in das Gebäude treten.
Doch Essad schweigt und leitet mich wortlos eine Kellertreppe hinab. Als er die schwere Stahltür mit einem Schlüssel öffnet und ich entdecke, was sich hinter ihr verbirgt, verstehe ich schnell.
Wir sind in einem Boxclub.
Drinnen empfängt uns der typische Geruch von Schweiß und Leder. In einer Ecke sehe ich mehrere Sandsäcke sowie stehende Boxbirnen in verschieden Ausführungen. In der riesigen Halle verteilt finden sich ganze vier Boxringe, in einem von ihnen machen zwei junge Männer gerade Sparing. Außerdem gibt es noch einen Fitnessbereich, in dem zahlreiche Trainingsgeräte gestehen, die sich in jedem herkömmlichen Gym finden. An den rohen Betonwänden hängen Plakate von vergangenen Kämpfen, Bilder von Boxern und Trophäen, die den Raum fast ehrfürchtig wirken lassen.
Vorsichtig betreten meine Füße die schwarzen Matten, die auf dem gesamten Boden ausgelegt sind.
"Warum sind wir hier?" frage ich verwirrt, noch überwältigt von all den neuen Eindrücken.
"Nachdem du gestern eine beschissene Art kennengelernt hast, mit deinen Gefühlen klarzukommen, zeige ich dir jetzt eine deutlich bessere Methode, dich abzureagieren," sagt Essad mit einem zufriedenen Lächeln.
Ungläubig starre ich ihn an. "Du willst mit mir Boxen?"
Er lacht. "Mit dir Boxen ist vielleicht der falsche Ausdruck. Du boxt und ich zeige dir wie."
Ich schüttele den Kopf und ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. "Nicht dein Ernst."
"Doch", zuckt er mit den Schultern. "All dieser Schmerz und diese negative Energie müssen aus deinem Körper. Du wirst sehen, dass du dich danach richtig erleichtert fühlst. Wenn es mir schlecht geht, komme ich auch immer hierhin und power mich aus."
Seine Fürsorge berührt mich. Essad sorgt sich wirklich um mich, und das gefällt mir. Er will mir helfen und er tut es auf seine Art. Er nimmt mich mit in seine Welt und öffnet sie mir.
"Zieh deine Schuhe und Socken aus, du kannst sie hier vorne hinstellen", weist er mich an, während er selbst seine Nikes von den Füßen streift. "Wir trainieren barfuß."
"Und deine Jacke wirst du auch nicht brauchen. Du wirst dich genug bewegen, dass dir warm wird." Grinsend streift er seinen roten Hoodie über den Kopf und die passende Jogginghose über die Hüften, sodass er plötzlich in einer kurzen Boxshorts und einem Tanktop vor mir steht.
Das sportliche Outfit betont seine wahnsinnig muskulöse Figur. Kein Gramm Fett ist an ihm zu sehen. Dass er kräftig ist, sieht man durch seine Kleidung, aber dass er dermaßen durchtrainiert ist, wusste ich nicht. Dazu seine gebräunte Haut und das attraktive, selbstsichere Lächeln, mit dem er vor mir steht..
Er sieht heiß aus und ich kann meinen Blick kaum von ihm abwenden. Als ich bemerke, wie sehr ich mich in meinen Blicken verloren habe und dass Essad das längst bemerkt hat, räuspere ich mich schnell und senke beschämt meinen Kopf.
Doch er grinst nur und kneift mir in die Wange. "Also, bist du bereit?"
"Bereit," antworte ich entschlossen und dankbar darüber, dass er das Offensichtliche nicht anspricht.
Ich folge Essad zu einem Spint, den er aufschließt, um zwei rote, zusammengerollte Bandagen und ein Paar Boxhandschuhe herauszuholen.
"Erstmal brauchst du die hier", erklärt er und wickelt mir die Bandagen gewissenhaft um die zarten Hände. "Ich glaube, so kleine Hände habe ich noch nie eingewickelt", schmunzelt er währenddessen.
Danach stülpt er mir die Boxhandschuhe über die Hände. "Die werden dir ein bisschen zu groß sein, aber das geht schon", kommentiert er und zieht den Klettverschluss zu.
