| 2 |


Hanna hat sich mehr über das Geschenk gefreut, als ich es mir erdacht habe. In ein paar Stunden werden Freunde und Verwandte kommen, um ihren Geburtstag zu feiern. Bis dahin wollte sie mit mir die Knete formen, die ich ihr geschenkt habe. Es ist keine übliche Knete. Jedes Mal wenn man auf eine Stelle drückt, ändert es dort seine Farbe. Ich drücke mit Hanna zusammen an der Masse herum, ahnungslos davon was es am Ende werden soll. Es macht mir nichts aus, Zeit mit Hanna zu verbringen oder etwas mit ihr zu unternehmen. Solange ich nicht spreche und sie davon nicht gestört ist, ist für mich alles okay.

Meine Pflegefamilie hat die schrägsten Verwandten. Onkel, Tanten und Cousins kommen für den Geburtstag eines kleinen Mädchens. Das würde man zumindest denken. In Wahrheit raufen sie nur die Kinder zusammen, damit Hanna mit ihnen spielen kann, während sie ihr teures Wein trinken und tratschen. Mich kennen die meisten auch schon, da Tessa und Gaven - meine Pflegeeltern - sehr eng mit ihrer Familie sind und diese fast jede Woche sehen.

"Elisha, Schätzchen!", ruft Tante Marlon in den leeren Raum. Ich habe mich ins Wohnzimmer zurückgezogen, während alle anderen im Garten sind, und lese mein Buch weiter. Tante Marlon lässt sich neben mir auf die Couch fallen und schafft es dabei keinen Tropfen von dem Wein zu verschütten. Sie nimmt einen Schluck und sieht mich von der Seite an.

"Ich gebe dir die Sonne", sagt sie laut. Es ist der Titel des Buches, das ich in der Hand halte. Plötzlich lässt sie ein spöttisches Lachen raus und nimmt wieder einen Schluck von ihrem Wein. "Glaub so was nicht, Liebes. Keiner wird dir je die Sonne geben, auch wenn er es verspricht. Spätestens nach 12 Jahren Ehe wird er dich satthaben und dir jegliches Licht wieder nehmen, dass er dir in den letzten Jahren gegeben hat."

Ich unterbreche mein Lesen, da ihre Worte mich durcheinanderbringen. Der Titel heißt zwar 'Ich gebe dir die Sonne' aber es geht nicht um die Liebe, über die sie spricht. Es ist ein Buch über zweieiige Zwillinge, die sich lieben aber auch in vielen Bereichen konkurrieren. Es kommt mir komisch vor das Buch mit etwas Anderem als das zu verbinden.

"Irgendwann läuft dem ach so treuen Ehemann eine andere Frau über den Weg und er nutzt die Gelegenheit aus und saugt dir somit auch noch das letzte bisschen Stolz aus der Brust. Nicht, dass dein Onkel so was getan hätte", meint sie und nickt mir wissend zu. "Aber es würde mich nicht wundern, wenn er es täte."

Sie erzählt noch weiter über ihre Ehe und wie kaputt diese ist. Dass sie keine Liebe mehr spürt und die alten Jahre vermisst. Irgendwann sinke ich wieder in mein Buch ein und nehme sie neben mir nicht einmal mehr wahr. Spätestens als ihr Glas leer ist, muss sie aufstehen und mich in Ruhe lassen.

°°°°

Die Turnhalle ist nicht so leer, wie ich es mir erhofft habe. Viele Schüler aus der Football Mannschaft und auch einige Cheerleader, der Drama Club, das Schulkomitee und der Schülersprecher sind da. Als Lehrkraft ist nur Coach Travolta da. Ich sehe zu wie die meisten Schüler mit dem Dekorieren der Turnhalle beschäftigt sind. Das ist wahrscheinlich für den Ball nach dem großen Spiel in zwei Wochen. Alle scheinen aufgeregt zu sein, nur ist mir nicht klar, ob es wegen dem Spiel oder wegen dem Ball ist.

Ich laufe gelassen zum Coach und bleibe vor ihm stehen. Er starrt gerade in sein Klemmbrett, als er mich vor sich bemerkt. Für wenige Sekunden starrt er mich einfach nur so an. Sein Blick geht an mir runter und wieder hoch, bevor sich dann ein breites Lächeln auf seinen Lippen bildet.

