VIERZEHN

Als Erstes erzähle ich Maria von meinem Ausflug gestern Nachmittag, der eigentlich kein großer Erfolg war.
„Es gibt also in deinem alten Baumhaus keine Spur davon, dass du dort gewesen bist. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass dieser Nelio, von dem du erzählt hast einfach einige Sachen weggenommen, oder neues dazugetan hat."
Daran habe ich noch überhaupt nicht gedacht, aber es klingt logisch.
Warum hat der dann diese kleinen Nachrichten-Zettel in der Dose nicht weggeschmissen?
„Sie haben ihn nicht gestört? Aber mal ernsthaft. Wir, also du musst nochmal mit ihm reden. Ob er das Baumhaus wirklich gebaut hat und so."
Wir beide haben uns nicht sonderlich gut... verstanden. Wenn dann solltest du mitkommen, damit ihr euch unterhalten könnt.
„Ach so, ja. Aber vorerst kannst du ihm - wenn du das nächste Mal dorthin radelst - einen Zettel hinlegen wann er kommen soll damit ich auch dabei bin. Es macht ja keinen Sinn, einfach auf gut Glück eine Dreiviertelstunde unterwegs zu sein nur um dann festzustellen, dass er nicht da ist."
Denke ich auch. Im Baumhaus finden wir vorerst keine Informationen mehr.
„Genau. Aber wo machen wir weiter? Vielleicht können wir mit Nico sprechen?"
Ich glaube nicht, dass er mir viel von damals erzählen will.
„Aber er war doch dein bester Freund!"
Keine Ahnung. Er ist jetzt schon achtzehn und hat auch sicher anderes zu tun als mir zu helfen. Um ehrlich zu sein, versteh ich es auch nicht wirklich.

Nach einer halben Ewigkeit Grübeln beschließen wir dem Dorf in dem ich früher gewohnt habe, einen Besuch abzustatten. Die Bewohner befragen, herumlaufen, einfach mal sehen was sich ergibt. Nachdem Maria ihr Fahrrad und die Buskarte geholte hat, machen wir uns auf den Weg. An der Bushaltestelle sind erstaunlich viele Leute, fast alle mit kleinen Kindern und Badetaschen. Auf zum Baden im See! Leider haben einige - vor allem die Kinder - Roller, Inlineskater, Skateboards oder sogar Fahrräder dabei. Das wird dann eng.

Eine Haltestelle vor der bei der Schule steigen alle Badegäste aus, jetzt stehen Marias und mein Fahrrad verlassen da. Schließlich stehen wir an der Schule.
„Äh, müssen wir eigentlich durch den Wald fahren? Also ich meine, gibt es vielleicht irgendwo eine Straße? Ich komme hiermit nicht über eure Waldpfade."
Maria klopft liebevoll auf den Sattel ihres Stadtrades. Nein, damit kann sie ganz sicher nicht über Stock und Stein in den Wald hinein fahren.
Mist, daran haben wir gar nicht gedacht. Hast du dein Handy dabei um zu schauen, wo ein fahrradtauglicher Weg ist?
„Ich sehe das mal als Aussage, dass du dein Handy nicht dabei hast?"
Du hast es ja dabei, da brauch ich meins doch nicht auch mitnehmen.
„Was, wenn ich meins nicht dabei habe?"
Du hast es aber dabei.
„Stimmt... dann mal sehen."
Die nächste Gelegenheit auf die andere Seite des Waldes zu kommen ist leider ziemlich weit weg. Um genau zu sein, hätten wir besser eine Bushaltestelle früher aussteigen sollen, dort führt nämlich ein Fahrrad- und Fußgängerweg direkt zum Nachbarort unseres Zieles. Hätten wir uns vorher darüber informiert, müssten wir jetzt keine Viertelstunde zurückfahren.

