♡ Kapitel 1 ♡
"And then I can tell myself what the hell I'm supposed to do" The Night We Met - Lord Huron
...
"Nein Papa, du machst das falsch."
"Ach ja?", hakte ich nach und lugte meiner Tochter, die neben mir auf der Couch saß, über die Schulter. Sie fädelte gerade eine blaue Perle aus ihrem Sortierkasten, der aufgeklappt vor uns auf dem Tisch stand, auf ihre Schnur. "Was mache ich denn falsch?"
Nun sah sie wieder auf und legte ihre kleinen Hände um meine eigenen. Sie nahm mir mein angefangenes Perlenarmband ab und entfernte die letzte Perle, die ich aufgefädelt hatte. "Du hast immer eine in weiß, dann eine in grün und eine in schwarz gehabt", erklärte sie. "Und dann kannst du nicht einfach zwei grüne hintereinander machen. Das geht nicht."
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel ein wenig nach oben zuckten. Valerie hingegen zog ihre Augenbrauen zusammen und schien, mich böse angucken zu wollen, allerdings wusste ich genau, dass das ihre ganze Konzentration kosten musste. Ich stupste ihr mit meinem Zeigefinger gegen ihre kleine Nase. Sie drehte den Kopf weg, doch nicht schnell genug, denn ich hatte deutlich gesehen, wie sich auf ihren Lippen ein Grinsen gebildet hatte.
"Du hast gelacht." Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Habe ich nicht."
"Du bist eine Perfektionistin, weißt du das?" Ich nahm die grüne Perle, die sie noch immer in der Hand hielt und legte sie zurück in das dafür vorgesehene Fach im Sortierkasten, bevor ich mir eine schwarze nahm und auf meinen Faden aufzog. Auch Valerie fuhr mit ihrer Arbeit fort, wobei sie schon deutlich weiter mit ihrem Armband war als ich. Es war unglaublich, wie sie mit ihren kleinen Händen Dinge in Rekordzeit bewältigen konnte, für die ich gefühlte Jahre brauchte.
"Was ist eine Perfektionistin?", fragte sie nach einer Weile, wobei sie drei Anläufe brauchte, das Wort richtig auszusprechen.
"Wenn jemand möchte, dass immer alles perfekt und ordentlich ist", erklärte ich. "Und versucht, keine Fehler zu machen. Im Notfall wird nochmal von vorne angefangen."
Sie schien einen Moment lang über meine Worte nachzudenken, ehe sie langsam nickte. "Ich bin eine Perfektionistin." Ihr Blick glitt zur großen Uhr an der Wand. "Wann musst du zur Arbeit, Papa?"
"Um sechs fahre ich los."
Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Uhr genauer. Sie legte den Kopf ein wenig schief, sah kurz zu mir und dann zurück zur Uhr. "Also in einer halben Stunde?"
Ich nickte. "Möchtest du mitkommen oder gehst du später zu Tamino?"
"Er hat mir versprochen, dass wir heute zusammen Pizza machen." Bei ihren Worten begannen ihre grünen Augen, zu strahlen. "Kann ich mit zu ihm? Bitte. Ich wollte mit Charly doch noch Zoomania gucken und Mino hat gestern gesagt, dass er den auch gucken möchte."
Weil ich bei ihrem Blick sowieso nicht nein sagen konnte, erlaubte ich ihr, dass sie heute auch etwas später aufbleiben konnte, um den Film zu sehen. Es war ohnehin Freitag, wodurch sie morgen ausschlafen konnte. Außerdem hatte sie heute ohne zu maulen ihre Schulaufgaben gemacht und mir nach dem Mittagessen sogar freiwillig geholfen, die Küche wieder sauber zu machen. Wobei das schon ein wenig verdächtig gewirkt hatte und jetzt war mir auch klar, dass es anscheinend zu ihrem Überredungsplan gehört hatte.
