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Louis' POV:

„Mit Dir hätte ich ehrlich am wenigsten gerechnet."

Der junge Mann, der mir gegenüber stand, sah mich scheu an und runzelte kurz die Stirn, ehe er mich mit einer Handbewegung in seine Wohnung bat.

„Ich hab es auch nur auf Gut Glück bei deiner alten Nummer probiert", sagte ich und versuchte, ihm ein freudiges Lächeln zu schenken, was er ebenso halbherzig erwiderte.

Doch obwohl ihn mein Auftauchen sichtlich überforderte, bot er mir trotzdem etwas zu trinken an und fragte, ob ich schon gefrühstückt hatte.

Zwar war das nicht der Fall und mein Magen hing inzwischen auf halb acht, aber weil ich ihm nicht auf die Pelle rücken wollte, lehnte ich dankend ab.

„Also. Was machst du hier? Am Telefon hast du unheimlich kryptisch geklungen",wollte er nach einer Weile des Schweigens wissen, und musterte mich abschätzig. Meine Halbglatze stieß ihm sauer auf und auch meine Tattoos verunsicherten ihn, doch wer konnte es ihm verübeln? Das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten, hatte er noch seine Hände in meinen Haaren vergraben können und meine Haut küssen, ohne von verräterischer Tinte heimgesucht zu werden.

„Keine Ahnung", gab ich zu, nachdem ich meine Wangen aufgeplustert und mit einem Zischen die Luft wieder entweichen hatte lassen. „Hab mich gestern von meinem Freund getrennt."

Ich gab mir Mühe, so wenig Emotionen wie möglich durchscheinen zu lassen, aber sobald ich an Harry dachte und mir vorstellte, wie seine Miene sich versteinerte beim Anblick eines leeren Bettes, biss ich mir schuldbewusst auf die Unterlippe.

Es war unglaublich feige, erneut abzuhauen, allerdings hatte ich das Gefühl, keine andere Wahl zu haben - sofern ich nicht ewig der Ersatzspieler sein wollte, während Harry sich mit Nia vergnügte.

Das Dumme war, dass ich zwar wusste, dass er mich liebte, mich die vertrauten Blicke, die die beiden sich zuwarfen, aber dennoch jedes Mal kolossal aus der Fassung brachten - und mich schließlich zum Gehen animiert hatten.

„Du... hattest einen Freund?" Justin war verständlicherweise vollkommen überrascht und blinzelte mich etwas perplex an, weshalb ich schnell erklärte: „Ich habe mich von meiner Familie losgeeist."

Das ließ ihn anerkennend nicken, woraufhin ich traurig seufzte und abermals an meinem Wasser nippte.

„Ja, ist noch frisch, deswegen fühlt es sich komisch an", murmelte ich und schmeckte den verbitterten Beigeschmack meiner Freiheit. Denn obgleich ich Alec nicht mehr unter die Augen treten musste, war ich nichtsdestotrotz allein und hatte eigentlich keinen blassen Schimmer, was ich nun mit meinem Leben anstellen sollte.

Unter einer Brücke schlafen, wie ich es in der letzten Nacht getan hatte, war jedenfalls keine dauerhafte Lösung.

„Du weinst", stellte Justin plötzlich fest und riss mich damit aus meiner Trance, sodass ich erschrocken zusammenzuckte und sofort meine Wangen trocken wischte.

„Sorry", hauchte ich bedrückt, bevor ich ihm ein schiefes Lächeln schenkte und es wagte, ihn das erste Mal genauer zu betrachten.

Seine ehemals blonden Locken hatten sich mittlerweile zu Dreadlocks verwandelt, die ihm bis weit über die Schultern reichten und ihn unglaublich männlich wirken ließen - ebenso wie der Bart, der auf Kante getrimmt war und ihm ausgezeichnet stand.
Ohne Frage, aus dem einstigen schlaksigen Jugendlichen war ein erwachsener Mann geworden und im Vergleich zu ihm fühlte ich mich wie ein Kleinkind.

Er verfügte über ausgeprägte Muskeln, die er durch sein Tanktop zur Schau stellte, wohingegen meine Rippen hervorstachen und mein Bauch war ganz eingefallen. Ich aß eindeutig zu wenig, so viel stand fest - und daran würde sich in nächster Zeit garantiert nichts ändern.

