《• 1O •》

"Ich habe heute endlich wieder sturmfrei. Willst du nach der Schule zu mir kommen?", flüstert Nael mir verschwörerisch zu und seine hellbraunen Augen glitzern vorfreudig. Er trägt eine beige Cargohose und ein einfaches, weißes T-Shirt und sieht wie immer viel zu gut aus.

Wir haben uns per SMS dazu verabredet einen Toilettenbesuch vorzutäuschen, um uns kurz heimlich auf dem Schulflur zu treffen. In den letzten zwei Wochen haben wir uns nur im JuZe und in der Schule gesehen und allenfalls durch Aktionen wie diese ein paar vereinzelte Minuten zu zweit gehabt.

Mittlerweile geht unser bittersüßes Versteckspiel schon drei Monate. Nachdem es in den ersten Wochen mit unseren heimlichen Dates gut geklappt hat, gab es nun eine kleine Durststrecke und ich bin froh, dass diese heute ein Ende zu haben scheint.

Eifrig nicke ich. "Ich sage Mama, dass ich bei Yara bin. Sollen wir uns was zu essen bestellen? Ich habe so Lust auf Pizza", schlage ich vor und lasse den Saum meines schwarzen Adidas Shirts durch meine Finger gleiten, welches ich zu einer lockeren Momjeans kombiniert habe.

"Alles was du willst, mein Herz", antwortet er und streicht mit seinem Zeigefinger leicht über meinen Unterarm, sodass meine Haut unter seiner Berührung angenehm prickelt.

"Ich will dich küssen", antworte ich daraufhin wie aus der Pistole geschossen und sehe tief in seine runden, braunen Augen. Wir stehen zwar abseits in einer relativ unbeobachteten Ecke, doch das Risiko ist immer noch zu hoch, dass uns hier jemand erwischt.

Nael greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Wir laufen einige Meter den Flur entlang, bevor er sich kurz umsieht und dann eine Tür öffnet.

Schnell schiebt er mich durch die Tür, folgt mir und zieht die Tür geräuschlos hinter uns ins Schloss.

Die kleine Kammer, die zur Aufbewahrung von Reinigungsmitteln, Putzlappen und ähnlichem Zeug dient, ist stockdunkel. Einzig und allein durch einige Belüftungsschlitze in der Decke dringt ein wenig Licht in den Kabuff und durchbricht die Dämmerung.

Meine Augen probieren gerade sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, da nimmt Nael mein Gesicht zwischen seine großen Hände.

Mein Herz schlägt schneller und mein Atem wird vor lauter Aufregung flacher. Federleicht legt er seine Lippen auf meine und küsst mich so gefühlvoll, dass meine Knie weich werden.

Seine vollen Lippen liebkosen die meinen, sein Daumen streichelt sanft über meine Haut und dann schiebt er seine Zunge zärtlich in meinen Mund.

Unsere Zungen spielen miteinander, umkreisen sich und jeder Zentimeter meiner Körpers kribbelt voller Aufregung.

Es ist bereits einige Zeit her, dass wir unseren ersten, "richtigen" Kuss hatten, doch die Magie, Nael so nah zu spüren, hat bis heute nicht abgenommen. Ich würde ihn am liebsten den ganzen Tag lang küssen, mit ihm kuschelnd in seinem Bett liegen, seine Nähe genießen und seinen vertrauten Geruch noch Stunden später wie ein Souvenir auf meiner Haut tragen.

Als wir es irgendwann endlich schaffen uns voneinander zu lösen, legt Nael seine Hände an meine Taille und presst meinen schmalen Körper näher an sich.

"Du weißt gar nicht, wie viel du mir bedeutest, Shalia", wispert er in mein Ohr.

Ein Schauer geht mir über den Rücken und ich drücke ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. "Du mir auch", antworte ich leise. Nael ist der beste Fehler meines Lebens und sollte uns jemals jemand erwischen, weiß ich hundertprozentig dass er und die Zeit mit ihm jeden Ärger wert waren.