Wir bastelten die Armbänder noch zu Ende, ehe ich mein Zeug zusammen packte und Valerie auf dem Weg zum Auto bei unserem Nachbarn absetzte. Tamino war einer meiner besten Freunde und gehörte für Valerie und mich inzwischen schon fast zur Familie. Wir hatten ihn kennen gelernt, als wir damals hier her gezogen waren und Valerie hatte sich vom ersten Augenblick an in seinen golden Retriver Charly verliebt. Er passte immer auf sie auf, wenn ich arbeiten musste oder wenn es bei mir gerade einfach zu stressig war. Er war beinahe so etwas wie ein Onkel für sie und ich war ihm unglaublich dankbar dafür, dass ich ihn immer um Hilfe bitten konnte.
Im Studio war heute ganz schön etwas los. Nachdem es die ganze Woche über nicht viele waren, die gekommen sind, hatte ich nicht damit gerechnet, dass es heute fünfzehn sein würden, aber um so mehr freute ich mich. Robin, der Mann meiner Mutter, besaß insgesamt drei Kampfsportstudios und in einem davon war ich Trainer für das Kinderkickboxen und das der Älteren. Robin selbst machte das Training nur am Sonntag, weil er eigentlich schon in Rente war, es ihm aber viel zu viel Spaß machte, als dass er es komplett aufgeben könnte.
Die Kindergruppe, die eigentlich nur aus einem lauten, wuseligen Haufen bestand, war heute als erstes dran. Die meisten Kinder waren zwischen fünf und zehn Jahre alt und natürlich kämpften sie noch nicht richtig miteinander. Vielmehr bestand die Stunde aus vielen Spielen und gegen Ende konnten sie ein paar Technicken, die ich ihnen vor machte, am Sandsack üben. Valerie machte auch ab und zu mit, wobei ihr Interesse eher bei Pferden, als beim Kickboxen lag.
Als die Stunde vorbei war, verbeugten wir uns alle noch einmal, ehe die Truppe hinaus in den Aufenthaltsraum lief, wo bereits viele Eltern und die Teilnehmer der nächsten Gruppe warteten. Ich begrüßte die Jungs alle mit einem Handschlag und einer kurzen Umarmung und freute mich gleich noch einmal mehr auf das Training, als ich sah, dass Niall und Zayn auch da waren. Die beiden waren gute Freunde von mir und weil ich mit Valerie und dem Studio oft so viel um die Ohren hatte, sahen wir uns leider viel zu selten.
"Ein neues Gesicht", stellte ich fest, als ich mit meiner Begrüßungsrunde fertig war und bei einem Mädchen hängen blieb.
"Ja ich habe die Homepage im Internet gesehen." Sie rückte ihren Zopf zurecht und schien ein wenig nervös zu sein, denn anschließend fummelte sie an ihren Händen herum. "Und da stand, man kann einfach kommen und eine Schnupperstunde mitmachen. Ich wusste nicht... hätte ich mich ankündigen sollen?"
"Nein, alles gut." Ich lächelte sie an und sie erwiderte es ein wenig unschlüssig. "Mach einfach mit und wenn du nicht mehr kannst, machst du einfach einen Moment Pause. Ganz locker. Die Jungs sind alle nett und ich eigentlich auch." Nun zuckten ihre Mundwinkel noch ein wenig mehr in die Höhe und ich nahm sie kurz, wie auch die anderen zuvor, zur Begrüßung in den Arm. "Ich bin übrigens Harry." "Mila", lächelte sie und griff nach ihrer Wasserflasche, ehe sie mir in den Trainingsraum folgte.
Ich ließ das Training heute, auch weil ich Mila nicht gleich überfordern wollte, ein wenig ruhiger angehen. Nachdem die Gruppe ausreichend aufgewärmt war, dehnten wir uns und übten anschließend Partnerweise ein bisschen Technik. Dazu zählten sowohl Schläge mit den Händen, als auch die Tritte mit den Füßen. Während die anderen die restlichen zehn Minuten noch Sparring, welches eine Art lockeren Kampf zu zwei bedeutete, machten, trainierte ich Mila ein wenig mit den Pratzen.