"Elisha Hutson.", sagt er in einem erfreuten Ton. "Schön, dass du dich dazu entschieden hast, uns zu helfen."

Ich lächele ihn höflich an und sehe kurz um mich. Weder Brooklyn noch Davis sind hier, dafür aber andere Football Spieler. Diese sind gerade damit beschäftigt eine weiße Leinwand auszurollen und an den Ecken zu befestigen. Ich dachte, ich sollte ein Plakat kreieren? Es war nicht die Sprache von einer Leinwand.

"Komm mit. Die Farben, die du benutzen kannst, stehen gleich da hinten." Der Coach legt einen Arm um mich und führt mich zu den Spraydosen, die neben der Gruppe Footballer stehen. Ich fühle mich unwohl, doch schüttele seinen Arm auch nicht weg.

"Leute, wenn die Leinwand fertig ist, dann lasst Elisha ihre Sache machen", teilt der Coach den Schülern mit. Dann dreht er sich zu mir um und erklärt mir, dass diese Leinwand neben die große Punktewand draußen auf dem Footballfeld kommen wird. Es soll für das ganze Jahr dort hängen bleiben. Als er von mir verlangt, dass ich mir Mühe geben soll mit dem Logo, zwinkert er mir noch zu und geht wieder weg. Ich kann jetzt schon sagen, dass ich Coach Travolta nicht mag. Er kann mit seinen Spielern umgehen, als wären sie seine Freunde, um das Training spaßiger zu gestalten, aber nicht mit mir. Ich will diese Nähe nicht.

Es dauert ein wenig, bis die Jungs mit dem befestigen der Leinwand fertig sind. Doch als ich mich dann endlich an die Arbeit machen kann, habe ich schon ein genaues Bild im Kopf wie ich das Logo gestalten will. Bevor ich irgendwelche Farben benutze, krame ich einen Bleistift aus meiner Tasche und versuche erst eine Skizze zu erstellen. Das ist nicht besonders einfach und ich lasse mir auch viel Zeit. Schließlich wird es an der Punktewand hängen. Ich kann nicht irgendwas hinzeichnen, sondern muss es mir genau überlegen. Es dauert etwas, bis ich eine zufriedenstellende Skizze erstellt habe. Danach fange ich an diese auf die Leinwand zu übertragen. Ich bin so verfangen in meinen Ideen, dass ich gar nicht merke, wie schnell die Zeit vergeht.

"Elisha?!", höre ich eine Stimme plötzlich rufen. Es ist schon lustig, wie man mich immer wieder ruft, obwohl man davon ausgeht, dass ich taub bin. Ich reagiere nicht, doch bemerke erst da, dass keiner mehr in der Halle ist. Außer Coach Travolta. Dieser ist es auch, der nach mir gerufen hat und jetzt auf mich zumarschiert.

"Was machst du noch hier?", fragt der Coach, sobald er neben der Leinwand stehen bleibt und mich ansieht. "Es sind schon alle gegangen. Du solltest auch zusammenpacken."

Ich bin gerade mitten im perfektionieren einer Kurve. Ich kann jetzt nicht einfach so aufhören. Mein Blick ist stur auf die Leinwand gerichtet als ich den Zeigefinger hebe und ihm zu verstehen gebe, dass ich nur noch eine Minute brauche.

"Na gut", sagt der Coach und verschränkt die Arme. Er bewegt sich nicht von der Stelle. Ich spüre seinen Blick auf mir und beeile mich mit meinem Bild.

"Talentiert und hübsch. Die Jungs stehen bei dir bestimmt Schlange", sagt der Coach und unterbricht die Stille wieder. Er denkt laut, denn er achtet nicht darauf, ob ich seine Lippen lesen kann. Das heißt, er will nicht, dass ich das höre. Mir wäre es auch lieber, wenn mein Lehrer mich nicht so nennen würde. Schließlich kann es ihm egal sein, ob ich hübsch bin oder nicht. Ich versuche den Satz so reglos aufzunehmen, wie ich nur kann und hoffe, dass sich nichts in meinem Gesichtsausdruck zeigt.

