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Hanna ist das wohl schrägste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe. Ihre kleinen braunen Augen stechen aufgrund ihrer goldenen Locken besonders heraus. Immer wenn sie geht, schwingt sie ihre Haare hin und her. Ob sie das absichtlich macht, weiß ich nicht aber sie sieht aus wie eine kleine Diva. Wenn sie etwas erzählen will, kann sie keiner davon abhalten und für ein 7-jähriges Mädchen hat sie wirklich viel zu erzählen.

"Ich finde das total witzig, dass wir alle blond sind", sagt sie mit voller Euphorie in ihrer Stimme. Ich sitze auf meinem Bett und lese gerade ein Buch. Hanna ist einfach in mein Zimmer hereinspaziert, hat sich auf die Sitzbank vor meinem Fenster hingesetzt und hat angefangen zu erzählen.

"Ich habe blonde Haare, Mama hat blonde Haare und Papa auch. Nur deine Haare sind braun." Sie schaukelt mit den Füßen hin und her, während sie auf den Boden starrt. "Aber es sieht schön aus."

Ich kann aus den Augenwinkeln erkennen, dass sie mir das bezauberndste Lächeln schenkt, das sie nur besitzt. Jedoch nehme ich den Blick nicht von meinem Buch. Es interessiert mich relativ wenig, was sie mir erzählt aber ich habe auch kein Problem damit, dass sie es erzählt. So kann sie sich ausplappern und ich kann weiter so tun als könnte ich eh nichts hören.

"Weißt du Elisha...", fängt sie wieder an. Irgendwas in ihrer Stimme ergreift meine Aufmerksamkeit. Ich überfliege die Wörter in meinem Buch und konzentriere mich auf Hanna's Stimme. "Morgen ist mein Geburtstag", sagt sie. "Ich werde 8 Jahre alt. Tris hat gesagt, wenn man acht Jahre alt wird, dann passiert etwas ganz Schlimmes."

Tris ist ein Junge aus ihrer Klasse. Sie hat mir schon oft erzählt, wie er sie immer wieder ärgert. Er erzählt ihr Dinge, die sie unsicher machen, ja sogar ängstlich. Anscheinend sieht der Junge in ihr eine leichte Beute und tobt sich aus. Bis jetzt hat Hanna mir nie erzählt, dass sie sich gewehrt hätte. Sie hat mir nur erzählt, wie sie manchmal weinen musste weil die anderen in der Schule gemein zu ihr waren. Und das nur wegen diesem Tris. Ich habe oft das Bedürfnis ihr zu erklären, wie sie sich zu verhalten hat und dass diese Kinder doch nur Spaß machen oder Idioten sind. Jedoch halte ich mich zurück. Ich will kein Teil davon sein. Außerdem weiß ich, dass sie mir das nur anvertraut, weil sie es loswerden muss, nicht weil sie meinen Trost will.

"Ich will nicht, dass etwas Schlimmes passiert", sagt sie und springt von der Sitzbank wieder runter. Ich wende den Blick von meinem Buch ab und sehe zu wie sie wieder aus meinem Zimmer geht. Genau so plötzlich wie sie reingekommen ist. Ich sagte doch, dass das Mädchen komisch ist.

°°°°

Ich betrachte mein Spiegelbild in der Mädchentoilette der Schule. Ich habe nie ein Problem mit meinem Aussehen gehabt. Es war mir einfach nie wichtig genug. Umso mehr fasziniert es mich, wie lange Mädchen an ihrem Gesicht herum tupfen können. Neben mir stehen die Zwillinge Tara und Lynn. Das einzige, wodurch man die beiden unterscheiden kann, sind ihre Haare. Tara hat feuerrotes Haar, während Lynn eine blonde Schönheit ist. Sie sind wie Feuer und Wasser, das habe ich beim ersten Aufeinandertreffen schon bemerkt. Allerdings ist ihre Liebe zu einem strahlenden Aussehe eins.

"Das Freak starrt uns an", sagt Tara und sieht mich im Spiegelbild an. Ich bin solche Namen gewohnt, deswegen hat es mich nicht überrascht, als es auch in dieser Schule damit anfing. Nur langsam wende ich den Blick von ihnen ab und greife nach den Trockentüchern.

