《• 19 •》
Als ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen lasse, umfängt mich die Stille meines Zuhauses. Offenbar sind meine Eltern mit Lamiya unterwegs, und Zayn scheint noch nicht zurück zu sein. Vermutlich muss er den Schock erstmal verdauen.
Gott sei Dank.
Ich lasse meinen Tränen freien Lauf, schlage mir schluchzend die Hände vor das Gesicht und lasse mich kraftlos zu Boden sinken. Der Tag begann so wunderbar, aber jetzt ist alles so kompliziert und verworren, beinahe aussichtslos.
Nael hat mir den schönsten Moment meines Lebens geschenkt, doch jetzt, nur wenig später, fühle ich mich so verloren. Es fühlt sich an, als wäre meine ganze Welt zusammengebrochen. Die Emotionen überwältigen mich und mein Herz tut so weh, dass ich zwischenzeitlich denke, ich kriege keine Luft mehr und muss sterben.
Als plötzlich aus dem Nichts Schritte neben mir über den Laminat tapsen, erschrecke ich mich beinahe zu Tode.
Ich reiße den Kopf hoch und schaue geradewegs in Kinans dunkelbraune Augen, der mich genauso erschrocken ansieht, wie ich ihn.
Dass der Lockenkopf in seinem Zimmer sein könnte, habe ich nicht bedacht.
"Shalia, was ist los?", fragt er besorgt und streckt seine Hand nach mir aus. "Komm, steh mal vom Boden auf."
Ich nehme seine Hand und lasse mir von ihm hochhelfen. Sanft bugsiert er mich ins Wohnzimmer, schiebt mich auf die bequeme Sofalandschaft und reicht mir ein Kosmetiktuch aus der hübsch verzierten Metallbox auf dem Couchtisch.
"Was ist passiert? Wieso weinst du?", fragt er sanft und setzt sich neben mich.
Aus leeren Augen sehe ich ihn an. "Ich habe Streit mit Zayn", antworte ich vage und schnäuze meine Nase in dem weichen Taschentuch.
"So schlimm, dass du so doll weinst?", hakt er nach und legt den Kopf schief. Ich nicke.
"Worüber habt ihr euch denn gestritten?"
Ich atme tief durch und sage frei heraus: "Ich habe eine heimliche Beziehung mit Nael."
Kinan nickt verständnisvoll. "Ja, das habe ich mir schon gedacht, dass das ihm nicht gefallen wird", erwidert er mit einem Achselzucken.
Ich könnte schwören, dass mir in dem Moment alles aus dem Gesicht fällt und dicke Fragezeichen über meinem Kopf zu tanzen beginnen.
Mein Bruder lacht sein schelmisches Lachen, um seine Mundwinkel bilden sich kleine Grübchen. "Ach komm, ihr wart schon echt auffällig. Zayn ist einfach nur so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er das nicht mitbekommen hat."
"Du wusstest davon?", frage ich ungläubig.
"Ja, seit ein paar Monaten schon. Ich habe was geahnt und Faizal darauf angesprochen. Der hat mir erzählt, dass er euch alleine in Naels Zimmer erwischt hat und ihr eure geheime Beziehung zugegeben habt."
Meine Augen weiten sich noch mehr und mir bleibt die Spucke weg. "Aber-", stottere ich. "Wieso hast du nie was gesagt?"
Er zuckt lässig mit den Schultern. "Weil's mich nichts angeht. Du mischst dich ja auch nicht darin ein, was ich so alles treibe."
Vor lauter Schreck und Überforderung habe ich aufgehört zu weinen. Niemals hätte ich mit einer solchen Reaktion von Kinan gerechnet.
"Ernsthaft, mich juckt das nicht, solange du glücklich bist, Shalia. Du bist erwachsen genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Aber ich habe auch von Anfang an gewusst, dass Zayn ganz anders reagieren wird. Du kennst ihn doch - er ist sehr beschützend, besonders wenn es um dich geht. Und ehrlich gesagt, wir würden uns genauso fühlen wie er, wenn wir an seiner Stelle wären. Sein bester Freund und sein siamesischer Zwilling lügen ihn monatelang an und führen ihn hinters Licht - kein cooles Gefühl."