Nach dem Training quatschte ich noch eine ganze Weile mit Niall und Zayn, ehe ich mich gegen einundzwanzig Uhr auf den Heimweg machte. Ich checkte kurz mein Handy und sah, dass Tamino versucht hatte, mich anzurufen. Sofort schellten bei mir die Alarmglocken und ein ungutes Gefühl wegen Valerie machte sich in meiner Brust breit. Ich wählte seine Nummer über die Freisprechanlage meines Autos und fuhr vom Parkplatz.
"Ist alles okay bei euch?", fragte ich, als Tamino beim dritten Tuten abnahm und trommelte unruhig mit meinen Fingern auf dem Lenkrad.
"Hey, Harry, dir auch einen schönen Abend." Ich entspannte mich ein wenig, als er lachte und anscheinend alles in Ordnung zu sein schien.
"Tut mir leid", murmelte ich schuldbewusst. "Aber du kannst mich doch nicht einfach anrufen und keine Nachricht hinterlassen, wenn du auf Valli aufpasst. Du weißt doch, dass mir dann immer alle möglichen Szenarien durch den Kopf laufen."
"Ich wollte dir nur sagen, dass sie vor einer halben Stunde vor dem Fernseher eingeschlafen ist. Als wir die Pizza gemacht haben, hat sie mir noch ganz stolz erzählt, dass sie jetzt schon groß ist und bis neun aufbleiben kann, aber dann ist sie nach der Hälfte des Filmes weg gedöst." Ich hörte ihn lachen. "Am süßesten ist, dass sie auf Charly eingeschlafen ist, warte, ich kann dir gleich ein Bild schicken, wenn du möchtest. Das ist einfach zu niedlich." Er räusperte sich kurz. "Was ich eigentlich fragen wollte war, ob ich sie einfach liegen lassen oder ins Bett bringen soll? Sie kann auch hier schlafen, wenn es bei dir noch später wird."
"Ich bin schon auf dem Rückweg. Gib mir noch zehn Minuten. Wenn du dich nicht unbeliebt machen möchtest, lässt du sie am besten einfach schlafen, ich bin ja gleich da."
"Okay, dann bis gleich."
Ich legte auf und bremste das Auto, als die Ampel vor mir von grün auf gelb schaltete. Mein Blick glitt über die menschenleere Straße und ich spielte kurz mit dem Gedanken, einfach bei rot zu fahren, weil meins das einzige Auto weit und breit war. Doch plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung war und starrte daraufhin in die Dunkelheit. Doch außer ein paar Mülltonnen in einer der Straßen konnte ich nichts auffälliges erkennen.
Die Ampel schaltete zurück auf grün und ich wollte gerade anfahren, als mein Blick doch an etwas hängen blieb. Wenn ich mich nicht täuschte, dann lag dort eine Person zwischen den Mülltonnen. Ohne lange darüber nachzudenken, fuhr ich rechts ran und schaltete die Warnblinkanlage an, ehe ich ausstieg und zu den Mülltonnen hinüber joggte.
"Hallo?", rief ich in die Dunkelheit hinein und verlangsamte meinen Schritt ein wenig. "Ist da jemand?"
Ich erhielt keine Antwort, dabei war ich mir so sicher, jemanden gesehen zu haben. Als ich bei den Mülltonnen ankam, schaltete ich meine Handytaschenlampe ein und erschrak fast zu Tode, als ich direkt vor meinen Füßen jemanden auf dem Boden kauern sah.
Ich versuchte, meinen schnellen Herzschlag wieder ein wenig zu beruhigen und hockte mich vor die Person. Sie lehnte mit dem Rücken an einer der Mülltonnen, die Beine angewinkelt und der Kopf in den Händen vergraben. Mein Herz rutschte mir beinahe in die Hose, als ich sah, dass die Person bis auf eine Unterhose vollständig nackt war.