Es fühlt sich komisch an mit den schweren Handschuhen an den Händen. Wir suchen uns eine ruhige Ecke, ehe Essad aus einem Schrank mit Trainingsequipment einige Utensilien holt und neben uns auf den Boden legt.
"Bevor wir anfangen, erkläre ich dir die Grundlagen." Er stellt sich neben mich und sofort strömt mir wieder sein unverwechselbarer Geruch in die Nase. Sein Parfum würde ich wohl unter tausenden erkennen.
"Du hältst deine Hände immer vor dein Gesicht, um es zu schützen. Wenn du geschlagen hast, kommst du danach wieder genau in diese Position." Er drückt meine Hände hoch und arrangiert sie in der richtigen Stellung.
"Der erste Schlag, den du lernen musst, heißt Jab. Deine Füße stehen ungefähr schulterbreit auseinander und die Knie sind leicht gebeugt. Weil du mit rechts schlägst, steht dein rechter Fuß hinten. Den Jab schlägt man mit der Führhand, also mit deiner schwächeren Hand, links."
Essad nimmt nun selbst die richtige Kampfstellung neben mir ein. Er hebt die Arme zur Deckung, bevor er schnell und gerade mit der linken Hand nach vorne schlägt. Dabei dreht er die Faust so, dass der Handrücken in der Endposition nach oben zeigt.
"Deine Schlaghand, also rechts, bleibt in Deckungsposition und die Führhand, also links, kommt nach dem Schlag auch schnellstmöglich zurück in die Deckung", erklärt er geduldig.
Ich bin überrascht davon, wie gut er erklären kann. Scheint, als würde er das nicht zum ersten Mal jemandem beibringen.
Er macht mir den Bewegungsablauf noch einmal vor: Hände vors Gesicht, linke Hand blitzschnell gerade nach vorne, die Faust dabei gedreht, und dann genauso zügig wieder zurück vors Gesicht.
Dann nickt er mir auffordernd zu. Jetzt bin ich dran. Ich imitiere seine Bewegungen so gut es geht und sehe ihn fragend an. "So?"
Essad schüttelt den Kopf. Er tritt hinter mich und ist mir plötzlich ganz nah. Seine Hüfte berührt meinen Hintern, meine Schultern lehnen an seiner Brust. Er greift um mich herum, umschließt meine Handgelenke mit seinen Händen und führt die Bewegung gemeinsam mit mir aus.
"Immer auf die Drehung achten und schnell wieder in die Deckung zurück."
Nachdem Essad mir einige Grundschläge gezeigt hat, schlüpft er mit seinen Händen in zwei Pratzen.
Wieder erklärt er mir geduldig die Bewegungen und gibt dann Schlagkombinationen vor, die ich ausführen soll. Dabei fordert er mich immer wieder auf, härter zuzuschlagen. Anfangs habe ich noch Hemmungen, schließlich will ich ihm nicht wehtun, doch die fallen schnell, als er mir klarmacht, dass er sonst ganz andere Schläge einsteckt.
Essads Erklärungen sind klar und präzise, und ich merke, dass meine Schläge stärker und gezielter werden. Wir haben viel Spaß miteinander, albern trotz aller Konzentration zwischendurch herum und es tut mir wirklich gut, meinen Frust herauszulassen. Es ist, als ob der ganze Stress von mir abfallen würde - so wie Essad es mir gesagt hat.
Nach einer guten Stunde bin ich völlig erschöpft. Ich mache eine Pause, trinke etwas Wasser und schaue mich interessiert in dem Boxclub um.
An einer Wand entdecke ich mehrere Vitrinen, in denen die Erfolge der Boxer ausgestellt sind. Jeder professionelle Boxer hat seinen eigenen Schrank, der oben mit einem Bild und dem Namen der Person versehen ist. Ich sehe mich suchend um, bis ich ESSAD SALAH auf einer der gravierten Metallplatten entdecke.
Essads Vitrine ist prall gefüllt mit einigen gerahmten Fotos von besonderen Kämpfen, einem Paar Kinder-Boxhandschuhe sowie unzähligen Gürteln, Medaillen und Pokalen in strahlendem Gold.
Ich bin beeindruckt und bewundere ihn offen: "Wow! Scheint, als hättest du ab und an mal gewonnen," sage ich neckisch.