"Lass uns wieder in den Unterricht gehen. Wir sehen uns später bei mir, okay?"

"Okay", antworte ich und drücke den großen Mann kurz. Er haucht mir einen zuckersüßen Abschiedskuss auf die Stirn, bevor wir uns wieder heraus auf den Flur schleichen. Nael schenkt mir noch ein Herzerwärmendes Lächeln, dann trennen sich unsere Wege vorerst wieder.

...

"Kommst du heute ins JuZe?", fragt Yara nach Schulschluss, als wir gemeinsam zur Bahnhaltestelle laufen. Ich schüttele mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht den Kopf.

"Hat er sturmfrei?", schlussfolgert sie treffsicher. Ich nicke selig. "Ich bin so neidisch man. Ihr seid ja noch süßer als Romeo und Julia."

"Nur ohne das Gift", gebe ich lachend zurück.

"Zum Glück", pflichtet sie mir bei. "Ich will auch eine heimliche Liebe."

"Du hast doch keine drei Brüder, die dir irgendwas verbieten. Du kannst einfach nur lieben, das ist viel schöner", erinnere ich sie.

"Nur fehlt mir der Kerl dazu", seufzt sie leidend. "Mein Nael ist nirgends zu finden."

"Weißt du worüber ich letztens nachgedacht habe? Eigentlich entspricht Essad doch genau deinem Geschmack."

Yara legt den Kopf schief und überlegt kurz. "Eigentlich schon. Aber selbst wenn er mich wollen würde, würde nichts zwischen uns laufen wegen Jibrail."

1:0 für Yara. Diesen Punkt habe ich nicht bedacht. Essad würde seinem besten Freund, der schon seit Ewigkeiten in meine hübsche, blonde Freundin verliebt ist, nicht in den Rücken fallen.

"Wir finden schon noch einen Mann für dich. Im Zweifelsfall habe ich auch noch zwei Brüder, die du haben kannst", grinse ich.

Sie winkt ab. "Zayn ist wie mein eigener Bruder. Ihn zu küssen würde sich für mich bestimmt anfühlen wie Inzest. Und Kinan sieht zwar gut aus, aber wir viben kein bisschen miteinander."

"Vielleicht könnt ihr das ja am Samstag ändern", zwinkere ich ihr zu.

Samstag ist es endlich soweit und mein ältester Bruder Lounis wird endlich seine Verlobte Ilayda heiraten.

Die beiden sind bereits seit ihrer Schulzeit zusammen und Lounis hat unseren Eltern auch relativ früh von der Beziehung erzählt.

Ilayda ist keine Araberin, sondern Türkin, weshalb mein Vater anfangs gegen die Beziehung war und sich auch offen gegen eine mögliche Heirat ausgesprochen hat. Doch Lounis war das egal. Er hat immer an Ilayda und der Beziehung festgehalten und nach Jahren, in denen er immer wieder gesagt hat, dass er sie heiraten wird und dass es daran auch nichts zu rütteln gibt, hat meine Mutter sich irgendwann bei meinem Vater für die beiden eingesetzt.

"Waseem", hat sie ernst gesagt. "In einer Zeit wie dieser, in der jeder nur auf sein Vergnügen aus ist und die Jugendlichen ihre Beziehungen wechseln wie ihre Unterwäsche, hat dein Sohn ein Mädchen gefunden, an der er seit nunmehr sieben Jahren festhält, trotz aller Schwierigkeiten und aller Veränderungen haben die beiden immer zusammengehalten. Es hat für sie nie eine Rolle gespielt, wie viele Möglichkeiten es da draußen noch gibt, dass sie sich ausprobieren wollen oder so einen Quatsch, stattdessen sagt unser Junge dir seit knapp sieben Jahren, also seit einem Drittel seines gesamten Lebens, dass er dieses Mädchen heiraten will. Wer also sind wir, ihm seine große Liebe vorzuenthalten? Sie ist sogar Muslima, da kann es uns doch egal sein, ob ihr Urgroßvater vor Jahren mal aus der Türkei oder aus dem Libanon kam, bevor sowohl sie als auch Lounis ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben. Dein Sohn ist glücklich und das ist das Wichtigste."