"Entschuldigen Sie", machte ich auf mich aufmerksam, da die Person mich, obwohl ich mit meiner Taschenlampe nicht gerade unauffällig gewesen war, anscheinend noch nicht wahrgenommen hatte. "Kann ich Ihnen helfen?"
Noch immer erhielt ich keine Reaktion, weshalb ich meine Hand ausstreckte und die Person leicht an der Schulter berührte. Als hätte sie der Schlag getroffen schreckte sie zusammen und ihr Kopf schnellte hoch. Jetzt erkannte ich, dass es ein junger Mann war, welcher da so spärlich bekleidet vor mir kauerte. Seine Augen weiteten sich, als er mich sah und trotz der Dunkelheit fühlte ich mich, als würde sein Blick mich durchbohren.
"Kann ich Ihnen helfen?", wiederholte ich meine Frage.
Er starrte mich bloß weiterhin an und schwieg. Ich lächelte vorsichtig und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke, um sie auszuziehen und ihm zu reichen. "Es ist kalt so spät abends", erklärte ich, als er nicht reagierte. "Zieh sie an, du frierst sicherlich."
Ich stand auf und er tat es mir gleich, ehe er nun doch nach der Jacke griff und sie anzog. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein ganzes Stück kleiner war als ich. Die Jacke war ihm viel zu groß, seine Hände verschwanden fast vollständig in den Ärmeln, doch ich hoffte, dass sie ihn ein wenig aufwärmen würde.
"Ich bin Harry. Wie heißt du?"
Der Fremde wich zurück, als ich vorsichtig meine Hand nach ihm ausstreckte. Seine Körperhaltung drückte so viel Angst, so viel Unsicherheit aus, dabei wollte ich ihm doch nur helfen. Sein Blick glitt einmal über meinen Körper, ehe er erneut an meinem Gesicht hängen blieb und mich mit seinen blauen Augen so intensiv musterte, dass ich für einen Moment vergaß zu atmen.
"L-Louis."
"Was machst du hier draußen, Louis?"
Wieder erhielt ich keine Antwort. Ich musterte ihn etwas genauer. Seine braunen Haare lagen wirr auf seinem Kopf und der leichte Bart ließ ihn älter wirken, als er vermutlich war. Alles in allem schätzte ich ihn auf Anfang zwanzig. Vielleicht war er mit Freunden unterwegs und ein wenig feiern gewesen. Es war Freitagabend und nachdem man genug getrunken hatte, konnte schon mal der ein oder andere nackt auf der Straße landen.
"Komm erstmal mit." Ich nickte in Richtung Auto und setzte mich in Bewegung, woraufhin er mir mit einigem Abstand folgte. Ich öffnete ihm die Beifahrertür und schaltete die Sitzheizung ein, ehe ich mich auf dem Fahrersitz nieder ließ. "Wohnst du hier in der Nähe? Kann ich dich vielleicht nach Hause bringen?"
Er schwieg erneut und ich seufzte leise. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und wieder wich er zurück. "Hab keine Angst", bat ich. "Ich möchte dir helfen."
Nun ließ er meine Berührung zu, doch ich konnte deutlich erkennen, wie sehr er seinen Kiefer anspannte, als ich mit meinen Finger behutsam sein eines Auge etwas weitete. Mit meiner freien Hand schaltete ich das Licht im Auto ein und blickte ihm für eine Weile konzentriert in die Augen, doch ich konnte weder Anzeichen dafür erkennen, ob er Alkohol intus hatte, noch ob er irgendwie anders auf Drogen war.
"Hast du eine Wette verloren?", fragte ich ratlos. "Oder lebst du auf der Straße?"
Er starrte mich bloß an und allmählich glaubte ich fast, dass er mich vielleicht gar nicht verstand. Vielleicht war er nicht von hier und sprach überhaupt nicht meine Sprache. "Verstehst du, was ich sage, Louis?"