Keiner ist auf den Straßen oder eher der einzigen Straße unterwegs. Nur ein kleiner Junge mit einem riesigen roten Helm fährt mit Inlineskatern auf dem Gehweg und der Straße hin und her.
Da habe ich früher gewohnt.
Maria nickt.
„Was wollen wir jetzt machen?"
Keine Ahnung.
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Sollen wir einfach an Türen fremder Leute im Dorf klingeln? Nein, das ist unhöflich.
„Wie wäre es, wenn wir den Jungen da fragen?"
Der sieht aus, als wäre er gerade mal sieben oder so. Als ich verschwunden bin, war er also fünf oder vier.
„Stimmt... wenn, dann müssen wir Erwachsene fragen, die sich auch noch erinnern können."
In dem Moment öffnet sich eines der Fenster der Nummer fünf, Frau Kohl schaut heraus.
„Hallo Mia! Bist du heute mit deiner Freundin da, wie schön. Möchtet ihr nicht hereinkommen?"
Komm Maria. Das ist Frau Kohl von der ich dir erzählt habe.
Ich nicke und lächele der alten Dame zu.
„Ja gerne, wir kommen!" ruft Maria.

„Und ihr seid auf der Suche nach Antworten..."
Frau Kohl - ach nein, Mareike sollen wir sie nennen - stellt einen großen Pflaumenkuchen auf den Küchentisch an dem wir bereits mit ihrem Mann - Peer - sitzen.
„Ja. Lucie möchte etwas über ihre Familie herausfinden."
„Ach, Lucie heißt du? Mareike hat etwas von einer Mia erzählt..." Herr Kohl nimmt das Kuchenmesser und schneidet diesen in große Stücke.
„Nein, eigentlich - jetzt heißt sie Lucie, früher hieß sie Mia. Deshalb."
„Ah, jetzt verstehe ich. Der nette Junge mit dem du neulich da warst, hat von dir nur als Mia geredet."
Frau Kohl legt mir ein duftendes Stück auf den Teller.
Das war Nico, mein bester Freund von früher. Und er kannte mich eben nur als Mia.
„Lucie meint, dass Nico, der damals ihr bester Freund war, sie eben nur als Mia kennt.", übersetzt Maria.
Herr Kohl nickt und schiebt sich eine Gabel mit Kuchen in den Mund. Als er fertig gekaut hat, wendet er sich wieder dem Gespräch zu.
„Also Lucie oder Mia, da kann ich dir leider nicht viel weiterhelfen. Wir haben die Vorbesitzer nie gesehen. Alles, was noch da ist, sind die Möbel."
„Ist Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen?"
„Nein, nicht soweit ich mich erinnern kann. Und bitte, duzen wir uns doch!", lächelt Mareike.
„Doch Mareike, wenn ich es mir so recht überlege... erzähl doch einfach mal, wie wir dieses Haus gekauft haben. Vielleicht hilft das, oder uns fällt noch etwas auf."
Peer schiebt sich wieder eine Gabel voll mit Kuchen und den darin eingebackenen Pflaumenstücken in den Mund.
„Ach ja, das könnte ich ja noch machen! Gut, das hat zwar bestimmt gar nichts mit dir zu tun, Lucie - oder Mia?"
Lucie ist am Besten.
„Sie möchte gerne Lucie genannt werden."
Eine Biene summt durch das offene Küchenfenster in den Raum und gleich wieder hinaus in den grünen Garten.
„Also Lucie und Maria. Ich erzähle euch mal am besten die ganze Geschichte, das ist dann verständlicher. Wir wollten uns - nachdem wir beide bereits in Rente waren - irgendwo in einem kleinen Dorf auf dem Land zur Ruhe setzen. Erst einmal haben wir überlegt wo. Eigentlich wollten wir in die Nähe unserer einzigen Tochter ziehen, die auch auf dem Land wohnte. Aber der Kontakt zwischen uns war schon seit Jahren abgebrochen, schon fünfzehn Jahre hatten wir sie und ihren Mann nicht mehr gesehen."
„Aber... tut mir leid wenn ich unterbreche, aber warum?", fragt Maria.
„Anne musste in ihrem Beruf viel reisen, genau wie ihr Mann. Obwohl wir uns immer gut verstanden haben, ist der Kontakt einfach immer weniger geworden und dann war er gar nicht mehr da."