Zunächst war Baba dann auch auf Mama sauer, aber weil diese sich davon vollkommen unbeeindruckt zeigte und konsequent an ihrer Meinung festhielt, hat er sich nach einiger Bedenkzeit und unter der Bedingung, Ilayda solle sich bitte bemühen Arabisch zu lernen, damit die Sprache seinen Enkelkindern nicht verwehrt bleibt, darauf eingelassen einer Hochzeit der beiden zuzustimmen.

Lounis wollte zuerst seine Lehre abschließen und auf eigenen Beinen stehen, um Ilayda etwas bieten zu können, bevor er heiratet. Im Sommer letzten Jahres war es dann so weit und wir sind alle zu Ilaydas Familie gegangen und Lounis hat bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten.

Bereits letztes Jahr haben wir die Verlobung der beiden groß gefeiert und nun steht das Wochenende mit dem Hochzeitsmarathon an: Henna-Abend, standesamtliche Hochzeit und am Wochenende die große Party mit all unseren Freunden und der Familie.

Yara ist natürlich eingeladen, Jibrail, Essad und auch Nael und seine Familie werden zur Hochzeit kommen so wie zahlreiche andere Freunde und Verwandte.

Ich habe letzte Woche endlich das perfekte Kleid für diesen feierlichen Anlass gefunden und freue mich schon darauf, dass Nael die Augen aus dem Kopf fallen werden, wenn er mich Samstagabend darin sieht.

"Das glaube ich nicht. Da ist es dann doch wahrscheinlicher, dass ich Zayn heirate", grinst Yara und holt mich mit ihrer Bemerkung wieder zurück ins hier und jetzt.

"Heiß findest du ihn ja eh", necke ich sie. Wir kommen an der Bahnhaltestelle zum Stehen.

"Ich bin mir sicher, dass Zayn mal eine Deutsche heiratet", erkläre ich nachdenklich.

"Passt doch", lacht sie und drückt mir einen schnellen Kuss auf die Wange. "Viel Spaß bei Nael. Ruf mich danach an, ja?"

Ich nicke ihr zu und steige zügig in die Bahn, die schon an der Haltestelle steht.

Knapp eine Viertelstunde später kann ich mich endlich wieder von Nael in die Arme nehmen lassen.

"Ich habe eine Überraschung für dich", eröffnet er mir noch an der Tür. Ich streife meine Turnschuhe von den Füßen und sehe ihn fragend an.

"Komm mit", fordert er mich auf und läuft vor zum Wohnzimmer.

Langsam öffnet er die Tür einen Spalt breit. "Erinnerst du dich noch daran, was du am Anfang gesagt hast? Wenn wir uns auf eine heimliche Beziehung einlassen, dann können wir nie etwas zusammen unternehmen, nicht mal miteinander essen gehen."

Wie in Zeitlupe schiebt er die Tür weiter auf. In mein Gesicht stehen noch immer riesige Fragezeichen geschrieben und ich habe nicht die geringste Ahnung, was mich gleich erwartet.

"Ich weiß, du hattest Lust auf Pizza, aber ich hoffe, das hier ist auch okay. Wenn wir nicht ins Restaurant gehen können, dann muss das Restaurant eben zu uns kommen."

Endlich schaffe ich es, einen Blick an Nael vorbei ins Wohnzimmer zu werfen. Der Esstisch aus dunkelbraunem Echtholz ist mit einer weißen Tischdecke und Untersetzern aus Rattan geschmückt. Darauf steht feines, weißes Geschirr, zwei Gläser und silbernes Besteck. In der Mitte brennen einige Stabkerzen in einem schwarzen Leuchter und sogar ein Strauß Blumen unterstreicht die feierliche Atmosphäre.

