Der Morgen der Welt - Das Volk der Gipfel
Hoch oben auf einer Bergkuppe erwachte Erkarez als erster seiner Rasse. Alle 19 anderen lagen um ihn herum. Sie trugen ein dichtes Gewand aus Federn, damit sie trotz der starken Winde nicht froren. Während die anderen noch schliefen bestaunte er die Berge, die in Wolken gehüllt vor und neben ihm standen. Leise und andächtig stand er da und schaute mit seinen scharfen Augen in die tiefen Täler und zu den hohen Berggipfeln. Eine Schar von Adlern, die ungewöhnlich groß waren, nistete auf den Vorsprüngen des benachbarten Berges.
Durch einen lauten Ruf weckte er seine Kumpanen aus ihrem Schlaf. Alle standen auf, blickten ihn an und verbeugten sich ohne Worte vor ihm. Erkarez ging voraus und führte die Gruppe über einen Bergpass auf einen weiteren Gipfel, der leicht bewaldet war. Die Bäume waren krüppelig und hatten wenig Laub. Sie reichten so eben aus, um einen kleinen Unterschlupf zu bauen und ein schwaches Feuer über Nacht zu entzünden.
Die Bewohner des Berges konnten sehr gut klettern. Und da sie Nahrung benötigen stiegen sie zu Nestern und plünderten die Brut der Vögel, welche sich in dieser Höhe in Sicherheit wägten. Die Nacht war eisig und der Wind pfiff um die Gipfel, doch die Gewänder schützen vor Kälte und Wind.
Der nächste Tag war wenig abwechslungsreich, man plünderte Nester und ansonsten passte man sich der Stille des Berges an. Man sprach kaum und wenn dann sehr knapp und kurz.
Auch die nächsten Tage lebte das Volk recht einfach, aber mit der Zeit begannen die Holzreserven zu schwinden und auch Nahrung fanden sie kaum noch. Deshalb entschied Erkarez, der der größte und stärkste seiner Rasse war, mit seinem Volk Richtung Baumgrenze hinab zu steigen. Auch die Baumgrenze lag sehr hoch, so dass sie noch nicht ahnen konnten wie hoch sie wirklich waren.
Es war ein mühsamer und beschwerlicher Weg, denn dieses Volk war es noch nicht gewohnt zu laufen. Sie verloren einen Gefährten. Unglücklich stürzte er in die Tiefe und verschwand in dem Nebel welcher die Füße der Berge umhüllte.
Er war der erste Tote in diesem Volk. An der Stelle seines Sturzes wurde eine Gedenkstätte aus Stein errichtet und totale Stille machte sich breit, die sich auf das ganze Volk abfärbte und dieses nur wenig reden ließ. Nie wieder sollte an diesem Ort ein Lachen zu hören sein.
So machte sich das kleine Volk wieder auf und stieg weiter herab.
An der Baumgrenze angekommen entzündeten sie ein großes Feuer und saßen die ganze Zeit wach. Keiner wagte es zu sprechen.
Am nächsten Morgen, als die Sonne über die Berge stieg und die ersten Strahlen den Berghang herunter fielen, saßen die neunzehn noch immer Trübsal blasend um die mittlerweile verbrannten und zu Asche zerfallenen Hölzer.
Doch irgendwann erhob sich einer von ihnen. Er hieß Arkraz und sprach mit ruhiger und fester Stimme: „Lasst uns in Würde trauern, mit Stolz, so wie die Adler es tun würden. Lasst uns nicht untätig sitzen bleiben, das tun nur die kleinen Spatzen, die zu schwach sind, um gegen die harten Winde an zu kommen. Die Adler hingegen fliegen hoch und stolz, ihre Schreie zerreißen die Lüfte und lehren der Beute das Fürchten. Nichts kann ihre Flüge aufhalten und ihre Schwingen zähmen. Was wollt ihr sein?" Dann schaute er erwartungsvoll in die Runde. Niemand schien seine Rede beantworten zu wollen, er blickte in 17 pechschwarze Augenpaare, die ihn fixierten.
Nur Erkarez sah ihn nicht an, sondern blickte ruhig und entschlossen zu Boden. Er stand auf und schritt langsam in Richtung der Kreismitte. Der Boden schien zu beben, als seine Füße die vom Tau befeuchteten Steine berührten.
Er stand da, zu seiner vollen Größe aufgerichtet, und schaute sich um. Jeder, den seine Blicke streiften, zuckte zusammen. Jeder außer Arkraz.