Ein resigniertes Seufzen verließ meine Lungen, das Justin prompt hellhörig werden ließ.

„Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen? Versteh mich bitte nicht falsch, ich habe mich gefreut, von dir zu hören. Aber nach all den Jahren wundert es mich schon. Immerhin... immerhin sind wir nicht gerade positiv auseinander gegangen."

Zum Ende seines Satzes wurde er immer kleinlauter und blickte schlussendlich betreten zu seinen Füßen, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen.

„Es tut mir leid, dass ich dir das Herz gebrochen habe", meinte ich ehrlich, wobei ich beinahe über meine eigenen Worte stolperte. Wow. Harry hatte mehr in mir bewegt, als ich je für möglich gehalten hatte. Er hatte mich wirklich beeinflusst und trotz der scheinbar aussichtslosen Lage hatte ich das Bedürfnis, einige Dinge in meinem Leben geradezubiegen.

„Du konntest ja nichts dafür", antwortete Justin versöhnlich, dann erhob er sich und machte sich an seinem Kühlschrank zu schaffen.

Kurz darauf stand mir ein Teller mit frisch Rührei und warmen Toast gegenüber. Auf meinen verwunderten Blick hin grinste er bloß. „Dass dein Magen knurrt, kann man bis nach Timbuktu hören."

Also machte ich mich gierig über das Essen her, das binnen kürzester Zeit aufgegessen war, und betrachtete anschließend wieder Justin.

Dieser hatte das Geschehen belustigt beobachtet und stand nun wieder von seinem Stuhl auf.

„Ich muss jetzt zur Arbeit. Eigentlich würde ich dir ja anbieten, dass du bleiben kannst, bis ich wieder da bin, aber mein Freund kommt demnächst aus der Nachtschicht zurück und hat selten gern Überraschungsgäste."

Er klang ein wenig zerknirscht, weswegen ich ihm versicherte, dass das kein Problem war.

„Kommst du denn allein zureicht?", hakte er nochmal nach, kaum dass er in seine Schuhe geschlüpft war und etwas unschlüssig seine Schlüssel in den Händen hielt.

„Ja, mach dir keine Sorgen", versicherte ich ihm, auch wenn ich mir momentan nicht sicher war, ob das stimmte. Mein Rucksack schnürte mir die Schultern ein, meine Klamotten standen vor Schweiß und in meiner Jackentasche befanden sich gerade mal 30 Cent und zwei alte Kaugummis - keine gute Voraussetzung, um sich das Straßenleben um die Ohren zu schlagen.

„Hier." Justin steckte mir 20 Euro zu und bevor ich mich beschweren konnte, war er im Hausflur verschwunden. Etwas überrumpelt zog ich seine Wohnungstür hinter mir ins Schloss und kratzte mich nachdenklich am Kinn.

Justin hätte jeden Grund gehabt, mich zu hassen, meine Anrufe abzuwehren und mir die Pest an den Hals zu beschwören. Doch stattdessen hatte er ohne viel Erklärung mir zumindest für eine Stunde Obhut gewährt und mir sogar noch Geld zugesteckt.

Auf einmal übermannten mich erneut Schuldgefühle und ich ohrfeigte mich innerlich dafür, bis heute immer wieder über Obdachlose hergezogen zu haben. Jetzt, wo ich selbst keine andere Wahl hatte, realisierte ich erst, wie schnell man in so etwas rutschen konnte. Ich war schließlich bestimmt nicht der Einzige, der sich von seinem Freund trennte und einen Scherbenhaufen sein Leben nannte.

Nachdenklich eilte ich die einzelnen Treppenstufen nach unten und zückte unten auf der Straße mein Handy, das nur noch 5% Akku hatte und drei Anrufe in Abwesenheit anzeigte- allesamt von Harry.

„Ach Harry. Du hast doch Nia...", wisperte ich niedergeschlagen, dann blockierte ich seine Nummer und stopfte das Telefon zurück in meine Jackentasche.

Keine Ahnung wie, aber ich würde es auch ohne ihn schaffen.

na? wer hat damit innerlich gerechnet, louis würde zu alec zurückkehren? und wie findet ihr es, dass genau das nicht passiert ist?

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