《• 34 •》
Am nächsten Vormittag, als die Sonne bereits hoch am Himmel steht und ich trotzdem noch im Bett liege, klingelt mein Telefon. Es ist Essad. Ich zögere einen Moment und würde ihn vor Scham am liebsten wegdrücken, doch ich nehme den Anruf an.
"Hey, wie geht es dir?", erkundigt er sich fürsorglich.
"Du meinst nach meiner Glanzleistung gestern?", frage ich selbstironisch. Ich reibe mir über die Schläfe. "Ich habe ein bisschen Kopfschmerzen, aber es geht schon."
"Schade, ich hätte dir einen fetten Kater gewünscht, damit du so eine Scheiße nie wieder machst", erwidert er zynisch.
"Kann ich mir vorstellen", antworte ich zerknirscht. "Essad, es tut mir wirklich leid, wie ich mich gestern benommen habe. Wie ich mit dir geredet habe, dass ich fast in dein Auto gekotzt habe und auch, wie ich dich da bedrängt habe.." Ich sterbe fast vor Scham, als diese Worte meine Lippen verlassen und die Bilder der letzten Nacht meinen Kopf fluten.
Das waren mit Sicherheit die ersten und letzten Cocktails in meinem Leben.
Essad unterbricht mich sanft: "Mach dir keinen Kopf. Ich habe dir gestern schon gesagt, dass alles okay ist. Deshalb habe ich dich auch gar nicht angerufen."
Ich stutze. "Wieso denn?"
"Hast du heute gleich Zeit?"
"Wofür?"
Essad lacht leise. "Ich will dir was zeigen. Vertrau mir einfach."
Ich zögere. Irgendetwas in mir sträubt sich gegen die spontane Einladung, aber gleichzeitig fühle ich mich ihm gegenüber verpflichtet, nach dem was er gestern Abend alles für mich getan hat. Schließlich atme ich tief durch und stimme zu. "Okay, ich bin dabei."
"Sehr gut. Ich hole dich um 16 Uhr ab. Zieh was bequemes an, einen Jogginganzug oder so." Er klingt erleichtert.
Wir beenden das Telefonat und ich richte mich im Bett auf. Was hat Essad vor?
Ein Teil von mir fühlt sich Nael gegenüber schlecht; wie eine miese Verräterin, weil ich kurz nach unserer Trennung so viel Zeit mit einem anderen Mann verbringe. Einem Mann, der bis vor kurzem noch sein Freund war.
Andererseits bin ich Nael auch nichts mehr schuldig. Ich habe mich in unserer Beziehung korrekt verhalten. Ich habe ihn nicht belogen oder betrogen. Was ich jetzt mache, nachdem er mir so viel Unrecht getan und mich so oft verletzt hat, geht ihn nichts mehr an.
Plötzlich verspüre ich den unbändigen Drang, zu schauen, was Nael so treibt. Seit unserer Trennung habe ich sein Instagram-Profil bewusst gemieden. Ich wollte nicht unnötig Salz in meine eigenen Wunden streuen.
Er hat in den letzten 24 Stunden nur drei Sequenzen in seiner Instagram-Story geteilt. Zuerst ein Bild von einem Tisch in einem Restaurant, vor ihm steht ein Burger mit Pommes, gegenüber von ihm sitzt Abedin, das erkenne ich an seinem tätowierten Arm. Immerhin keine Groupies, denke ich im Stillen.
Das zweite Bild ist ein Foto von ihm im Spiegel eines Aufzugs, es müsste der im Gebäude seines Studios sein. Er sieht beschissen aus, blass, gefühlt wird er immer blasser, als würde er gar kein Tageslicht mehr sehen. Edward Cullen sieht gegen ihn aus wie ein Malle-Urlauber. Sein Gesicht wirkt schmal und eingefallen, seine braunen Augen strahlen schon lange nicht mehr.
Im dritten Slide teilt er ein Reel von seiner eigenen Seite.
Ich halte inne. Will ich mir das wirklich antun?
Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht sehe oder seine Stimme höre, kommt alles wieder hoch. All der Schmerz, all die Enttäuschung, all die Wut, die ich mühsam versuche zu verdrängen, bricht aus mir heraus wie die kochend heiße Lava aus einem Vulkan.
Doch ich kann nicht anders, die Neugier treibt mich, auch wenn ich weiß, dass es besser wäre, seine Seite zu meiden. Schweren Herzens drücke ich auf play.