"Hör auf. Sie kann doch Lippen lesen." Lynn schubst ihre Schwester leicht an, denn diese scheint das vergessen zu haben. Lehrer und Schüler denken, dass ich nur durch das Lippenlesen die guten Noten schreibe. Die Lehrer geben sich extra viel Mühe, um die Klasse immer anzuschauen, wenn sie reden. Zusätzlich bekomme ich auch eine Zusammenfassung von der Stunde. Wenn ein Schüler etwas von mir braucht, dann schreibt er es entweder auf oder spricht in Zeitlupe mit mir. Manchmal ist das recht amüsant mitanzusehen.

Diesmal sind es diese beiden Mädchen, die mich anstarren, als ich meine Hände trockne und schließlich rausgehe. Es ist mir egal, was man von mir denkt. Die Menschen können sich verhalten wie sie wollen, es hat keinen Einfluss auf mich. Nichts von dem, was ich höre, beschäftig mich wirklich. Und wenn man nicht spricht, dann hört man viel.

Auch diesen Tag überstehe ich, indem ich mich unauffällig im Hintergrund aufhalte. Das typische High-School Leben, das man aus den Filmen kennt, ist bei mir nicht vorhanden. Das typische High-School Leben, das man aus den Filmen kennt, existiert auch nur in Filmen.

Ich mache mich auf den Weg nach Hause, als mir einfällt, dass ich noch kein Geschenk für Hanna habe. Eigentlich hatte ich nicht vor ihr ein Geschenk zu kaufen aber das kleine Mädchen in mir meldet sich zu Wort und sagt mir, dass ich in ihrem Alter auch nichts Anderes wollte als sie. Sie ist schräg und redet viel aber sie ist süß. Sie ist auch die Einzige, der ich gerne zuhöre.

So spaziere ich in den großen Spielwarenladen, den man mit dem Geschäft aus dem Film 'Kevin alleine in New York' vergleichen kann. Es gibt nicht nur einfache Brettspiele und Actionfiguren, die kreativsten Sachen befinden sich in diesem Laden. Ganz schräge und beeindruckende Sachen, die du in einem gewöhnlichen Spielwarenladen nicht finden wirst. Es ist genau der richtige Ort für Hanna.

Ich bezahle mein Geschenk von dem Taschengeld, das ich von meinen Pflegeeltern bekommen habe und verlasse den Laden wieder. Sobald ich in die Herbstkälte trete, verlässt mich auch die Wärme, die ich in dem Laden gespürt habe. Es ist etwas Besonderes und bestimmt nicht das letzte Mal, dass ich hierherkomme.

Während ich in Gedanken vertieft bin, fällt mein Blick auf zwei Jugendliche auf der anderen Straßenseite. Der Grund warum sie meine Aufmerksamkeit ergreifen, ist weil ich sie aus der Schule kenne. Unser Football Star Brooklyn und sein bester Freund Davis. Es überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wie sehr Brooklyn wie Brooklyn Beckham, Sohn von David Beckham, aussieht. Hin und wieder bin ich sogar skeptisch, ob er es vielleicht auch wirklich ist. Davis dagegen kann man mit keiner prominenten Person vergleichen. Er hat Augen, deren Farbe du auf keiner Farbplatte finden wirst. Sie sind grün aber irgendwie auch nicht. Sie sind grau aber irgendwie auch nicht. Sie sind beides gemischt, aber dann auch wieder nicht. Es ist faszinierend.

Die beiden Jungs gehen nebeneinander her, während Brooklyn am Telefon spricht. Davis hat einen Football in der Hand und wirft ihn von der linken Hand zur rechten Hand und wiederholt das. Dabei sieht er gelangweilt um sich und entdeckt mich. Für einen kleinen Moment treffen sich unsere Blicke, doch schnell wende ich meinen wieder ab. Ich gehe weiter und schenke den beiden keine Beachtung mehr.

"Elisha!", höre ich eine Stimme plötzlich rufen. Ich reagiere nicht darauf, so wie ich es nie tue. Stattdessen ignoriere ich den Ruf und gehe weiter. Einer von den beiden hat nach mir gerufen, doch ich kann die Stimme aus der Ferne nicht erkennen. Außerdem ist es mir auch egal. Was könnten die beiden schon von mir wollen?

"Elisha warte!!", ruft jemand und diesmal kann ich die Stimme auch jemandem zuordnen. Es ist Brooklyn und er scheint schon sehr viel näher zu sein.

"Alter, sie kann dich doch nicht hören", kommt es von einem genervten Davis. Ich höre noch ein "Ach ja." und kurz darauf stehen beide Jungs auch schon vor mir. Sie atmen etwas schneller, doch fangen sich gleich wieder. Schließlich sind sie Football Stars und haben kein Problem mit Laufen.