"Wobei ich mich da auch mit einbeziehen muss." Seine Stimme ist etwas leiser und rau. Es ist als würde er mit seinen eigenen Gedanken kommunizieren. Als hätte er eine Elisha im Kopf, die ihn hören kann und jedes Wort versteht. Zu doof, dass genau diese Elisha auch hier steht. Nur weiß er das nicht.

"Ich würde wahrscheinlich nicht nur Schlange stehen, sondern -"

"Coach?!", ruft die Stimme eines Jungen plötzlich. Mir fällt ein Stein vom Herzen, denn ich will nicht wissen, wie er seinen Satz beendet hätte. Ich entscheide mich auch dazu, die Kurve morgen zu perfektionieren und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

"Davis? Was machst du hier noch?", fragt Coach Travolta. Ich lege die Farben weg und sehe ebenfalls in die Richtung, in die der Coach sieht. Davis kommt auf uns zu und sieht verwirrt zwischen uns hin und her.

"Ich wollte gerade gehen als ich gesehen habe, dass die Lichter noch an sind. Da wollte ich nachsehen", erklärt Davis, immer noch mit einem verwirrten Blick auf seinem Gesicht. Seine Augen fallen auf mich und er betrachtet mich interessiert. Allerdings nicht so wie der Coach, sondern einfach nur neugierig.

"Elisha hat sich in der Arbeit vergessen", meint der Coach mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht. Ich verdrehe nur die Augen und fange an, die Sachen aufzuräumen. "Hilf ihr doch bitte und dann könnt ihr beide nach Hause gehen. Bis morgen, Kinder." Und dann höre ich nur noch Schritte, die immer leiser werden.

Ich schmeiße die Spraydosen und die Farben alle in einen Rucksack, als ich zwei weitere Hände bemerke, die dasselbe tun. Ich erhebe den Blick und treffe auf die schönsten grünen Augen, die es nur gibt.

"Ich soll dir helfen", erklärt Davis mit einem höflichen Lächeln. Ich nicke nur und wir räumen weiter den Rest auf.

Es dauert nicht lang. Innerhalb von zehn Minuten sind wir fertig und verlassen die Turnhalle. Coach Travolta muss noch irgendwo hier sein, da er noch zusperren muss. Ich bin überrascht als ich in die frische Luft trete und sehe, dass es bereits dunkel ist. Es ist bald Winter also wird es schneller dunkel. Nur dachte ich nicht, dass ich so lange in der Schule war. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr und sie zeigt halb sechs.

Ich bleibe stehen und drehe mich zu Davis. Mit einer kleinen Handbewegung aus der Gebärdensprache entnommen, sage ich Danke. Mir ist klar, dass Davis keine Gebärdensprache versteht, jedoch erkläre ich ihm das Wort, indem ich gleich danach mit meinen Fingern die Buchstaben dazu forme. Das sieht bestimmt bescheuert aus.

"Danke?", kommt es etwas irritiert von ihm. Ich nicke ihm lächelnd zu. "Naja, danke dass du unser Logo malst", sagt er und lächelt zurück. "Ich bring dich noch nach Hause."

Ich schüttele den Kopf und bewege den Zeigefinger und den Mittelfinger so, als wären es zwei Beine, die einen Spaziergang machen. Das soll ihm zu verstehen geben, dass ich zu Fuß gehen werde.

Davis zuckt mit den Schultern und sagt: "Dann begleite ich dich eben nach Hause."

Ich lasse ein leichtes Lächeln über die Lippen fliegen und zucke mit den Schultern. Dann drehe ich mich um und gehe meinen gewöhnlichen Weg nach Hause. Davis geht neben mir mit und hat seine Hände in den Hosentaschen. Es ist still. Die Herbstkälte ist sichtlich zu spüren. Zum Glück habe ich meine wärmere Jacke an. Ich starre auf meine Füße, während sie vorne weggehen und frage mich, was wohl gerade in Davis' Kopf durchgeht.

"Manchmal wünschte ich, ich wäre an deiner Stelle", sagt er plötzlich. Meine Augen weiten sich, doch das sieht er nicht, da ich immer noch auf den Boden starre. Hat er meine Gedanken gelesen oder woher kommt dieser Satz plötzlich? Ich spüre Davis' Blick auf mir, als würde er sicher gehen wollen, dass ich ihn auch wirklich nicht höre.

