ZWANZIG

„Happy Birthday to you, Happy Birthday to you, Happy Birthday liebe Lucie, Happy Birthday to you!" singen Mama, Papa und Janosch.
Ich grinse, heute ist mein Geburtstag. Heute bekomme ich Geschenke und Kuchen und Süßigkeiten. Mein Wecker klingelt. Ich will ihn ausmachen, aber Janosch ist schneller, drückt auf den Knopf und greift dann nach meiner Hand.
„Komm! Es gibt Geschenke und Kuchen und Süßigkeiten! Alles nur für dich! Und auch für mich."
„Lass sie doch, Janosch. Alles Gute zum Geburtstag, meine Süße!" lächelt Mama.
Danke!
„Alles Gute auch von mir. Aber jetzt komm! Wir brauchen heute mehr Zeit als sonst."

„Alles Gute zum Gebuuuuuurtstaaaaaag!", quiekt Maria als ich, nachdem sie geklingelt hat, die Haustür öffne.
„Hier! Für dich."
Sie drückt mir ein großes Paket in den Arm, ich nicke und strahle sie an. Schnell stelle ich den Karton in den Flur und schon schließt sie mich in die Arme. Als wir uns wieder voneinander gelöst haben, drehe ich mich zu dem Paket um.
Vielen Dank! Soll ich das jetzt aufmachen oder nach der Schule?
„Ich wäre für jetzt, aber die Zeit... lieber nach der Schule, sonst ist der Bus weg. Kommst du?"
Ich nicke und streife mir, während ich über den gekiesten Weg zum Tor laufe, die Träger des Rucksacks über meine Schultern.

Die Worte „Alles Gute zum Geburtstag" habe ich heute eindeutig oft genug zu hören bekommen. Erst im Bus von Erik, dann von Kathi und Diana, von Nico ein Alles Gute und denk dran, heute am Baumhaus... zur Krönung wurde die Klasse 10b von unserem Deutschlehrer gezwungen, mir ein Ständchen zu bringen. Erstaunlich wie schrecklich schräg manche Leute singen können. Aber ich beschwere mich nicht, es war ja ganz nett und außerdem können sie wenigstens singen. Aber peinlich ist es trotzdem.
Donnerstags haben wir - zum Glück, anders als Mittwochs und Freitags - nur bis ein Uhr Unterricht. So muss ich nicht die Käsespätzle (Bäh!) im Speisesaal herunterwürgen, sondern kann mit meiner Familie zuhause Nudeln mit Soße (Mmmh!) essen.
„Na, was machst du heute so an deinem Geburtstag? Wir können natürlich auch alle zusammen etwas unternehmen, zum Weiher gehen oder so." fragt Papa.
Ich schüttele den Kopf, kaue und schlucke mein Essen runter. Das ist so eine Angewohnheit, auch wenn ich mit den Händen rede und währenddessen essen könnte. Eigentlich etwas, das dafür spricht, dass ich nicht immer stumm war... und was heißt das?
Ich glaube ich ruf dann Maria an. Aber Danke.
„Ich komme mit!" schreit Janosch.
Nein.
„Doch! Du machst nie was mit mir!"
Ich war am Wochenende mit dir unterwegs.
„Das gilt nicht."
„Janosch, wenn Lucie beschäftigt ist, können wir doch zusammen etwas machen? Hm, nur wir drei? Wie wär das?"
„Vielleicht... oh! Kann ich zu Mareike und Peer gehen?"
„Mareike und - ah ja, das ältere Ehepaar das in Lucies altem Haus wohnt. Ja, wenn sie nichts dagegen haben. Ruf sie einfach nach dem Mittagessen an, okay?"
„Okay."

Ich schreibe Maria schnell eine Nachricht, dass ich ja um drei Uhr mit Nico am Baumhaus verabredet bin und ob sie danach Zeit hat. Sie antwortet sofort:

Lucie, geh noch nicht und vor allem NICHT ALLEINE!!! Ich komme, kann aber erst um halb vier. Bitte warte! Ich bin grade auf dem Weg zu Kathi, ich will doch mit ihr über Nico und die Nachrichten sprechen.