Ich starre verwirrt in die Gesichter vor mir. Jetzt passiert bestimmt das Schlimme, von dem dieser Tris aus Hanna's Unterricht gesprochen hat. Warum trifft es aber mich, wenn er es doch zu Hanna gesagt hat? Nicht, dass ich ihr irgendwas Schlimmes wünsche, aber mir wünsche ich es auch nicht.

"H-a-l-l-o.", sagt Brooklyn sehr langsam und zwingt sich ein Lächeln auf die Lippen. Ich sehe zu wie Davis sich gegen die Stirn haut, als wäre sein Freund völlig bescheuert. Irgendwo klingt er aber auch bescheuert. "Kannst. du. mich. verstehen?", fragt Brooklyn höchst konzentriert.

Ich muss nicht auf seine Lippen achten, um das zu verstehen aber die Gewohnheit verlangt es. Schließlich nicke ich ihm zu und sofort strahlt er zufrieden auf. Es ist schräg, dass er überhaupt mit mir spricht, da wir noch nie ein Wort miteinander gewechselt haben. Überhaupt habe ich noch kein Wort mit jemandem gewechselt. Natürlich nicht. Sie denken ja alle, ich bin stumm. Allerdings hat auch sonst nie jemand versucht sich mit mir anzufreunden oder mich kennen zu lernen. Das ist mir jedoch mehr als Recht.

"Ich. wollte. dich. was. fragen." Brooklyn macht nach jedem Wort eine kurze Pause, damit ich ihn wahrscheinlich besser verstehen kann. Ich nicke ihm wieder zu und er spricht weiter. "Ich. hab. im. Kunstunterricht. gesehen. dass. du-"

"Brooklyn, sie ist stumm, nicht dumm. Ich bin mir sicher, sie kann deine Lippen auch lesen, wenn du etwas schneller sprichst", unterbricht Davis seinen Freund. Wieder nicke ich. Davis fühlt sich gleich bestätigt und fügt hinzu: "Siehst du?"

"Achso. Okay. Na gut", meint Brooklyn weniger fasziniert und kommt wieder zurück zur normalen Aussprache der Wörter. "Du hast in Kunst ein paar schöne Bilder gemalt und wir wollten fragen, ob du unser Schullogo auf ein großes Plakat malen kannst. Für das Spiel in zwei Wochen."

Ich bin tatsächlich eine gute Künstlerin. Ich höre keine Musik und schaue auch kein Fernsehen, daher verbringe ich meine Freizeit viel mit Lesen oder Zeichnen. Jedoch kann ich mich nicht erinnern, Brooklyn im Kunstunterricht gesehen zu haben. Ich denke nicht, dass er überhaupt in meiner Klasse ist. Davis dagegen ist es. Vielleicht hat er es ihm erzählt.

Zur Antwort zucke ich nur mit den Schultern. Ich habe kein Problem damit, das Logo auf ein Plakat zu zeichnen. Jedoch brauche ich schon etwas mehr Information als das. Zum Beispiel, wie groß das Plakat sein soll, welche Farben ich benutzen soll und ob ich auch alles zur Verfügung habe oder mich selber um die Materialien kümmern muss.

"Also wirst du es machen?", fragt Brooklyn hoffnungsvoll nach. Ich nicke ihm zu aber ziehe trotzdem die Augenbrauen in die Höhe, um meine Verwirrung deutlich zu machen. "Super!! Danke! Komm morgen nach der Schule in die Turnhalle. Der Coach wird dir dann weiterhelfen."

Ich schenke ihm ein höfliches Lächeln, da ich keine Lust mehr habe zu nicken. Normalerweise kommt es nicht vor, dass ich in einer Interaktion bin und Fragen beantworten muss. Meistens wird mir etwas erzählt und meine Reaktion darauf ist nur zweitranging, also völlig unwichtig.

Die Jungs bedanken sich nochmal bei mir und verabschieden sich dann. Ich bin für ein paar Sekunden gefesselt in Davis' Augen, doch als er sich umdreht und geht, muss ich meine Beine auch wieder in Bewegung bringen. Das kann ja was werden morgen. Ich hoffe nur, dass man nichts von mir will und mich einfach nur das Logo malen lässt. Schließlich bin ich die letzte Person, mit der man eine Unterhaltung führen kann. Wortwörtlich.

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