"Es muss so ruhig und ausgeglichen sein in deinem Kopf. Du lebst nur für dich. Das muss sich gut anfühlen."

Seine Vorstellungen sind nur halbwegs richtig. Ich muss mir die Probleme anderer anhören und auch wenn sie mich nicht belastet, ist es nicht immer ruhig und ausgeglichen in meinem Kopf. Außerdem weiß ich nicht, ob ich wirklich für mich lebe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nicht lebe und das eine Art Spiel ist, in dem ich die Gedanken der Menschen heraus provoziere. Ich mache es nicht mit Absicht. Die Menschen entscheiden sich selbst dazu. Genau so wie Davis jetzt. Es überrasche mich, dass so viel Schmerz aus seiner Stimme herauszuhören ist. Was genau könnte ihn so belasten, dass er gerne an der Stelle eines taubstummen Mädchens sein wollen würde?

"Ich muss bescheuert sein, dass ich das alles überhaupt sage. Du kannst mich nicht mal hören." Er schüttelt spöttisch den Kopf über sich selber. Dann hebt er ihn an und sieht in den Himmel, während er weitergeht. "Aber ich glaub, dass ist genau das Gute daran. Würdest du mich hören, würdest du mir vielleicht Vorwürfe machen. Von wegen, ich habe doch so ein tolles Leben und soll gefälligst dankbar sein. Oder du wärst wie Brooklyn und würdest einfach nur sagen, dass ich darauf scheißen soll."

Ich bin ehrlich interessiert an den Dingen, die er mir erzählt. Es macht mich neugierig, wie sein Leben wohl ist. Denn tatsächlich hätte ich ihm wahrscheinlich Vorwürfe gemacht, dass er dankbar sein soll. Ich meine, er ist erfolgreich im Sport und in der Schule. Er ist beliebt und hat genug Kohle und Charme um jedes Mädchen rumzukriegen. Ich habe es mit eigenen Augen beobachten dürfen. Außerdem hat er die wohl schönsten Augen und allein das sollte als Grund reichen. Also was ist es, dass ihn so belastet?

"Ist doch echt schräg", fängt er plötzlich wieder an. Sein Blick ist wieder nach vorne gerichtet. "Nicht einmal dir kann ich es sagen und du würdest es nicht einmal hören."

Das ist wirklich schräg. Warum spricht er nicht aus, was ihn beschäftigt? Mit mir hat er schließlich nichts zu verlieren. Es macht mich neugierig aber es ist nichts, wofür ich meine Stille brechen würde. Es gibt nichts auf dieser Welt, dass meiner Worte wert ist. Nicht weil ich auf die Dinge und Menschen herabsehe, sondern weil ich einfach keinen Sinn darin sehe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich dazu entschieden habe nicht mehr zu reden. Ich war klein und traurig und allein. Irgendwann kam das einfach und es ist geblieben. Irgendwas sagt mir, dass es etwas mit dem Unfall meiner Eltern zu tun hat. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt noch wüsste, wie man spricht. Ich hatte auch nicht vor, das herauszufinden.

Vor unserem Haus bleibe ich stehen und drehe mich zu Davis um. Ich schenke ihm ein Lächeln und mache nochmal das Zeichen für 'Danke' in Gebärdensprache.

"Ich danke dir", sagt er und versucht die Bewegung nachzumachen. Ich weiß, dass er sich fürs Zuhören bedankt aber sehe ihn dennoch verwirrt an. Er zuckt nur mit den Schultern und ruft mir ein "Bis dann" zu, bevor er sich wieder umdreht und weggeht.

Ich hätte gerne noch etwas länger in seine Augen gesehen. Vielleicht würden die mir sagen, was seine Lippen sich nicht getraut haben. Es überrascht mich, wie sehr ich plötzlich für die Probleme anderer interessiert bin. Und diesmal kenne ich das Problem nicht einmal. Vielleicht liegt es auch genau daran. Das ist das erste Mal, dass jemand sein Geheimnis nicht mit mir geteilt hat, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte. Das erste Mal werde ich nicht als Kummerkasten benutzt. Das ist so seltsam wie es auch beeindruckend ist.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top