"Ich weiß, Kinan, aber was hatte ich denn für eine Wahl? Schon als die ersten Funken zwischen Nael und mir geflogen sind, hat Zayn interveniert und uns beiden mit Nachdruck dazu geraten, bloß die Finger voneinander zu lassen. Wallah, das wollten wir auch, glaub mir, aber die Gefühle waren so stark, dass wir uns irgendwann einfach nicht mehr dagegen wehren konnten."
"Kann ich mir vorstellen. Ich sage ja auch gar nicht, dass ich dich nicht verstehe. Ich sage nur, dass ich Zayn halt auch verstehen kann."
"Ich kann ihn doch auch verstehen, aber weißt du, was er gesagt hat?", frage ich verärgert. Kinan schüttelt den Kopf, seine dunklen Locken hüpfen dabei wild um seinen Kopf.
"Er hat Nael gefragt: "Es gibt so viele Weiber da draußen und du fickst ausgerechnet meine kleine Schwester?""
Kinan zieht scharf die Luft ein und streicht sich mit schmerzlich verzogenem Gesicht über seinen Dreitagebart. Einen Moment herrscht Stille, dann legt mein Bruder den Kopf schief und fragt: "Hat er denn?"
Entrüstet schüttele ich den Kopf. "Nein Kinan! Was ist denn los mit euch?"
"Mein Gott", gibt er genervt zurück und dreht die Augen. "Als wäre das ein Staatsverbrechen. Klar, ich finde es auch besser, wenn du damit wartest, aber ist jetzt nicht so, als wären Zayn und ich die heiligen Jungfrauen, die bei dem Thema groß den Mund aufreißen dürfen."
Wieder einmal bin ich überrascht, wie unterschiedlich wir Geschwister sind. Kinan ist seit jeher ein Freigeist. Er liebt das Leben in allen Facetten und macht keinen Hehl daraus, dass er von Traditionen und der konventionellen Lebensweise unserer Eltern nicht besonders viel hält - zumindest nicht genug, um sich selbst daran zu halten.
Er ist nicht der Mann, den ich in fünf Jahren mit einer Frau und zwei Kindern sehe, sondern eher der ewige Junggeselle, der auch mit Mitte dreißig noch Nächte durchfeiert und sich morgens um fünf Uhr angetrunken einen Cheeseburger reinzieht.
Aber auch das ist okay. Vor allem, da er der Toleranteste ist, wenn es darum geht, auch andere Lebensweisen zu akzeptieren.
Er ist der erste Mensch, der so offen mit mir über die erste Beziehung oder Sex spricht.
"Mit wem hattest du denn dein erstes Mal?", frage ich vorsichtig, ein bisschen beschämt. Zu sagen, dass ich kein Interesse an Sexualität habe, wäre gelogen. Trotzdem bin ich mit der Ansicht aufgewachsen, dass man darüber nicht spricht, besonders nicht als Frau und erst recht nicht vor der Ehe.
Ich weiß, dass Yara schon mit Jungs geschlafen hat, doch wir reden kaum über dieses Thema. Was soll ich schließlich auch erzählen? Und sie neugierig nach ihren Erfahrungen auszufragen war mir bisher immer unangenehm.
Kinan lehnt sich auf der Couch zurück. "Mit Paulina", grinst er. "Ich fand sie schon immer toll und irgendwann nach einer Party hat sich das ergeben."
"Und wie alt warst du? Wie war es? Wart ihr zusammen oder war das nur einmalig?", sprudelt es aus mir heraus.
"Boah, bist du neugierig." Er zieht die Knie an und legt sein Kinn darauf ab. "Ich war sechzehn, wir waren nicht zusammen und es war nicht so gut, ehrlich gesagt. Ich war super aufgeregt, super unerfahren und.. sagen wir mal so: es war auch schnll wieder vorbei. Heute läuft es auf jeden Fall besser", grinst er schief.
"Also war es nicht schön?"