《...》
Baby, ich weiß, dass du weißt, ich zieh' weiß
Wallah, es tut mir so leid
Ich hab' so viele Fehler, bin auf Alkohol und Beyda
Und du weißt, dass ich weiß, dass du weinst
Hast Geheimnisse, schreibst mit mei'm Freund
Baby, bitte geh ma'
Denk nicht, du bist unersetzbar
Es fängt schon wieder an, zweite Kippe in der Hand
Ruf' den Dealer nochmal an und er liefert ein paar Gramm
Ich weiß was ich kann, lass kein' mehr an mich ran
Regel, nummer eins: "Vetrau' niemandem was an"
Hab' gedacht, du wärst mein Ende
Was ein Gefühl, das Blatt hat sich gewendet
Freunde werden Feinde, wer sind meine Brüder?
Traue keinem mehr von früher.
《...》
Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, was Nael da gemacht hat.
Ich spiele das Video erneut ab.
Ich hab so viele Fehler, bin auf Alkohol und Beyda.
Dass er sich nicht schämt, das auch noch öffentlich zuzugeben. Ist er etwa stolz darauf?
Hat er keine Angst, dass seine Eltern das sehen? Dass meine Eltern das sehen?
Die ganze Welt kann es sehen, verdammt nochmal. Verachtung macht sich in mir breit.
Es ist jedoch der nächste Satz, der mir vollends den Boden unter den Füßen wegzieht.
Hast Geheimnisse, schreibst mit mei'm Freund.
Mir bleibt beinahe die Spucke weg. Was fällt ihm nur ein, mich in so ein schlechtes Licht zu rücken? Er tut ja beinahe so, als hätte ich unsere Beziehung zerstört, indem ich ihm fremdgegangen bin.
Und das Schlimmste ist: Jeder, der diese Zeilen hört, wird dasselbe denken.
Ich öffne WhatsApp und klicke auf seinen Chat. Er hat kein Profilbild mehr drin, das gemeinsame Foto von uns hat er nach unserer Trennung gelöscht, und kurz zweifele ich daran, ob er mich vielleicht sogar blockiert hat.
"Dass du dich nicht schämst! Die Drogen haben dir wohl mittlerweile völlig das Hirn vernebelt, wenn du schon so eine verzerrte Wahrnehmung hast! Erzähl mir nie wieder dass du mich liebst, du scheiß Lügner! Und hör endlich auf, über mich zu rappen! Wir beide sind Geschichte", tippe ich voller Wut, doch ich schicke es nicht ab. Stattdessen lösche ich Buchstaben für Buchstaben alles wieder und lege mein Handy beiseite. Es bringt einfach nichts. Die Mühe kann ich mir sparen. Ich habe keine Kraft mehr für eine Diskussion, bei der am Ende eh nichts heraus kommt.
Mühsam erhebe ich mich aus dem Bett. Es wird Zeit mich fertig zu machen, schließlich holt Essad mich gleich ab und aufgrund von Naels Worten, die er verpackt in einen Songtext, unterlegt mit einem melancholischen Beat, an mich gerichtet hat, habe ich auch gar nicht mehr so ein schlechtes Gewissen dabei.
Ratlos stehe ich vor meinem Kleiderschrank. "Was bequemes, einen Jogginganzug oder so", hallen Essads Worte in meinem Kopf nach. Ich wühle mich durch meine Klamotten, probiere verschiedene Sachen an, bis ich mich schließlich für eine dunkelblaue Sportleggings, ein weißes Top und eine hellblaue, kurze Sweatshirt-Jacke entscheide.
Gedankenverloren laufe ich aus meinem Zimmer, als mir plötzlich Zayn entgegen kommt.
"Du hast es auch gehört, oder?", fragt er und ich erkenne die Wut in seinen Augen. Schweigend nicke ich. Ich brauche nicht zu fragen, was er meint. Er redet von Naels neuesten lyrischen Ergüssen.
"Ich habe ihn direkt angerufen", verkündet Zayn.
"Was soll das bringen? Ich habe manchmal das Gefühl, der kriegt gar nichts mehr mit."
"Ist mir scheißegal, was in seiner benebelten Birne vorgeht, aber der Pisser soll aufhören, über dich zu rappen. Ich habe ihm das schon mehrfach verboten, und er macht es trotzdem immer wieder." In Zayns Augen lodert ein Feuer des Zornes. Auch ihm scheint klar zu sein, was Naels Worte über mich suggerieren.
Mein Bruder mustert mich und legt den Kopf schief. "Wo willst du eigentlich hin?"
"Bin verabredet", antworte ich vage.
"Mit?", er stellt sich mir demonstrativ in den Weg.
Ich rolle mit den Augen, schiebe mich an ihm vorbei ins Badezimmer und beginne desinteressiert, meine langen Haare zu kämmen, doch mein Bruder folgt mir.
"Mit wem bist du verabredet, Shalia? Mit einem Typen oder was?"
Ich lache seinen Vorwurf weg und wäge ab, ob es besser ist, ihn anzulügen oder ihm zu offenbaren, dass ich mich mit Essad treffe. Kurzentschlossen wähle ich letzteres.
"Ich treffe mich mit Essad."