Jetzt nickte er kaum merklich. Mein Blick glitt seinen Körper hinab und erst jetzt sah ich, dass sich seine Hände krampfhaft in das Sitzpolster krallten. Seine Atmung ging flach und ich realisierte, dass ich ihm offensichtlich Angst machte.
"Hey, es ist alles okay", versuchte ich, ihn zu beruhigen, doch er schüttelte bloß den Kopf und schloss die Augen, während er immer schneller ein und ausatmete. "Louis. Es wird alles gut, okay? Niemand kann dir gerade weh tun. Ich möchte dir nichts böses." Ich musterte ihn. "Ich telefoniere draußen kurz. Versuch, dich ein bisschen zu entspannen, du kannst gerne das Radio anschalten, wenn dir danach ist."
Ich öffnete die Autotür und stieg aus. Sicherheitshalber nahm ich sowohl mein Portemonnaie als auch den Autoschlüssel mit, wobei ich bezweifelte, dass Louis böse Absichten hatte. Er wirkte auf mich bloß verwirrt und verängstigt.
Ich entfernte mich ein Stück vom Auto und schaltete mein Handy ein, um Liam anzurufen, wobei gleich zwei verpasste Anrufe und drei Nachrichten von Tamino auf meinem Display aufploppten. Ich schrieb ihm kurz, dass es doch später werden würde und fragte, ob Valerie bei ihm übernachten könnte, ehe ich Liams Nummer wählte.
"Hey, Harry", meldete er sich sofort und ich konnte im Hintergrund etwas rascheln hören.
"Hey, Li", begrüßte ich ihn ebenfalls. "Bist du noch auf dem Revier?" Er stimmte mit einem kurzen Brummen zu und schien in irgendetwas zu kramen. Mit einem Mal beschlich mich das Gefühl, dass ich ihn gerade bei der Arbeit störte und ich fühlte mich augenblicklich schlecht, weil ich wusste, wie sehr er Telefonate hasste, wenn er gerade etwas tat. "Tut mir leid, ich will dich nicht stören, ich habe hier nur einen kleinen Notfall."
"Schieß schon los", seufzte er.
"Ich wollte gerade nach Hause fahren aber dann war da so ein Typ. Der saß auf dem Boden und hatte kaum etwas an und ich hab versucht, aus ihm heraus zu bekommen, wo er wohnt oder warum er so spät abends nackt auf der Straße sitzt, aber mehr als seinen Namen habe ich nicht aus ihm herausgefunden. Und jetzt weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll. Ich kann ihn doch nicht zurück auf die Straße setzen."
"Woa, langsam, Harry."
"Kannst du herausfinden, ob es vielleicht irgendwelche Vermisstenanzeigen gibt? Er ist weder auf Drogen noch hat er getrunken und ich glaube, würde er auf der Straße leben, dann wäre er doch schon längst erfroren. Er kann noch nicht lange hier herum laufen."
"Vermisstenanzeigen sind nicht mein Arbeitsbereich, Harry. Ich glaube, es wäre einfacher, wenn du die Polizei anrufen würdest."
"Aber du bist doch die Polizei."
"Ich bin Polizist, ja." Ich hörte ihn leise lachen, ehe er wieder ernst wurde. "Aber für vermisste Personen sind andere Leute zuständig." Er seufzte. "Okay gut, ich kann mich ja mal umhören. Kannst du mir beschreiben, wie er aussieht, wie alt er ist."
"Er ist recht klein, kleiner als ich. Er hat braune Haare und einen leichten Bart, ich würde ihn auf Anfang zwanzig schätzen und er heißt Louis, falls das irgendwie hilft."
"Louis und weiter?" "Ich weiß nicht. Er ist nicht gerade gesprächig, aber ich kann nochmal versuchen, mit ihm zu reden."