Er tritt hinter mich, der Stolz steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er kommt mir so nah, dass ich die Hitze spüren kann, die von seinem verschwitzten Körper ausgeht.
"Ab und zu", grinst er zufrieden. Er deutet auf die kleinen, roten Boxhandschuhe. "Das waren meine ersten Handschuhe. Als ich damals mit meinen Eltern von Palästina nach Deutschland gekommen bin, war ich sechs Jahre alt und musste sofort in die Schule, obwohl ich kein Wort Deutsch konnte. Aber ich war schon immer groß und furchtlos, und so habe ich meine Konflikte mit Fäusten statt mit Worten gelöst. Mein Vater fand das richtig scheiße", lacht er, bei der Erinnerung. "Deshalb hat er mich in einen Boxverein gesteckt, damit ich meine Energie da rauslassen kann und lerne, meine Wut zu kontrollieren. Wir hatten keine Kohle und Baba hatte auch keine Ahnung, also hat er mir irgendwelche billigen Boxhandschuhe aus einem Spielzeuggeschäft gekauft. Die da. Ich habe das ganze erste Jahr mit ihnen trainiert. Ich habe mich sofort ins Boxen verliebt und jeden Tag wie ein Wahnsinniger trainiert. Nach einem Jahr hat mein Trainer mich zu meinem ersten Kampf angemeldet. Er war der Meinung, dass ich Talent habe und dass meine harte Arbeit belohnt gehört, deshalb hat er mir meine ersten richtigen Boxhandschuhe geschenkt. Sie waren von Benlee, für mich damals unbezahlbar teuer und ich war so stolz. Ich habe sie gehütet wie meinen Augapfel."
Gebannt höre ich Essads Erzählung zu. Ich finde es schön, wie er sich mir öffnet. Obwohl er kein besonders emotionaler Mensch ist, scheint das Boxen, seine Leidenschaft, sein wunder Punkt zu sein.
"Hast du den Kampf gewonnen?", hake ich nach.
Seine dunklen Augen leuchten. "Na klar. Schon in der zweiten Runde."
"Wurde dir auch mal richtig weh getan?"
Er nickt. "Ich hatte schon zwei oder drei Mal die Nase gebrochen, Rippenfrakturen, Gehirnerschütterungen. Und natürlich ein Dutzend Platzwunden. Aber alhamdulillah nie was ernstes."
Ich verziehe leidend mein Gesicht. "Ich habe kurz überlegt, ob ich mir nicht mal einen Kampf von dir anschauen soll, aber soeben habe ich mich dagegen entschieden."
Essad lacht leise, seine braunen Augen funkeln amüsiert und sein Gesicht wirkt ungewöhnlich weich. "Es ist nicht immer so brutal, wie es klingt. Aber ich verstehe, warum du das nicht sehen willst. Meine Mutter hat bis heute keinen einzigen meiner Kämpfe gesehen."
"Das ist krass."
"Ja, sie wollte mich nie leiden sehen. Aber dadurch hat sie mich auch noch nie gewinnen sehen", erklärt er schwermütig. "Mein Vater hingegen hat noch keinen einzigen Kampf von mir verpasst. Er ist mein größter Fan", erzählt mit stolzgeschwellter Brust.
Ich lächele ihm zu und betrachte noch einmal seine Vitrine. "Du hast wirklich viel erreicht. Echt beeindruckend."
"Ich habe früh angefangen und nie aufgegeben," antwortet er bescheiden.
Seine Leidenschaft und sein Erfolg imponieren mir, und ich fühle mich ihm näher als je zuvor. Essad erwidert meinen tiefen Blick und für einen Moment herrscht eine angenehme Stille zwischen uns. Dann lächelt er schief. "Hast du Lust, dass wir noch was essen gehen?"
Ich zucke mit den Schultern. "Wieso nicht."
Zufrieden nickt er. "Wir sind zwar voll verschwitzt, aber muss ja nicht das Grill Royale sein." Er zwinkert mir zu.
Wir räumen gemeinsam auf, obwohl Essad natürlich den Plan hat und ich ihm nur assistiere. Meine Begleitung verabschiedet noch ein paar der Jungs, die in der Halle trainieren, bevor ich ihm nach draußen folge.
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