Dieser blieb regungslos stehen. Wie eine Steinskulptur stand er dort und zeigte weder Furcht noch ließ er sich beeindrucken. Da erhob Erkarez seine Stimme und allen schien es, als würde Donner über die Berggipfel rollen und die Täler unter sich begraben.
„Habt ihr diese Worte gehört?", rief er aus. „Dieser Mann wird euch weiter regieren, bis ich wiederkehre, denn er redet wie der Sohn des Adlerkönigs."
Als er ihre verwunderten Blicke sah, sprach er weiter: „Zweifelt nicht an mir, vertraut mir, es ist unausweichlich. Ich muss fort."
Mit diesen Worten verließ er den Kreis und machte sich nur mit ein wenig Proviant und einem Speer auf. Alle blickten ihm stumm nach, bis er in einer vorbeiziehenden Wolke, die den Berg umhüllte, verschwunden war.
Das Volk war auf sich allein gestellt und Arkraz ordnete an, dass sie sich vorsichtig und behutsam auf Nahrungssuche begeben sollten. So trennte sich die Gruppe und jeder begann nach etwas Essbarem zu suchen.
Hier wo die ersten richtigen Bäume wuchsen, war das Nahrungsangebot noch immer spärlich, aber immerhin größer als auf dem Gipfel. Zusätzlich waren sie noch immer auf der Höhe der Wolkendecke, was die Suche noch erschwerte. Das wenige was sie fanden waren Beeren, Wurzeln und einige Gelege von Vögeln.
Der Berg, an dessen Westhang sie sich befanden, fiel einige dutzend Schritte neben ihrem Lager nach Norden hin sehr tief ab. Auch im Süden klaffte nach ungefähr hundert Schritten eine riesige Schlucht. Diese Schlucht wandte sich im Westen ihres Lagers Richtung Norden und stieß fast bis in die nördliche Schlucht hinein. Nur eine schmale, natürliche Steinbrücke trennte die beiden unüberwindbaren Schluchten voneinander. Diese Brücke war, wie ein ausgesandter Späher herausfand, der einzige Weg um den Berg zu erklimmen. Außerdem war der Berg, seinen Aussagen zufolge, von allen Seiten durch Klippen und Schluchten für jeden, der zu Fuß unterwegs war, unzugänglich, es sei denn man nutzte die Brücke.
Durch diese Nachricht beeinflusst entschied Arkraz an der Stelle ihres Lagers eine Bleibe zu bauen. Zum einen, weil diese leicht zu verteidigen sein würde, zum anderen eben auch um den Berg als ihr Gebiet zu schützen.
Als die anderen nach und nach mit etwas essbarem zurückkamen, ordnete er an, mit scharfkantigen Steinen Bäume zu fällen, um daraus eine Hütte zu errichtet. Ebenfalls nutzten sie die reichlichen Steine und Felsen aus um die Hölzer zu festigen. Zuletzt füllte man die Lücken mit Moosen und Federn aus. So entstand an der Felskante, bei den beiden Schluchten, die nur einen schmalen Weg ins Tal zu ließen, eine kleine Festung mit zwei Toren. Durch ein Tor gelangten die Bewohner über die Felsbrücke in das Tal und durch das andere Tor war es möglich, den Berg hinauf zu steigen.
Das Leben auf dem Berg war sehr eintönig und entbehrungsreich. Deshalb sandte Arkraz Späher in das Tal hinab, um das Gebiet im Westen auszukundschaften.
In den nächsten paar Tagen geschah, wie so oft, nichts besonderes. Doch als die Späher zurück kehrten, berichteten sie von riesigen Wäldern, die sich über den gesamten Horizont erstreckten. Von Wiesen, auf und in denen tausende Vögel brüten berichteten sie auch. Als Beweise hatten sie mehrere erlegte Vögel, vor allem Wildgänse, von den Wiesen mitgebracht. Deshalb gab es zur Freude aller wieder etwas anderes zu Essen als Beeren und Wurzeln.
Außerdem hatte man bis jetzt immer den Tau des Morgens und das Kondenswasser der vorbeiziehenden Wolken sammeln müssen, dies war sehr mühsam, manchmal nahezu unmöglich und nie vollständig genug. Der entdeckte Bach versprach endlich die ersehnte konstante und vor allem ausreichende Wasserquelle.
Auch über die Höhe, in der sich die kleine Festung befand, konnten die Späher Auskunft geben. Laut ihnen waren sie noch nicht einmal auf der Höhe der Schulter, wenn es sich beim Berg um eine Person ihres Volkes handeln würde. Während ihres Weges abwärts, waren die Kundschafter oberhalb von endlos scheinenden Schluchten gewandert und hatten in den Tälern Wasserfälle gesehen, die viele hundert Schritt in die Tiefe fielen.