Stille. Ungläubig sieht Zayn mich an. Er verschränkt die Arme und zieht die Augenbrauen zusammen.
"Was für Essad? Meinte Nael das, als er gesagt hat: "Schreibt mit meinem Feind"? Ist da etwa was dran? Ich dachte, der spinnt einfach rum."
"Natürlich spinnt Nael rum. Essad und ich sind nur Freunde, mehr nicht."
"Nur Freunde?" Er baut sich vor mir auf, seine Augen funkeln angriffslustig. "Essad und ich sind Freunde, Essad und Nael sind Freunde, aber Essad und du - ihr seid ganz bestimmt nicht einfach nur Freunde. Es gibt keine Freundschaft zwischen Mann und Frau."
Ich winke ab und tusche mir konzentriert im Spiegel die Wimpern. Erst danach wende ich mich wieder Zayn zu. "Glaub es oder lasse es", sage ich schulterzuckend.
"Vielleicht ist da von deiner Seite aus nicht mehr, aber Essad hat gewiss andere Absichten. Der war schon früher hinter dir her."
Mir fällt fast alles aus dem Gesicht. "Was redest du da? Wie kommst du denn auf das schmale Brett?"
Dass Essad Interesse an mir hat, weiß ich selbst. Mich wundert jedoch, woher Zayn wissen will, dass das schon lange so ist.
"Er hat mich ein paar Mal gefragt, ob er sich mal mit dir treffen kann, weil er dich gerne kennenlernen würde. Ich habe ihm aber gesagt, dass ich das nicht will, weil ich nicht will, dass meine Schwester einen Freund von mir datet. Und im Gegensatz zu Nael, der auf mich geschissen hat, hat Essad sich daran gehalten."
Außer halt auf Lounis' Hochzeit, als er mich um ein Treffen gebeten hat, denke ich mir, doch ich beiße mir auf die Zunge.
"Na also, dann hast du ja nichts zu befürchten", entgegne ich leichtfertig und lasse ihn wieder stehen, um meine Schuhe anzuziehen.
Mich irritiert, dass es Essad so ernst war, dass er sogar meinen Bruder um Erlaubnis gebeten hat, doch ich lasse mir das vor Zayn nicht anmerken. Bisher dachte ich immer, die Frage nach einem Date sei eine spontane Idee von ihm gewesen, ein undurchdachter Schnellschuss, weshalb ich ihr auch nie mehr Beachtung geschenkt habe.
Zayn bleibt im Türrahmen des Badezimmers stehen und fixiert mich weiterhin mit seinem Blick.
"Weißt du was?", fragt er dann, seine Stimme ernst. Ich blicke auf und sehe ihm direkt in seine enttäuschten Augen. "Ich mag die neue Shalia irgendwie nicht."
Ich starre ihm tief in die Augen und gehe zwei Schritte auf ihn zu. "Oh Zayn, das tut mir wirklich leid. Das nächste Mal frage ich dich um Erlaubnis, bevor mir das Herz gebrochen wird. Nicht dass ich mich sonst noch verändere, weil ich versuche, irgendwie mit dem Schmerz klarzukommen."
Ich rede schneller, als ich denken kann und sobald die Worte meinen Mund verlassen haben, tut es mir schon wieder leid.
Niemand war bei dieser ganzen Scheiße so an meiner Seite wie Zayn. Mein großer Bruder hat sich tausendmal mein Geheule angehört, mich getröstet und immer wieder aufgebaut. In keiner Sekunde hat er mich alleine gelassen und das, obwohl er derjenige war, der von Anfang an gegen unsere Beziehung war, um nie zwischen den Stühlen stehen zu müssen.
Ich weiß nicht, ob Naels Drogenkonsum und seine Wesensänderung die beiden nicht sowieso ihre Freundschaft gekostet hätten, aber ich weiß, dass mein Bruder nicht gezögert hat, immer auf meiner Seite zu stehen.
Was ich gerade zu ihm gesagt habe, war einfach nicht fair.
Ich atme tief durch. "Ana asif, Zayn", entschuldige ich mich reumütig. "Das war nicht fair. Mich nervt es einfach nur, dass Nael sich an Essad aufhängt und ständig versucht, mir irgendeinen Betrug anzudichten, sogar einen fucking Song darüber schreibt, um sich bloß seine eigenen Unzulänglichkeiten nicht eingestehen zu müssen. Dass du jetzt auch noch auf den selben Zug aufspringst, hat mich einfach sauer gemacht. Wahayat Allah, ich habe Nael nie betrogen. Essad ist ein guter Junge. Er ist für mich da, er hilft mir, er versucht mich abzulenken. Wir verstehen uns wirklich gut. Er tut mir gut. Und egal, was er für mich empfindet: für mich ist er nur ein Freund und das habe ich von Anfang an klar gestellt."
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