"Ja, das wäre ganz gut, schreib mir dann einfach. Aber ich glaube kaum, dass ich etwas herausbekomme. Bei Kindern hat man schnell etwas, bei Jugendlichen wird es schon schwieriger aber bei Erwachsenen... Er wohnt wahrscheinlich nicht bei seinen Eltern, seine Freunde haben auf einem Freitagabend wahrscheinlich besseres zu tun, als nach ihm zu suchen und wenn wir Pech haben, dann ist er Single. Ich denke nicht, dass da jemand nach ein paar Stunden eine Vermisstenanzeige aufstellt."
"Ja, ich weiß", seufzte ich. "Kannst du dich trotzdem umhören?"
"Mache ich, aber mach dir keine Hoffnungen. Was hast du jetzt vor? Wenn du ihn nicht auf die Straße setzen möchtest, dann solltest du die Polizei holen. Du kannst schlecht warten, bis ich etwas finde, das könnte Tage dauern."
Ich sah ein, dass ich wohl nicht darum herum kam und so verabschiedete ich mich von Liam, ehe ich auflegte und gerade die Polizei rufen wollte, als ich mein Handy doch zurück in meine Hosentasche gleiten ließ. Ich ging zurück zum Auto und stieg ein. Louis saß unverändert dort, jedoch wirkte er nicht mehr ganz so angespannt. Zwar immer noch angespannt, aber doch ein bisschen weniger als zuvor.
"Hey", begrüßte ich ihn und lächelte vorsichtig. "Wolltest du keine Musik hören?"
"Ich wollte nichts kaputt machen."
Ich legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete ihn einen Moment lang. Er hatte die Hände vom Sitzpolster gelöst und stattdessen in den Ärmeln meiner Jacke vergraben. Es überraschte mich, dass er sprach, aber vielleicht war er eben einfach nur verwirrt gewesen und hatte seine Gedanken in meiner Abwesenheit ein wenig sortieren können.
"Du musst nur diesen Knopf drücken", erklärte ich und schaltete das Radio ein. Kurz zuckte er zusammen, schien sich dann allerdings daran zu gewöhnen. "Hast du keinen Führerschein?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ich würde dich gerne nach Hause bringen, Louis. Kannst du mir sagen, wo du wohnst?", versuchte ich es erneut. "Ich möchte dich nicht zurück in die Kälte setzen, aber wir können auch nicht die ganze Nacht in meinem Auto verbringen, verstehst du?"
"Ich weiß es nicht", antwortete er kaum hörbar. "Ich habe mich verlaufen."
"Das ist kein Weltuntergang", versuchte ich, ihn zu ermutigen und startete den Motor. "Ist es okay, wenn wir zu mir fahren? Du musst hungrig und müde sein, wenn du schon länger da so saßt. Vielleicht erinnerst du dich auf dem Weg an die Umgebung."
Daraufhin schwieg er wieder und so fuhr ich schließlich los. Auch wenn ich eben noch der Meinung war, dass es das schlauste wäre, die Polizei zu rufen, so sträubte sich etwas in mir dagegen. Es wäre so viel Trubel für nichts. Ich alleine schüchterte Louis anscheinend schon ein, wie würde er reagieren, wenn Beamte in Uniformen ihn mit Fragen löchern würden? Er würde ja doch nichts sagen und was machten die mit Leuten wie ihm? Müsste er die Nacht auf der Wache verbringen? Er trug ja noch nicht einmal richtige Kleidung.
Es dauerte nicht lange, bis ich das Auto in unserer Einfahrt parkte und mit Louis zusammen in Richtung Haustür ging. Ich schloss auf und schaltete das Licht ein. Jetzt schien er wieder unglaublich angespannt und sein Blick glitt bereits zum zweiten Mal an diesem Abend über meinen Körper.
"Soll ich irgendetwas machen?" Er schluckte hörbar. "Bei dir?"
...
3215 Wörter - Ivy
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