Ich schreibe zurück:

Kann nicht warten, sorry. Ich nehme aber mein Handy mit, wirklich. Janosch geht heute zu Kohls, geh da also wenn du mich suchst nur im Notfall hin (sonst hast du ihn den ganzen restlichen Tag an der Backe!).

Dann lege ich das Handy auf den Schuhschrank, um mir meine dünne Strickjacke über das T-Shirt zu ziehen. Weil Janosch, der auch mit mir Bus fährt aber eine Haltestelle früher aussteigen wird, mich so hetzt (zurecht) merke ich erst als wir mit den Fahrrädern im Bus sind und dieser losfährt, dass es immer noch dort liegt. Mist.

Ich schaue nervös auf meine Armbanduhr. Fünf nach drei! Warum habe ich Nicos Nachricht überhaupt befolgt? Heute ist mein Geburtstag, da habe ich besseres zu tun. Ich hätte genug Zeit gehabt um abzusagen! Warum gehe ich nicht einfach wieder und lasse eine Nachricht da? Ich könnte schnell nach oben klettern, da sind doch Zettel und Stifte. Über mir blinzelt die Sonne durch die hell- und dunkelgrün schattierten Blätter, das Baumhaus daneben wie als wäre es schon immer dort gewesen. In dem Moment wunderschön, alles hier, der Wald, die kleinen Tierchen unter der Erde, die Vögel in der Luft und ich auf dem Erdboden.
„Lucie."
Und Nico, der gerade fast lautlos hinter mir herangekommen ist.
Hallo.
Ich zupfe nervös an dem Anhänger - dem Schlüssel - herum. Was jetzt? Mir fällt ein, dass er damals vermutlich gar nicht mein bester Freund war, dass fast all seine Worte Lügen waren.
Nico lächelt, als sein Blick auf meine Kette fällt.
„Komm mal mit. Ich zeige dir etwas."
Wir stapfen durch den lichtdurchfluteten Mischwald, in Richtung des kleinen Dorfes, wo Janosch jetzt bestimmt schon über einem Teller mit einem riesigen Kuchenstück sitzt. Wo gehen wir wohl hin? Ich tippe meinem Vordermann an.
Nico, wo gehen wir hin?
„Das ist eine Überraschung, Lucie. Komm einfach."
Okay. Na dann. Ich traue dem Braten nicht, trotzdem folge ich Nico den Pfad entlang. Mein Fahrrad steht noch am Baumhaus, das heißt wir müssen noch einmal dorthin zurück. Nach einer Viertelstunde, was ich Dank meiner Armbanduhr genau weiß, biegen wir nach links in den Wald ab, während der Pfad sich nach rechts wendet. Gerade als wir außer Sichtweite des eigentlichen Weges sind, fährt dort jemand - den Geräuschen nach zu urteilen - mit einem Fahrrad in Richtung Baumhaus.
Wer war das? Vielleicht dieser Nelio?
„Nein, ich glaube der wohnt - ja kann sein. Keine Ahnung. Komm jetzt."
Das wird jetzt aber echt komisch. Woher weiß Nico wo Nelio wohnt? Die kennen sich doch gar nicht, oder? Höchstens nur so vom Sehen her, kann also eigentlich sein, dass er Nelio immer in die andere Richtung hat fahren sehen. Aber vor allem: Wenn Nelio auf der anderen Seite des Waldes wohnt... wer war das gerade eben denn dann?