Maria und ich nicken. Ich stelle mir vor, wie Mareike und Peer überlegt haben, in die Nähe ihrer Tochter zu ziehen. Und dann kam die Todesnachricht.
„Aber dann... das Flugzeug ist abgestürzt. Wir wussten erst einmal nicht, was wir machen sollten. Und da uns das alte Haus viel zu sehr an Anne erinnerte, beschlossen wir, einfach so schnell wie möglich umzuziehen - aufs Land, wie es ursprünglich unser Plan gewesen war. Da unsere Tochter hier irgendwo in der Gegend gewohnt hat - wo genau wissen wir nicht - und da dieses Häuschen gerade recht billig aber in einem guten Zustand und sogar möbliert zum Verkauf stand..."
Mareike zuckt mit den Schultern.
„Peer, erzähl du mal weiter. Ich bin bei dem ganzen Reden noch überhaupt nicht dazugekommen, meinen Kuchen zu essen."
„Na gut. Also, wir haben das Haus gekauft und sind auch in der letzten Woche der Sommerferien eingezogen, es gab nichts zu renovieren. Irgendwann kam dann ein ziemlich verzweifelter Junge mit seinem Freund, der wissen wollte, wo denn die Familie ist, die dort wohnte. Das war dann wohl dieser Nico, der nach dir gesucht hat." Peer sieht seine Gattin an, „Das war doch derselbe Junge der neulich mit Lucie hier war, oder? Ich habe ihn ja nicht gesehen und ich kann mich auch nicht mehr an die beiden erinnern, wir waren gerade noch dabei, all unsere Sachen einzuräumen - nicht einmal hereinbitten konnten wir sie!"
„Jaja, der Nico war dabei. Und ich denke auch, dass er der verzweifelte der beiden war."
Der beiden? Waren zwei Jungs da und haben nach mir gefragt?
„Lucie will wissen, ob zwei Jungs damals nach ihr gefragt haben."
„Ja, es waren zwei. Einer - Nico denke ich - war wie gesagt sehr verzweifelt und konnte nicht glauben, dass wir jetzt hier wohnen, der andere war eigentlich ziemlich ruhig."
Das hat Nico nicht gesagt. Er meinte er war allein hier.
„Nein, du hast mir erzählt dass er nur gesagt hat, dass er hier war. Nicht ob er allein war." Maria zerdrückt mir der Gabel die letzten Kuchenkrümel.
Stimmt. Das hat er gar nicht -
Vor dem Küchenfenster ist etwas, das vorhin noch nicht da war. Ein roter Helm. Ich springe auf. Der Junge mit den Inlineskatern ist anscheinend vor dem Fenster und belauscht uns!
„Was ist denn, Lucie? Maria, über was habt ihr geredet?"
Mareike sieht verwirrt zwischen uns hin und her, ich beachte sie nicht.
„Da ist jemand vor dem Fenster!"
Jetzt hat Maria den roten Helm auch bemerkt, sie springt auf. Der Junge quietscht auf, da er jetzt eindeutig gehört hat, dass er entdeckt wurde und fängt an, schnell mit seinen Skatern an den Füßen über den Rasen zu laufen, wobei er heftig schwankt.
„Hey!" schreit Maria noch aus dem Fenster.
Aber er ist schon durch das Gartentor und fährt jetzt auf der Straße weg.
„Wer oder was war denn da?"
„Das war so ein kleiner Junge mit Inlineskatern, der uns anscheinend belauscht hat."
„Das wird wohl Tommy aus der Nummer zwei gewesen sein. Wie sah er denn aus?"
„Na ja, er hatte einen großen roten Helm an. Das Gesicht habe ich gar nicht gesehen, auch vorhin auf der Straße nicht. Du, Lucie?"
Nein. Aber er hatte blonde Haare.
„Ja, hab ich auch gesehen. Er hatte blonde Haare."
„Dann ist es Tommy. Er hat es schwer hier, nur eine kleine dreijährige Schwester und die beiden Mädchen aus der Nummer drei sind auch schon elf und dreizehn Jahre alt. Ihm ist einfach langweilig. Vielleicht sollten wir ihn mal auf eine Limonade im Garten einladen, was meinst du?"
„Wenn ich dann nicht Fußballspielen muss."
Mareike lacht und schüttelt den Kopf. Ich fühle mich jetzt auch wieder besser. Der Nachbarsjunge, na dann.

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