Heimat
Ich sitze im Flieger und als die Rotoren brummen, die Maschine auf das Rollfeld fährt und die Anschnalllämpchen aufleuchten, da frage ich mich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder, was Heimat eigentlich ist.
Der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist?
Da, wo die Familie ist?
Überall, wo man sich heimisch fühlt?
Schwierig, denn irgendwie trifft alles zu und dann auch wieder nicht.
Ich fahre gerne ab und an nach Hause zu meiner Familie.
Alles ist dort altvertraut und mit jedem Baum, jeder Straße, dem einstmals roten Stoffbändchen, dass schon seit Jahren an dieser Zaunlatte hängt, assoziiert man eine Kindheitserinnerung.
Es ist wie eine Reise zurück in die Zeit. Zurück in die Zeit, als man das erste mal wackelnd und hochkonzentriert auf dem Fahrrad saß und kräftig in die Pedale treten musste, um nicht umzukippen. Zurück in die Zeit der ersten Freundschaften, der ersten Küsse, des ersten Liebeskummers.
Und all die Menschen, die noch dort sind, sind Teil dieser Erinnerungen.
Der alte Herr, der mir damals schon sehr alt vorkam, welcher mir bei meiner Oma immer einen Schokoriegel spendiert hat. Meine Freunde aus Kindergarten und Schule, die zum Teil mittlerweile selbst schon Kinder haben.
Jedes Gespräch mit all diesen Menschen speist sich aus Erinnerungen.
'Weißt du noch...?'
Aber Heimat, heimkommen, ankommen, da sein, ist es nicht mehr.
Mittlerweile gehöre ich nicht mehr dazu, bin zu einer Fremden geworden. Wir machen keine gemeinsamen Erinnerungen mehr.
In meinem Geburtsort bin ich zu einer unsichtbaren Zeitreisenden geworden, die ihrem 6-jährigem Selbst beim Spielen auf der Straße zusieht.
'Ja, ich weiß noch...'
Und wo liegt nun meine Heimat?
Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nicht wieder gefunden.
In den letzten Jahren hat sich so viel verändert, habe ich so oft den Wohnort gewechselt, dass es nie zum Ankommen gereicht hat.
Das Komische ist, dass es manchmal ganz schnell gehen kann. Man kommt an und fühlt sich sofort heimisch. Alles ist toll und spannend und auf seltsame Weise vertraut.
Noch komischer ist aber, dass ein und derselbe Ort sich nur wenige Zeit später gar nicht mehr heimisch anfühlen kann. Plötzlich fällt einem der Müll auf den Straßen auf, die ernsten Gesichter der Leute, der seltsame Geruch. War das damals schon so, fragt man sich dann.
Ja, es war damals schon so, aber du, du hast dich verändert.
Egal, wohin man reist, man nimmt sich immer selbst mit und was sich heimisch anfühlt, das ist von jedem abhängig.
Denn Heimat, das ist da, wo das Herz ein wenig höher schlägt und sich ein Lächeln auf dem Gesicht ausbreitet, wenn man aus dem Fenster blickt und die Silhouette am Horizont erblickt. Wo sich sofort ein wohliges Gefühl vom Bauch aus ausbreitet.
Wohin man sich zurücksehnt, ist man an einem Ort, an dem man sich gar nicht wohlfühlt.
Da, wo man den Menschen mit einem Lächeln begegnet und sich an den Makeln nur unwesentlich stört.
Das kann überall auf der Welt sein und ist nicht zwangsläufig der Ort, an dem man geboren ist.
Und als das Flugzeug die majestätischen Rocky Mountains überquert hat und sich am Horizont der Pazifik abzeichnet, die Maschine im Landeanflug über den gläsernen Bausteinen Vancouvers zu kreisen beginnt, wie damals der Weißkopfseeadler im Sonnenuntergang am Strand West Vancouvers, da erfüllt mich diese Wärme, dieses seltsame Gefühl nach Hause zu kommen.
Ich weiß, dass es nicht so sein wird, wie damals. Dass vieles nicht mehr so ist, wie es war. Dass ich mich verändert habe.
Und dennoch wird mir in diesem Moment klar, dass ein Teil von mir Vancouver nie verlassen hat und dass das, was ich die letzten Jahre gefühlt habe nicht Fernweh, sondern Heimweh war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top