Der Geruch, der in der Luft liegt, lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf dem Tisch steht Mujaddara, mein absolutes Lieblingsgericht solange ich denken kann. Es ist ein einfaches Gericht aus Reis und Linsen, getoppt mit frittierten Zwiebeln, das man mit Joghurt isst.

"Hast du das etwa gekocht?", frage ich mit großen Augen. Stolz nickt er. "Du hast dir gemerkt, dass das mein Lieblingsgericht ist und dann hast du hier so aufgefahren, weil ich gesagt habe, dass wir niemals essen gehen können?" Nael nickt wieder.

Ich bin so gerührt, dass ich schlucken muss. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. "Danke", sage ich leise. Zu mehr bin ich vor lauter Rührung nicht in der Lage.

"Nur das Beste für dich", flüstert er zurück.

Wir setzen uns an den Tisch und essen. Das Gericht schmeckt zwar nicht wie bei meiner Mama, aber es ist trotzdem unglaublich lecker und die Mühe, die Nael sich für mich gemacht hat, schmeichelt mir zutiefst.

Nach dem Essen räumen wir zusammen den Tisch ab und verschwinden in Naels Zimmer um noch einen Film zu schauen. Wir haben uns gerade auf sein Bett gesetzt, da reicht Nael mir eine kleine schwarze Schachtel, die auf seinem Nachttisch lag. "Was ist das?", frage ich irritiert und betrachte die Schachtel in meiner Hand skeptisch.

"Schau halt rein", lacht er und nickt mir zu.

Langsam öffne ich den Deckel und traue meinen Augen kaum. Auf einem dunkelroten Satinboden liegt ein goldenes Armband. In der Mitte ist ein Nazar, ein augenförmiges Amulett aus dunkelblauen, klaren und türkisen Strasssteinen, links und rechts daneben sind zwei ovale, in Gold gefasste Strasssteine und wiederum daneben zwei runde. Den Rest des Armbands bildet eine schmale, goldene Ankerkette.

"Damit du immer vor bösen Blicken geschützt bist, sollte ich mal nicht bei dir sein", erklärt er, nimmt vorsichtig das Kettchen aus der Schachtel und legt es mir um das Handgelenk. Geschickt hakt er den Karabiner in den Verschluss und betrachtet mein Handgelenk zufrieden.

Ich starre auf das Armband und kann nicht mehr verhindern, dass mir eine salzige Träne über die Wange läuft.

"Gefällt es dir nicht?", fragt Nael alarmiert.

Ich lache auf. "Machst du Witze?", schluchze ich. Eine weitere Träne rinnt über mein Gesicht. "Es ist wunderschön. Es ist perfekt. Ich liebe es. Ich liebe dich." Die letzten drei Worte rutschen mir schneller über die Lippen, als ich darüber nachdenken kann, doch ich bereue sie nicht. Es ist die Wahrheit. Ich liebe Nael und nach allem, was er für mich getan hat und wie sehr er sich meine Liebe erkämpft hat, hat er diese magischen drei Worte verdient.

Nael küsst zärtlich meinen Handrücken und sieht mir dann tief in die Augen.

"Ich liebe dich auch, Shalia."

Er legt seine Hand sanft an meine Wangen und küsst mich. Ich schließe die Augen und erwidere den Kuss, bin gerade dabei, mich voll und ganz fallen zu lassen, da bleibt plötzlich mein Herz stehen.

Ein Schlüssel knackt im Schloss.

Die Wohnungstür wird aufgeschoben.

Fuck.

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Meine Lieben,

Was sagt ihr zu der Überraschung?

Denkt ihr auch, Nael hat die magischen drei Worte verdient?

Alles Liebe,
A.

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