"Nicht wirklich. Es wäre wahrscheinlich schöner gewesen mit jemandem, der mir wirklich was bedeutet, deshalb kann ich dir nur raten, es besser zu machen als ich."
Nachdenklich nicke ich.
"Wenn es bei dir soweit ist, wird es bestimmt schön werden. Mach dir keine Sorgen."
Kinan schnappt sich eine der Kirschen aus der großen, gläsernen Obstschüssel und steckt sie sich in den Mund.
"Wie ist das überhaupt zustande gekommen mit Nael und dir? Ihr kennt euch so lange und plötzlich, nach fünfzehn Jahren, hat es einfach zwischen euch gefunkt oder was?", fragt er aufrichtig interessiert.
"Sozusagen", antworte ich verlegen. ""Also, wir haben uns schon immer gut verstanden und viel zusammen rumgealbert. Aber dann gab es diese Situation im JuZe mit einem aufdringlichen Typen. Nael hat mir geholfen und mich danach getröstet. Dabei ist zwischen uns irgendwie eine besondere Stimmung entstanden, so ein gewisses Knistern. Ich glaube aber, dass Nael schon länger Gefühle für mich hat."
Kinan lächelt verzückt. "Das ist richtig süß", schmunzelt er. "Nael ist auch echt ein guter Junge, ich mag den. Und der würde safe keine Scheiße mit dir machen, also besser, du bist mit ihm zusammen als mit irgendeinem Fremden."
Ich breite meine Hände aus und drehe die Handinnenflächen nach oben. "Das hat Nael auch versucht Zayn zu erklären, aber der wollte da gar nichts von wissen. Der hat das alles nur auf sich bezogen", beschwere ich mich.
"Ja, so ist er, unser kleiner Selbstdarsteller. Fußballer halt. Die haben alle einen Gottkomplex", grinst er, wird dann aber nochmal ernster. "Aber jetzt ehrlich: ich an seiner Stelle wäre auch verletzt. Ihr habt ihm ein Jahr lang was vorgespielt. Aus Respekt vor ihm hättet ihr ihn deutlich eher einweihen müssen. Ist doch klar, dass er jetzt enttäuscht ist. Du musst auf jeden Fall nochmal mit ihm sprechen und dich entschuldigen. Ihr habt so ein enges Verhältnis, das sollte dadurch nicht zerstört werden."
Nun schießen mir doch wieder Tränen in die Augen. "Glaub mir, Kinan, das ist das letzte was ich jemals wollte. Zayn bedeutet mir die Welt - aber Nael eben auch. Ich habe mich nicht gegen Zayn entschieden, sondern für mich", rechtfertige ich mich schluchzend.
Kinan legt seinen Arm um meine Schultern, zieht mich an sich und streicht mir liebevoll über den Kopf. "Lass ihn erstmal runterkommen und versuche morgen nochmal mit ihm zu sprechen. Und komm du jetzt auch erstmal runter. Leg dich hin, ruh dich aus, versuche zu schlafen. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus."
Ich schlinge meine Arme um seinen Bauch und drücke mich an ihn. "Weißt du, manchmal kannst du echt scheiße sein, Kinan, aber eigentlich bist du ein feiner Kerl. Danke, dass du für mich da warst."
Der Lockenkopf drückt mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn, bevor ich aufstehe und mich in mein Zimmer zurückziehe. Ich lege mich in mein Bett und kuschele mich tief in meine Bettdecke. Mein Handy schalte ich stumm, alle ungelesenen Nachrichten ignoriere ich. Ich will heute mit niemandem mehr reden. Die Stimmen in meinem Kopf bieten genug Unterhaltung.
Irgendwann höre ich, wie der Rest meiner Familie nach Hause kommt. Lamiya quietscht vor Freude, meine Eltern unterhalten sich in der Küche. Ich ignoriere sie alle und lausche gespannt auf das Geräusch der Haustür, in Erwartung, dass Zayn endlich nach Hause kommt. Doch bis ich schließlich in einen unruhigen Schlaf falle, ist er noch immer nicht da.
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