Die Späher schienen nicht mehr aus dem Schwärmen heraus zu kommen. Ungewöhnlich wortreich priesen sie die grünen Ebenen und die fröhlichen Vogelgesänge der schönen Wälder.
Doch Arkraz unterbrach sie und sprach zu allen: „Wir werden hier bleiben, hier oben bei den Adlern ist unser Platz. Wir werden hier bleiben und leben. Doch ich werde erneut Leute aussenden damit diese Pflanzen finden, die wir anbauen und essen können. Vergesst aber nie; die Berge sind unser Reich und nicht der Wald oder die Wiesen."
Niemand widersprach ihm und wortkarg wie immer gingen alle schlafen. Am nächsten Tag machten sich sechs Leute auf und stiegen die Berge hinab.
Sie sollten zusätzlich zu den Pflanzen auch mehr Vögel fangen und mitbringen.
In ihrer Abwesenheit begannen die Zurückgebliebenen damit, einige Hütten am Berghang hinter der kleinen Festung zu errichten. Hier gab es zum Glück genug Bäume, aber sie schuften dennoch mehrere Tage.
Außerdem begannen sie in größeren Mengen Wurfspeere zu bauen. Dafür verwendeten sie die Äste, die zwar zum Bauen zu dünn, aber dennoch ziemlich lang und stabil waren. An einem Ende spalteten sie den Ast ein Stück weit und klemmten einen spitz geschlagenen und geschliffenen Stein in die Spalte. Der Stein wurde zusätzlich mit Harz und Sehnen der Vögel befestigt.
Nachdem ungefähr eine Woche seit dem Aufbruch der sechs Späher vergangen war, wurden sie in der Nacht von einem wilden Schneesturm geweckt, der gewaltig an ihren Bauten rüttelte. Durch die kleinen Fenster wurden einiges an Schnee in die kleine Festung gepustet.
Zu ihrem Glück hatte man das übrige Bauholz der Hütten Abends noch in die Festung geschafft, so konnten Feuer entzündet werden. Auch hielt der Sturm nicht allzu lange an, sodass es am nächsten Morgen wieder ruhig war. Trotz der wiederkehrenden Stille, war der Schnee teilweise so tief, dass sie bis zu den Knien einsanken. Dies war gefährlich, da man den Untergrund nicht sah und wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht ausrutschen.
Während alle damit beschäftigt waren, mit höchster Vorsicht die Schäden auszubessern, tauchten plötzlich schwarze Wesen in der Ferne auf.
Diese hatten langes, pechschwarzes, zotteliges Fell, ihre Augen waren leuchtend Gelb. Zähne fletschend liefen sie auf die Bewohner des Berges zu.
Bei diesen Wesen handelte es sich um große Gebirgswölfe, um die zwanzig Stück, die sich anscheinend im Schneesturm verlaufen hatten und nun hungrig waren.
Arkraz bemerkte sie als erstes und warnte sein Volk. Jeder bekam einen Speer in die Hand. „Verteidigt unser Heim und verzagt nicht, die Tiere sind getrieben von Wut und Hunger. Und das wird ihr Tod sein."
Arkraz schleuderte als erster seinen Speer. Dieser traf einen Wolf direkt in den Hals. Der getroffene Wolf fiel tot nach vorne und blieb liegen. Dann schnappte er sich einen nächsten Speer und rannte mit einem Kampfschrei los, auf die Wolfsmeute zu. Alle folgten ihm und stimmten in seinen Schrei ein.
Ihr Schrei klang wie der eines Adlers. Die Wölfe hielten inne und wollten fliehen, doch für die meisten von ihnen war es zu spät. Die Speere zischten mit unglaublicher Präzision und atemberaubender Geschwindigkeit heran. Nur die schnellsten Wölfe entkamen.
Sie zählten vierzehn tote Wölfe. Bis der Schnee geschmolzen war, verzehrten sie vor allem das Fleisch der Wölfe und tranken geschmolzenen Schnee. Trotz der Kälte reichte ihr Gewand meist aus, um sie warm zu halten.
Nach drei Tagen war der Berg wieder größtenteils von Schnee befreit.
Es vergingen weitere sechs Tage bis die Späher zurückkehrten. Sie brachten viele Pflanzen mit, darunter einige Kartoffel- und Getreidearten, diese wuchsen zwar nur sehr langsam, doch es war besser als nichts zu haben, wie so oft bis jetzt.
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