Schon Minuten bevor wir auf die kleine Lichtung treten, weiß ich wo es hingeht. Ich weiß es, aber ich weiß nicht warum.
„Hier. Schau mal."
Nico geht mit große, zügigen Schritten über das Gras, bis zur Mitte der Lichtung. Dort kniet er sich hin, reißt ein paar Ranken vom Boden weg. Ich trete langsam näher, schließlich sehe ich die graue, in den Boden eingelassene Falltüre. Jeder, der hier zufällig vorbeikommt, denkt es wäre eine Klappe zur Kanalisation oder zu einer Wasserleitung. Ich weiß aber was dahinter liegt. Oder... eigentlich weiß ich nur, wo man herauskommt wenn man dem Gang, der vermutlich dort anfängt, folgt. Bei Mareike und Peer, bei meinem alten Haus. Ohne seine Hilfe hätte ich das hier nie gefunden. War er doch mein Freund? Weil er weiß, wo das hier liegt.
„Das... ist ein Eingang zu einem Raum wo deine leiblichen Eltern ihre Besitztümer lagerten. Ein Gang, ehemalig zur Wasserversorgung verwendet, aber verlassen. Ein bisschen Putz und Mauerwerk, ein Eingang und fertig."
Oh. Das... ist ja cool. Warst du schonmal dort?
„Nein, nie. Ich weiß nur, dass dort etwas ist, was ich haben will."
Nico lächelt. Aber hinter dieser netten Geste kann ich etwas Bösartiges erkennen.
Du bist gar nicht mein bester Freund gewesen.
„Hundert Punkte für Lucie! Ich hätte nicht gedacht, dass du mir wirklich glaubst. Und jetzt komm. Du willst doch auch die Dinge deiner Eltern finden, oder?"
Nicht mit dir. Sag mir die Wahrheit, erzähl mir die wahre Geschichte!
„Die Wahrheit? Aber die kennst du schon. Nur dass nicht ich dieser geheimnisvolle „beste Freund" war, sondern jemand anderes. Ich bin nur eine unbedeutende Nebenperson, jemand der deinem Freund geholfen hat, als dieser dich „verloren" hatte."
Und du hast ihn für dich genutzt!
Nico grinst und nickt. Warum bin ich hierher gekommen? Was wenn er eine Waffe, ein Messer oder irgend sowas hat? Er weiß dass ich den Schlüssel habe.
„Gut, wollten wir nicht mal los? Der Anhänger an deinem Hals ist übrigens der Schlüssel."
Ich trete einen Schritt zurück. Hinter mir raschelt etwas, vermutlich wieder mal eine Amsel im Gebüsch.
Und du bekommst ihn nicht.
„Doch. Gib ihn mir."
Was wenn nicht?
Ich versuche selbstbewusst zu wirken.
„Das wäre nicht so gut, glaub mir."
Plötzlich springt mein Gegenüber mit einem Satz nach vorne, ein kurzer stechender Schmerz an meinem Hals und ein „Tschak!" als das dünne Lederband reißt.
„Dann wollen wir mal. Komm bloß nicht auf die Idee abzuhauen. Ich bin schneller und stärker als du."
Das weiß ich, sonst hätte ich sicher schon meine Beine in die Hand genommen und wäre so schnell wie möglich gerannt. Und außerdem ist mein Orientierungssinn nicht der beste, ich gehe jede Wette ein, dass ich mich sofort verlaufen hätte. Jetzt steckt der Lügner den Schlüssel in das passende Schloss im Boden und dreht ihn einmal herum. Genau so, wie ich es vor weniger als einer Woche auch schon bei dem Ausgang getan habe. Auch jetzt knirscht und klickt es, nur als Nico an dem Eisenring und die Falltüre in die Erde zieht, schwingt diese sachte quietschend auf. Leicht muffige Luft strömt aus dem dunklen Loch heraus.
„Endlich..." flüstert Nico.
Was soll ich jetzt machen? Er wird hineingehen, mich vermutlich mitnehmen und dann alles Geld oder Erinnerungen oder was auch immer darin ist mitnehmen. Und dann? Was ist dann mit mir? Ich weiß viel zu viel...
Ich kann meine schrecklichen Gedanken nicht zu Ende führen denn in dem Moment schreit jemand hoch: „Nein!", jemand (anderes?) springt aus dem Dickicht und stürzt sich auf Nico.

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